In diesem Monat stellt uns die Journalistin, Lektorin und Korrektorin Eva Walitzek ihre Tipps vor: einiges aus den Niederlanden, vor allem aber Tagebücher und Werke über das Leben von Frauen.
Eva Walitzek arbeitet freiberuflich als Journalistin, Lektorin und Korrektorin. Auch in ihrer Freizeit schreibt und bloggt sie gerne – gelegentlich auch über Bücher. Gemeinsam mit Martina Fischer ist sie Ansprechpartnerin für Bücherfrauen in der Städtegruppe Hannover.
Ihren Blog könnt ihr hier finden: https://timetoflyblog.com/
Drei Autorinnen
„Geh doch nach drüben.“ Diesen Satz bekamen junge Leute, die nach Meinung der älteren politisch zu linke Ansichten vertraten, früher oft zu hören. Maxie Wander, 1933 als Elfriede (Fritzi) Brunner in Wien geboren, hat es getan: Sie folgte ihrem Mann Fred Wander 1958 in die DDR. Dort waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen für den kommunistischen Schriftsteller wesentlich besser als in seiner Heimat Österreich: Seine Bücher wurden veröffentlicht, er konnte mit seiner Familie im Künstlerort Kleinmachnow leben und am Literaturinstitut Johannes R. Becher studieren.
Als österreichische Gäste in der DDR durften die Wanders jederzeit ins Ausland reisen. Maxie Wander begleitete ihren Mann gelegentlich, zum Beispiel auf der Recherchereise für eines seiner Bücher nach Paris. Doch meist blieb sie zu Hause, kümmerte sich um den Haushalt und um die drei Kinder. Sie arbeitete zeitweise, u. a. als Sekretärin, Bibliothekarin, Journalistin und DEFA-Drehbuchautorin. Vor allem aber unterstützte sie ihren Mann: Maxie Wander fotografierte für seine Bücher, entwickelte Fotos und tippte seine Manuskripte ab. Und sie träumte davon, selbst Schriftstellerin zu werden: So notierte sie alles, was ihr widerfuhr und worüber sie nachdachte, sie verfasste Skizzen, Entwürfe, Tagebucheinträge und Briefe – bis zu 15 Briefe schrieb sie an manchen Tagen.
Doch erst Mitte der 1970er-Jahre fand sie das Thema für ihr Buch. Sie interviewte Frauen aus verschiedenen Berufen, die offen von ihrem Leben und ihrem Alltag erzählten. Maxie Wanders Porträts sind weit mehr als reine Protokolle. Sie berührten und begeisterten vor allem Frauen – nicht nur in der DDR. „Ihr Talent war es, rückhaltlos freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen herzustellen; ihre Begabung, andere erleben zu lassen, dass sie nicht dazu verurteilt sind, lebenslänglich stumm zu bleiben“, schrieb Christa Wolf im Vorwort zur westdeutschen Ausgabe von Guten Morgen, du Schöne, die erstmals 1978 veröffentlicht wurde.
In der DDR war Maxie Wanders Buch im Jahr 1977 erschienen – bereits im ersten Jahr wurden 60.000 Exemplare verkauft. Es gab im Osten wie im Westen zahlreiche Neuauflagen, in vielen Theatern standen ihre Texte auf dem Spielplan. Die meisten LeserInnenbriefe erreichten Maxie Wander allerdings nicht mehr: Sie starb im November 1977 an Krebs. Das Buch mit Männerporträts, an dem sie gearbeitet hatte, konnte sie nicht mehr beenden.
Nach dem Tod seiner Frau veröffentlichte Fred Wander einige ihrer Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Das Interesse an den Texten, in denen Maxie Wander über ihr eigenes Leben, über ihren Alltag, den Tod ihrer Tochter Kitty im Jahr 1968, über ihre Erkrankung und ihr Sterben schrieb, war groß. Und so wurden auch Ein Leben ist nicht genug und Leben wär eine prima Alternative zu Bestsellern.
Anja Meulenbelt (geb. 1945)
Jüngere Frauen – gemeint sind in diesem Fall schon Frauen unter 50 – kennen Anja Meulenbelt meist nicht. Und auch viele ältere Frauen erinnern sich – wenn überhaupt – nur an ein Werk der feministischen Schriftstellerin: Die Scham ist vorbei: eine persönliche Geschichte (übersetzt ins Deutsche von Birgit Knorr), 1976 erstmals in den Niederlanden erschienen, sorgte nicht nur dort für Schlagzeilen. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und machte die 1945 in Utrecht geborene, in Amsterdam lebende Autorin berühmt.
