Nach einer kurzen Pause geht es heute weiter mit den Empfehlungen von BücherFrauen. Heute stellt die Literaturwissenschaftlerin Hanna Kopp, die sich seit Kurzem mit um den Blog der BücherFrauen kümmert, ihre Auswahl vor.

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Hanna Kopp hat in Mainz, Frankfurt und Rom Literaturwissenschaften studiert. Als Werkstudentin war sie beim Frankfurter Verein Litprom für die Förderung von Literatur aus dem Globalen Süden mitverantwortlich, hat für eine politische Bühne der Frankfurter Buchmesse gearbeitet und eine selbstverwaltete feministische Bibliothek in Mainz mitbetreut. Aktuell ist sie als Volontärin für den Deutschen Buchpreis tätig.
3 Autorinnen

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In Frankreich ist die 1940 in der Normandie geborene Autorin Annie Ernaux so etwas wie ein Shooting-Star: Ihre Werke landen regelmäßig auf französischen Bestsellerlisten und wurden in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt. Sie selbst ist ein häufig geladener Gast im französischen Fernsehen. In Deutschland dagegen ist die Autorin erst mit dem Gastlandauftritt Frankreichs 2017 und der Neuübersetzung ihrer Werke durch den Suhrkamp Verlag richtig bekannt geworden.
Ernaux’ Eltern stammten aus der Arbeiter*innenklasse und betrieben ein kleines Ladengeschäft mit Café. Sie selbst besuchte das Lycée, studierte in Rouen und Bordeaux und arbeitete später als Lehrerin und Dozentin. Ihr autobiografisches Schreibprojekt umfasst über fünfzehn Werke, die sich alle leitthematisch mit ihrer sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht und ihrer Familiengeschichte befassen. Ernaux’ Sprache ist zugänglich, die in ihren Büchern geschilderten Themen entsprechen den Alltagserfahrungen von vielen Frauen sowie den ‚petites gens‘ Frankreichs – möglicherweise Gründe für ihre dortige Popularität.
Was mich besonders an ihrem Schreiben fasziniert: Das Private ist bei Ernaux immer politisch. Sie zeigt uns, wie eine individuelle Erfahrung nicht ohne den sozialen und politischen Kontext, in der wir sie erleben, verstanden werden kann. Mutterschaft und Schwangerschaftsabbruch, Sexualität und Scham werden von Ernaux genauso verhandelt wie ihre Situation als ‚transfuge de classe‘, als Klassenflüchtling, die Lebensgeschichte ihrer Eltern und die Zeitgeschichte ihres Landes. Damit schafft die Autorin einen neuen Typ autobiografischer Literatur, „quelque chose entre la littérature, la sociologie et l’histoire“, etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte.

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„Frauen haben keine Vergangenheit. Oder haben keine zu haben. Ist unfein, fast unanständig.“ Noch gut kann ich mich erinnern, wie mich bei der ersten Lektüre von Ruth Klügers weiter leben diese Sätze ungläubig und fassungslos machten. Ihre eigene Vergangenheit erzählte die 1931 in Wien geborene jüdische Autorin Ruth Klüger erst spät: 1992 erschien weiter leben. Eine Jugend, in dem Klüger aus ihrer Kindheit erzählt, über den Verlust von Vater und Bruder, die von den Nazis ermordet wurden, der Deportation nach Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt gemeinsam mit ihrer Mutter – und ihrem Überleben. Sechzehn Jahre später setzte sie mit unterwegs verloren. Erinnerungen ihre autobiografische Arbeit fort, widmet sich den Jahren in den USA, der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter, ihrer unglücklichen Ehe und der Verbindung zu ihrer Muttersprache, dem Deutschen.
Klügers Texte sind eindringliche Zeugnisse über die Shoah, über das Weiterleben nach einer unvorstellbaren Katastrophe – und über das Erinnern daran. Ihre eigene Erinnerungsfähigkeit stellt Klüger dabei immer wieder infrage und sträubt sich dagegen, einen kohärente und ‚konsumierbare‘ Version ihrer Vergangenheit zu präsentieren. Immer wieder betont sie die Einmaligkeit ihrer Erfahrungen und wehrt sich gegen Fremdzuschreibungen als jüdisches Opfer oder ‚KZ-Kind‘. Mit männlichen Lesern ihrer Autobiografie rechnete Klüger übrigens nicht und wandte sich in ihrem Text nur an ihre Leserinnen, „und zwar ohne das heute übliche große I in der Mitte des Worts“.

