An diesen heißen Tagen hilft nur eins: Schatten aufsuchen mit einem kühlen Getränk und einem guten Buch. Diesen Monat als Hilfestellung die Auswahl der Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Autorin Gabriele Freytag.
Gabriele Freytag, geb. 1956 in Ludwigshafen/Rhein, ist Mitbegründerin des Feministischen Frauentherapiezentrums Hamburg 1980. Sie lebt auf dem Land in Deutschland und Italien. Veröffentlichungen von ihr: Von der Avantgarde zur Fachfrau (2003), Vai a vedere i gorilla – Schau dir die Gorillas an (2013), Ein wilder Ort (2017).
Jeden 5. Dienstag im Monat ist sie auf Radio tidenet.de zu hören: Auf wilden Wegen – Nachdenken über eine andere Medizin
3 Autorinnen
Emma Donoghue (geb. 1969)
Das erste Buch, das ich von Emma Donoghue gelesen habe, behandelt ein schreckliches Thema, über das ich eigentlich nichts Näheres erfahren möchte. Und dennoch habe ich den Roman sehr gemocht – wie Millionen anderer LeserInnen: Raum (übersetzt von: Armin Gontermann) war und ist ein Welterfolg.
In den Roman wird man sanft hineingeführt, an der Hand und durch die Augen eines Kindes. Man ahnt, warum seine Mutter und ein einziger Raum die ganze Welt des kleinen Jungen bilden, erfährt es jedoch erst langsam. Man möchte das Kind und die Mutter umarmen und an sein Herz drücken und steht die ganze Zeit unter Spannung, ob es für die beiden wohl ein gutes Ende geben wird.
Für mich ist Raum auch ein Roman über Mutterliebe, eine Hymne an die Großtaten, die Mütter im Schatten der Weltgeschichte (und der Männer) vollbringen: Die Innigkeit, die Phantasie, die Geduld und die Kraft der Mutter, gespiegelt im unbedingten Vertrauen und der wachen Intelligenz des Jungen Jack – großartig! Wir erfahren die Welt neu. Durch die Liebe. Wir erfahren, was Kinder wirklich brauchen.
„Vieles in der Welt sind bloß Wiederholungen, glaube ich.“
Auch Zarte Landung von Donoghue (übersetzt von Adele Marx) ist eine beeindruckende Liebesgeschichte – diesmal zwischen zwei erwachsenen Frauen. Und auch hier geht es um das Große, das Umwerfende, das, was Mut erfordert und Vertrauen in die Stärke der Zuneigung. Zwischen Kanada und Irland erfährt man eine Menge über Bibliotheken, Flugzeuge und das feine Geäst, das die Verschiedenheit von Menschen überbrücken kann.
Hélène Cixous (geb. 1937)
Über Cixous, die 1937 geborene französische Philosophin, Dichterin und Autorin, sind Bücher und Doktorarbeiten geschrieben worden, sie ist der helle Stern nicht nur meiner frühen feministischen Jahre (und Schreibversuche) – big stuff.
Im Mai 2019 war sie auf Kampnagel in Hamburg zu einem Gespräch mit ihrem Verleger, ich hatte eigentlich keine Zeit hinzugehen, doch eine Freundin meinte „Sag alles ab, da musst du hin“. Und sie hatte Recht. Cixous war bezaubernd und im zweiten Teil des Abends erfrischend unperfekt – was fast das größte Geschenk für mich war (und andere auch wie ich hörten).
Cixous schreibt nicht: Sie fließt, taucht und mäandert, als würde sie mit großer Leichtigkeit Worte aus für normale Menschen unzugänglichen Tiefen ihres Seins zwischen Buchdeckel befördern. Mir ist schleierhaft, wie so etwas gehen kann, und ich bewundere es grenzenlos.
Das Buch von Promethea (übersetzt von Karin Rick) ist eines meiner Lieblingsbücher. Ich vertrage seine Intensität nur in kleinen Dosen: „Was jetzt kommt, ist einer dieser rein innerlichen Augenblicke ohne Grenzen, ein kleines Fragment Tiefe, das ich mit meinen Händen aus dem Lauf des Flußes Liebe fischen werde, und ich kann nichts anderes damit machen, als es ganz naß und zuckend auf das Papier zu legen.“
Es wird gemunkelt, dass Das Buch von Promethea von der Liebesgeschichte zwischen Cixous und Ariane Mnouchkine inspiriert ist – der Gründerin und Leiterin des Theatre du Soleil in Paris, mit der Cixous eine lange Zusammenarbeit verbindet. Doch ich würde mich hüten, das zu behaupten – Göttin bewahre.