Der Roman erzählt ihre eigene Geschichte: Anja Meulenbelt heiratete früh, weil sie schwanger war. Sie befreite sich und ihr Kind aus der Ehe mit ihrem gewalttätigen Mann, studierte, engagierte sich politisch, entdeckte den Feminismus und ihre Liebe zu Frauen – und fing an zu schreiben.
Die „persönliche Geschichte“ avancierte zur Bibel des Feminismus, Anja Meulenbelt zählte zu den Begründerinnen und Wortführerinnen der niederländischen Frauenbewegung. Unumstritten war sie jedoch nie: Den einen war sie zu links, anderen zu feministisch, manchen zu militant, manchen zu moderat. Einigen missfielen ihre Beziehungen zu Frauen, andere empfanden es als Verrat, dass sie auch Beziehungen zu Männern hatte. Dass sie sich sowohl gegen Antisemitismus als auch für die Rechte der PalistinenserInnen engagierte, stieß bei vielen auf Unverständnis und Kritik. Ihr Gefühl, Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, beschreibt sie in dem gleichnamigen Buch mit dem Untertitel „Standortbestimmung einer kritischen Feministin“.
Feminismus ist für Anja Meulenbelt ein wichtiges, aber nicht das einzige Thema. Von Juni 2003 bis 2011 war Anja Meulenbelt für die Sozialistische Partei Mitglied im niederländischen Parlament, 2017 kandidierte sie bei der Parlamentswahl für die linksgerichtete BIJ1. Die nach dem ersten Artikel der niederländischen Verfassung benannte Partei engagiert sich für Feminismus und Multikulturalismus, gegen Rassismus und gegen Kapitalismus.
Insgesamt veröffentlichte Anja Meulenbelt rund 30 Bücher – neben einigen biografisch geprägten Romanen auch zahlreiche Sachbücher. Zu meinen Lieblingsbüchern gehört Du hast nur einen Beruf – mich glücklich zu machen. Über die Unmöglichkeit der Liebe zwischen Frau und Mann. Darin zeigt Anja Meulenbelt an Beispielen berühmter Paare wie Clara Wieck und Robert Schumann, Mileva Marić und Albert Einstein oder Anna Schindler und Gustav Mahler, dass hochbegabte Frauen ihre Berufung in Beziehungen oft aufgeben, ihr Talent in den Dienst des Mannes und ihr Licht unter seinen Scheffel stellen. Selbst Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir waren nicht so gleichrangig, wie sie es darstellten.
In den 1980er-Jahren wurden fast alle Bücher Anja Meulenbelts ins Deutsche übersetzt – die meisten gibt es heute nur noch antiquarisch (lieferbar sind noch: Die Gewöhnung ans alltägliche Glück und Ich wollte nur dein Bestes, beide übersetzt von Silke Lange). Die aktuellen Bücher, zum Beispiel Het F-boek: feminisme van nu in woord en beeld (2015), das sie gemeinsam mit der Professorin Renée Römkens herausgegeben hat, ist bislang nur auf Niederländisch erschienen, wie auch Feminisme: terug van nooit weggeweest (2017). Schade eigentlich.
Rebecca Solnit (geb. 1961)
Ohne die Christine, den Literaturpreis der BücherFrauen, hätte ich Rebecca Solnit vielleicht nie entdeckt. Denn obwohl die US-amerikanische Autorin zu den bedeutendsten Essayistinnen (nicht nur) in den USA zählt und für ihre Arbeiten zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten hat, kannte ich sie bis Anfang des Jahres nicht. Erst durch die Nominierung für den neuen Bücherfrauen-Literaturpreis wurde ich auf sie und ihr Buch Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde (Übersetzung von Kathrin Razum) aufmerksam. Darin beschreibt sie, wie sie sich allmählich aus den frauenfeindlichen Strukturen ihrer Familie, ihrer Umgebung und der Gesellschaft befreite und – fast zwangsläufig – Feministin wurde: „Der Feminismus … wählte mich – zumindest konnte ich nicht davon lassen.“
Rebecca Solnit, 1961 in Bridgeport in Connecticut geboren, wuchs in einer von Gewalt geprägten Familie auf. Sie verließ die Highschool ohne Abschluss, absolvierte später den General Educational Development Test (GED) und studierte Anglistik an der San Francisco State University und Journalismus an der University of California in Berkeley.
Seit 1988 arbeitet Rebecca Solnit als freie Autorin – sie schreibt u. a. für die britische Tageszeitung The Guardian, für den New Yorker und für das Magazin Harper’s. Sie engagiert sich für Umweltschutz, gegen die Irakkriege und für Menschenrechtsfragen – zum Beispiel für das Recht der Westlichen Shoshone auf ihr eigenes Land.
Über 20 Bücher hat Rebecca Solnit bislang geschrieben – über Kunst und Künstler, übers Wandern und über soziale und gesellschaftliche Themen. Ihr wohl einflussreichster und meistgelesener Essay – Men Explain Things to Me – auf Deutsch Wenn Männer mir die Welt erklären (Übersetzung von Kathrin Razum und Bettina Münch) war weltweit Gesprächsthema. Der Text entstand im Jahr 2008 an nur einem Vormittag und wurde zunächst online auf der unabhängigen Website TomDispatch veröffentlicht. „Der Essay verbreitete sich rasend schnell und bekam auf der Website Guernica im Lauf der Jahre Millionen Klicks, weil die Erfahrungen und Situationen, die ich beschrieb, so brutal alltäglich waren, aber kaum Beachtung fanden“, schreibt sie in Unziemliches Verhalten. Es geht in diesem und in vielen anderen Texten Rebecca Solnits allerdings nicht nur um Gewalt gegen Frauen, sondern auch oder vor allem darum, Frauen und all jenen, die bisher nicht gehört und ernst genommen werden, eine Stimme zu geben. Das löst, so Rebecca Solnit, zwar „nicht alle Probleme, aber es verändert die Regeln“ – und trägt wesentlich zum gesellschaftlichen Wandel bei.
Drei Bücher
Das Tagebuch der Anne Frank
Als Anne Frank an ihrem 13. Geburtstag ein Tagebuch geschenkt bekam, ahnte sie nicht, dass ihr Tagebuch einmal zu den meist gelesenen Büchern der Welt gehören würde. „Ich denke auch, daß sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir alles mögliche gründlich von der Seele reden“, notierte sie einige Tage später, am 20. Juni 1942. Als die Familie im Juli 1942 untertauchen musste, nahm Anne ihr Tagebuch mit ins Hinterhaus.
Für die Zeit danach hatte Anne Pläne: Sie wollte reisen, studieren, Journalistin und eine berühmte Schriftstellerin werden. „Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus‘ veröffentlichen, ob das gelingt, bleibt noch die Frage, aber mein Tagebuch wird dafür dienen können“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Sie überarbeite die Einträge und schrieb kurze Geschichten.
Den Erfolg ihres Tagebuchs hat Anne Frank nicht erlebt. Die acht Menschen, die sich im Hinterhaus versteckten, wurden verraten, am 4. August 1944 von den Nationalsozialisten verhaftet und deportiert. Anne und ihre Schwester Margot starben kurz vor Ende des Krieges im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr Vater überlebte als einziger der Untergetauchten und veröffentlichte nach dem Krieg die Tagebücher seiner Tochter.
Das Tagebuch der Anne Frank war das erste Buch, das ich mir kaufte, als ich vor fast 50 Jahren von der Realschule im Dorf aufs Gymnasium in der Stadt wechselte und endlich nach Lust und Laune in Buchhandlungen stöbern konnte. Das Buch hat mich seither begleitet und mein Lesen und mein Leben wohl mehr beeinflusst als andere Bücher. Kurz nachdem ich das Tagebuch gelesen habe, habe ich selbst angefangen, Tagebuch zu schreiben – und nie wieder damit aufgehört. Tagebücher – von A wie Anne Frank bis W wie Martin Walser und Christa Wolf – füllen mehrere Bretter in meinen Bücherregalen. Von Anne Franks Tagebuch besitze ich inzwischen mehrere Ausgaben, sicher bessere und textkritischere – darunter auch ein Graphic Diary. Doch die älteste Ausgabe ist mir noch immer die liebste, auch wenn die Blätter vergilbt sind und einige sich schon lösen.