In Weiblichkeit in der Schrift (übersetzt von Eva Duffner), Die unendliche Zirkulation des Begehrens (übersetzt von Eva Meyer und Jutta Kranz) und Das Lachen der Medusa (übersetzt von Claudia Simma) offenbart Cixous die Grundlagen dessen, wofür sie berühmt wurde: écriture féminine, weibliches Schreiben, aus dem Körper heraus, sich als Frau in die Kultur einschreibend. Im Zeitalter der Dekonstruktion eine heikle Sache; ich halte viel von Butler und dem Transzendieren der Zweigeschlechtlichkeit, doch das hält mich nicht davon ab, Cixous’ Bücher auch nach vierzig Jahren mit großer Freude zu lesen. Ihre Werke bleiben aktuell – bei der Veranstaltung auf Kampnagel war das Publikum überwiegend jung.
Im letzten Jahrzehnt schreibt sie viel über ihre frühe Geschichte: ihre in Deutschland geborene Mutter, ihre eigene Kindheit in Algerien, ihren Sohn – Der Tag, an dem ich nicht da war (übersetzt von Esther von der Osten und Elisabeth Güde), Eine deutsche Autobiografie (übersetzt von Esther von Osten), Osnabrück (übersetzt von Esther von der Osten), Meine Homère ist tot … (übersetzt von Claudia Simma).
Hélène Cixous bereitet sich darauf vor, den Kreis zu schließen.
Anke Stelling (geb. 1971)
In einer Rezension wurde Schäfchen im Trockenen als Nabelschau bezeichnet. Anke Stelling schrieb daraufhin eine recht scharfe Erwiderung. Das kann ich verstehen. Wenn man nicht begriffen hat, dass Schäfchen im Trockenen zwar wie eine Nabelschau daherkommt, aber – intuitiv oder rational – geschickt durchkonstruiert ist und die Mythen, welche die Kleinfamilie bis heute umranken und erdrücken, systematisch einen nach dem anderen zerpflückt, bis nichts mehr übrigbleibt außer Erschöpfung und Mitgefühl – wenn man das nicht sieht, dann sollte man gewiss keine Bücher besprechen.
Stelling entlarvt Unterschiede, die von Klassen- oder Schichtzugehörigkeit erzeugt werden, mit ätzender Wut und serviert uns die end- und aussichtslosen Bemühungen der Prekären, mitzuhalten oder zumindest ihren Kindern das Mithalten zu ermöglichen. Für Menschen, die sich in ähnlicher Lage befinden, wirkt der Roman, so vermute ich, entweder kolossal befreiend oder fürchterlich deprimierend – oder beides. Auf jeden Fall wirkt er.
Bodentiefe Fenster soll bereits so ähnlich gewesen sein – ich werde es lesen.
Mir scheint Stellings Schreibweise, die wie das Ausatmen eines inneren Bewusstseinsstroms daherkommt, an die feministischen Selbsterfahrungsgruppen der Siebziger und Achtziger Jahre anzuknüpfen – wie ich bereits sagte in raffiniert konstruierter Form. Wie meinten wir doch damals? Das Persönliche ist politisch.
Und dafür gab’s 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse!
3 Bücher
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen
Das Lesen habe ich mir über zehn Tage portionsweise aufgespart wie eine Schachtel Pralinen (nur da gelingt es mir nicht so gut): ein Hochgenuss, ein Schwelgen in Worten und Bildern.
Ich mag, dass und wie eine junge Schriftstellerin aus der Perspektive des Arbeiters Wenzel Groszak schreibt. Geschichten aus dem rauen Arbeitsleben (meist männlich, hier Bohrplattform) haben mich seit meiner Jugend angesprochen (es fing an mit Joseph Conrad Spiegel der See). Wenn darin noch derart gekonnt die Veränderungen in der Arbeitswelt geschildert werden: Chapeau!
Anja Kampmann ist eine Dichterin; sie ist auf poetry slams aufgetreten, und das merkt man dem Buch an. „Die See bei Nacht ist das Dunkelste, was einem begegnen kann … Weit unten schwankte die Plattform an ihren langen Stahltampen, zerrte an den meterdicken Stiften, tief im Meeresgrund verankert, gab ihr helles Licht in einigem Umkreis an das wogende Braun.“
Der Roman schildert die Trauer Wenzels um eine Freundschaft, die von Liebe nicht zu unterscheiden war. Sein Freund Mátyás ist von der Plattform verschwunden, und er wird nicht wieder auftauchen. Im Rückblick erinnert sich Wenzel an alles. Ihr Kennenlernen: „Er wusste nicht, wie lange sie dort noch standen, aber es war, als würde jemand Löcher in eine Wand schlagen, von der er nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab.“
Wenzel verlässt die Arbeit auf den Ölbohrinseln und reist von Nordafrika aus durch Europa: in Mátyás Heimatdorf in Ungarn, nach Italien zu einem alten Freund und ins Ruhrgebiet, wo er aufgewachsen ist.