Anne Frank wollte nicht vergessen werden, sie wollte nicht „umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen“. Dieser Wunsch hat sich erfüllt: Noch heute fühlen sich viele Kinder und Jugendliche vom Schicksal des jüdischen Mädchens angesprochen, das in ihrem Alter war, als es mit seiner Familie untertauchen musste. Im Anne Frank Zentrum in Berlin und in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt bekommen Kinder und Jugendliche über die Beschäftigung mit dem Tagebuch und Annes Biografie einen persönlichen Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus, des Antisemitismus und des Holocaust. Und sie werden angeregt, sich mit Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Flucht in der Gegenwart auseinanderzusetzen.
(Anmerkung: Es gibt zahlreiche Übersetzungen und Fassungen des Tagebuchs, die Angaben zu den Büchern sind unter dem verlinkten Porträt zu finden und werden dort auch erklärt. DH)
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr
Vorweg: Ein Tag im Jahr. 1960-2000 und Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001-2011) sind keine gewöhnlichen Tagebücher, sondern eher Tagesbücher. Trotzdem fasziniert mich das Projekt, das, so Christa Wolf in ihrem Vorwort, auf eine Initiative Maxim Gorkis zurückgehe: Der russische Schriftsteller rief 1935 alle KollegInnen auf, einen gewöhnlichen Tag im Jahr – zufällig der 27. September – möglichst genau zu beschreiben und so weltweit einen „Jedertag“ zu porträtieren.
Als 25 Jahre später die Zeitschrift Istwestja den Aufruf wiederholte, hat die Aufgabe Christa Wolf, damals noch eine junge Schriftstellerin, nach eigenen Aussagen „sofort gereizt“: „Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960“ – und alle folgenden bis zu ihrem Todesjahr. Die Aufzeichnungen im Jahr 2011 brach sie ab – weil sie nicht mehr die Kraft zu schreiben hatte. Anfang Dezember 2011 starb Christa Wolf.
Die Texte aus den Jahren 1960 bis 2000 wurden 2003 veröffentlicht, der zweite Band Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert mit den Beiträgen aus den Jahren 2001 bis 2011 erschien 2014 nach Christa Wolfs Tod.
„Diese Tagebuchblätter unterscheiden sich deutlich von meinem übrigen Tagebuch, nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch inhaltlich durch stärkere thematische Gebundenheit und Begrenztheit“, schreibt Christa Wolf. Die Texte waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Dennoch empfand es Christa Wolf als „eine Art Berufspflicht“, sie zu publizieren.
Sie wollte festhalten, was das eigene Leben ausmache. Sie schrieb über ihre Arbeit, über Menschen in ihrem Umfeld, über ihren Alltag, über das Wetter, aber auch über politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Ereignisse. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, überlegte sie, das Projekt abzubrechen – und machte dann doch weiter. Zum Glück, wie ich meine. Denn die beiden Bücher sind nicht nur eine persönliche Chronik, sondern auch ein zeitgeschichtliches Dokument.
Meist lese ich sie „häppchenweise“: Ich schlage nach, was Christa Wolf in bestimmten Jahren notiert hat, zum Beispiel im Jahr 1989, kurz bevor die Mauer fiel, 2001, nach den Attentaten des 11. September und vor dem drohenden Einmarsch in Afghanistan. Oder ganz aktuell am 27. September 2005. Auch damals war ein neuer Bundestag gewählt worden, weder die Unionsparteien und die FDP noch SPD und Grüne hatten eine Mehrheit. „Bis jetzt bestehen beide Parteien auf der Kanzlerschaft“, notierte Christa Wolf. Der Verlierer wollte damals seine Niederlage nicht eingestehen. Wie sich die Bilder doch manchmal gleichen.
Carolin Emcke: Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie
Am 22. März 2020 traten die von Bund und Ländern aufgrund der Coronapandemie beschlossenen Kontaktbeschränkungen in Kraft. Vom 23. März bis zum 29. Mai 2020 erschienen in der Süddeutschen Zeitung täglich Carolin Emckes politisch-persönliche Notizen zur Coronakrise. Die essayistischen Texte der Journalistin, die unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Theodor-Wolff-Preis und dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus ausgezeichnet wurde, wurden im Mai als Buch veröffentlicht.