Unter allem, was er erlebt, liegt der raue Charme von Unbehaustheit, Einsamkeit und Schmerz – von Anja Kampmann ebenso poetisch wie treffsicher in Worte gefasst.
Kinta Beevor: Der Garten im Himmel – Eine Kindheit in der Toskana
Es gibt ja viele Bücher über Italien, insbesondere solche, die in der Toskana spielen – und ich glaube, sie werden alle gelesen. Über die Qualität sage ich jetzt mal nichts. Mein Favorit für die Italiensehnsucht ist Der Garten im Himmel (übersetzt von Sylvia Höfer).
Mit vornehmer Zurückhaltung und feiner Herzensgüte schildert Beevor (1911–1995) ihre Kindheit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Mit fünf kommt sie mit ihrer Familie aus England auf eine Burg in der Lunigiana, einer bergigen Gegend oberhalb von La Spezia, von Pilzen, Kastanien und Wildnis geprägt. Ihre Mutter ist Schriftstellerin/Journalistin, ihr Vater Maler. Zwischen Bauern und Boheme lebt Kinta Beevor intensiv, frei und wissbegierig. Die italienische Bevölkerung fungiert in ihren Schilderungen nicht als Kulisse, sondern wird sensibel und genau wahrgenommen. Wir erfahren viel über die ländliche Kultur und über den Einfluss des aufkommenden Faschismus. Obwohl die Familie Beevor zu Beginn des zweiten Weltkrieges Italien verlässt, werden auch die Kriegsjahre in der Lunigiana beschrieben. Nachdem sie in den fünfziger Jahren dann das Anwesen unter großen Schwierigkeiten verkaufte, schreibt Beevor zum Schluss des Buches: „Die Burg, die er (ihr Vater, G.F.) entdeckte, war für mich und meine Brüder der schönste und bezauberndste Ort der ganzen Welt. Aber wenn ich zurückblicke, kann ich gut verstehen, warum Freunde und Verwandte … meine Eltern für ausgesprochen unklug, wenn nicht gar für verrückt hielten, weil sie sich an einem solchen Ort heimisch fühlten.“
Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus
Lowenhaupt Tsing ist Wissenschaftlerin, genauer: Professorin für Anthropologie; für ihre interdisziplinäre Arbeit wurde sie mit der Niels-Bohr-Professur der Universität Aarhus ausgezeichnet. In Der Pilz am Ende der Welt (übersetzt von Dirk Höfer) unternimmt sie eine unkonventionelle Erkundung der Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie. Ein wertvoller ursprünglich auf den südasiatischen Raum beschränkter Speisepilz, Matsutake, wächst nun, dank der Veränderungen der Öko-Systeme, überwiegend in den Wäldern Nordamerikas und wird dort von EinwanderInnen, Alt-Hippies und anderen freiheitsliebenden SucherInnen gesammelt und zu guten Preisen an ZwischenhändlerInnen verkauft – die wiederum dafür sorgen, dass er zeitnah in Flugzeugen nach Asien gelangt.
Anhand der Routen der Pilze und der SammlerInnen arbeitet Lowenhaupt Tsing heraus, wie eine kreative und widerständige Reaktion auf die zunehmende Ökonomisierung allen Lebens aussehen kann. Sie tut dies mit akribischer Beobachtung und marxistischer Stringenz – eine unwiderstehliche Mischung! „In der kapitalistischen Logik der Kommerzialisierung werden die Dinge aus ihren Lebenswelten gerissen, damit sie Tauschobjekte werden können. Diesen Prozess nenne ich Entfremdung … Anstatt sich aber in entfremdete Handelswaren umzuformen, die für die Verwandlungen von Geld in Kapital bereitstehen, werden sie (die Pilze, G.F.) – selbst wenn sie verkauft werden – zu Jagdtrophäen. Die Sammler strahlen vor Stolz, wenn sie ihre Pilze vorzeigen; sie können gar nicht aufhören, von den Freuden und Gefahren der Suche zu erzählen.“
Ein Buch, das zu lesen Spaß macht und mit ziemlicher Sicherheit den Denkhorizont erweitert – wenn nicht sogar verwandelt.