Die Pandemie verändert nicht nur das Leben und die Gewohnheiten jedes Einzelnen, sondern auch die psychische, soziale und politische Verfassung unserer Gesellschaft. Carolin Emcke schreibt über die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben: über die ungewohnte Stille beispielsweise, die sich in der Stadt ausbreitet, über Ängste, über Begegnungen, die nicht mehr oder anders gewohnt stattfinden, und über Versuche, Struktur in immer konturlosere Tage zu bringen – und was ihr hilft, den Alltag in Coronazeiten zu bewältigen: lange Spaziergänge, beispielsweise, oder bestimmte Bücher oder Musikstücke.
Sie wirft aber auch einen Blick über den Tellerrand. Denn die Krise, die den Rückzug in die eigenen vier Wände nötig macht, verlangt ihrer Einschätzung nach Solidarität und gemeinsames Handeln – auch über Landesgrenzen hinweg: „Das wäre der absolute Alptraum, wenn die Beschränkungen durch die Pandemie zu solch einer eingeschränkten Welt führten, wenn nur noch das eigene Leiden zählte und die Begegnungen mit anderen nahezu ganz versiegten. Die Gefahr besteht. Die Gefahr, dass wir kurzsichtig werden für die Nöte in der Ferne, … dass es nicht nur schwerer fällt, sich mit anderen Kontinenten, anderen globalen Regionen, sondern schon mit dem innereuropäischen Nachbarn, dem nächsten Bundesland oder nur einer anderen Branche als der eigenen zu befassen. Dabei verlangt diese Krise gerade die umgekehrte Bewegung: die aus unseren lokalen, nationalen Regressionen heraus, in die internationalen Bezüge, die uns verbinden und von denen wir zehren. Wir müssen raus und zu denen hindenken und handeln, die ganz anders ‚entschützt‘ sind als wir“, notierte sie am 30. April.
Deshalb erinnert sie an vieles, was in Vergessenheit zu geraten droht oder gar nicht richtig wahrgenommen wurde, weil die Neuigkeiten über das Virus und seine Auswirkungen die Nachrichten bestimmt haben: Wie unerträglich die Verhältnisse anderswo sind, zum Beispiel im Flüchtlingslager Moria oder in den Roma-Vierteln in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Die Menschen, die dort leben, sind nicht nur schlecht versorgt und isoliert, sondern werden auch für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht.
In Krisenzeiten vermehren sich Vorurteile und Verschwörungsmythen, Sündenböcke werden gesucht und gefunden: von Regierenden wie Victor Orbán, die die Pandemie nutzen, um den Rechtsstaat auszuhebeln. Aber auch von angeblichen „Querdenkern“ und anderen falschen Propheten, die die Ängste der Menschen für ihre Gewaltfantasien, Umsturz und rechtsradikalen Ideen instrumentalisieren.
Mir hat gefallen, wie Carolin Emcke das Vorgehen der falschen Propheten mit einem Bild aus Leo Löwenthals Analyse der faschistischen Argumentationsmuster in Amerika erklärt: „Er beschreibt das soziale Unbehagen als Hautkrankheit, die das instinktive Bedürfnis auslöst, sich zu kratzen. Jeder gute Arzt würde nun raten, dem Juckreiz zu widerstehen.“ Denn Kratzen steigert den Juckreiz. Der Arzt versucht, die Ursache für den Juckreiz zu entdecken. „Der Agitator rät zum Kratzen“, schreibt sie. Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder doch: Die Aufnahme von dem (offenbar legendären) Konzert der portugiesischen Pianistin Maria João Pires werde ich mir auf jeden Fall ansehen. Als das Orchester zu spielen begann, merkte sie, dass sie sich auf das falsche Stück vorbereitet hatte und wollte abbrechen – doch der Dirigent ließ es nicht zu – wohl wissend, dass auch das geplante Stück zu ihrem Repertoire gehörte. Sie spielt notgedrungen – traumwandlerisch sicher. „Es erinnert mich an diese Krise, in der wir erst so paralysiert sind, weil wir uns nicht vorbereitet glauben, weil wir etwas anderes erwartet, etwas anderes geübt, etwas anderes gehofft haben, und in der wir nicht wissen, wie wir diesen Augenblick überstehen sollen“, so der Journaleintrag vom 3. April. Es braucht dann jemanden (oder etwas), der/die (oder das) zeigt, was wir in uns haben, das alles da ist, was wir in der Krise brauchen.