dav
Weder in meinem Deutschunterricht noch in meinen
literaturwissenschaftlichen Seminaren an der Uni und dem dort gelesenen
Kanon der Weltliteratur tauchte sie auf – die im Jahr 1900 in Mainz
geborene Autorin Anna Seghers. Erst mit der Verfilmung ihres Romans Transit durch Christian Petzold im Jahr 2018 wurde ich auf die Schriftstellerin aufmerksam. Transit genauso wie ihr wohl bekanntester Roman Das siebte Kreuz entstanden nach Seghers Flucht aus dem Naziregime im Exil. Als Jüdin und Kommunistin sah sie sich 1933 gezwungen, gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern Deutschland zu verlassen. Sie flüchtete zunächst nach Frankreich und nach der Besetzung von Paris über Marseille nach Mexiko.
Geprägt durch ihre eigene Fluchterfahrung und ihren Aufenthalt im Exil, begann Seghers noch auf der Überfahrt mit der Niederschrift von Transit. Der Roman folgt einem männlichen Ich-Erzähler mit derselben Fluchtroute wie Seghers von Paris nach Marseille. In der südfranzösischen Hafenstadt sammeln sich im Sommer 1940 zahlreiche europäischen Geflüchtete. Sie hetzen durch die Stadt, jagen den korrekten Papieren, Bescheinigungen und Visa hinterher – und verlieren sich dabei im Chaos der Behörden in einer Transit-Welt. Mittendrin der Ich-Erzähler, ausgestattet mit den Papieren eines Toten, die ihm die rettende Überfahrt ermöglichen würde, und verliebt in dessen Ehefrau, die verzweifelt ihren Mann sucht.
Die Thematik der Flucht verbindet Transit und Das siebte Kreuz, das einige Jahre später zwischen 1937 und 1939 entsteht. In dem Roman erzählt Seghers die Geschichte von sieben Häftlingen, die aus einem KZ in Rheinhessen fliehen. Es ist, so heißt es im Untertitel, ein „Roman aus Hitlerdeutschland“. In beiden Werken schafft Seghers ausgehend von konkreten geschichtlichen Situationen und ihrer eigenen Biografie Literatur, die im besten Sinne der antifaschistischen Literatur entspricht, die sie von ihren Zeitgenoss*innen forderte. Nah dran sind ihre Geschichte an den epochalen, menschlichen Erfahrungen im Faschismus, Krieg und auf der Flucht. Die Autorin moralisiert und ideologisiert nicht, sondern zeigt das alltägliche Leben ihrer Figuren, zeigt ihre Schwächen und Beschränkungen, ihren Mut und ihr Wille zur Solidarität. Immer wieder erleben wir sie in Entscheidungssituationen, in denen sie kollaborieren und sich mitschuldig machen – oder in denen sie versuchen, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren.
3 Bücher
Mely Kiyak: Frausein

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Klug, humorvoll und mutig beobachtet, erinnert und analysiert Mely Kiyak, was Frausein bedeuten kann. Dabei gelingt der Autorin und Kolumnistin etwas absolut Rares, was mich bei der Lektüre besonders beeindruckt hat: Sie bleibt bei ihrer Antwort auf diese Frage ganz bei sich. Frausein wird so zu einer radikal individuellen und nie verallgemeinernden Annäherung an ihr weibliches und schreibendes Ich. Besonders mochte ich Kiyaks geschliffenen Stil und ihre absolute sprachliche Präzision, die Frausein für mich zu einem eindringlichen Text machen, dessen Szenen lange nachhallen.
Mely Kiyaks Weg zum Schreiben und ihre Auseinandersetzung mit Sprache wird in Frausein ebenfalls nachgezeichnet. Ihr Leben als Autorin wählt sie mit einer solchen Konsequenz, die tief bei mir nachwirkte.
(Der 2021 erstmals vergebene BücherFrauen-Literaturpreis Christine ging an Mely Kiyak für Frausein. DH)
Deborah Levy: The Cost of Living

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In den mittleren Jahren ihres Lebens endet Deborah Levys Ehe, ihre Mutter liegt im Sterben, sie muss für sich und ihre Töchter ein neues Zuhause aufbauen. In The Cost of Living, dem zweiten Band ihrer autobiografischen Trilogie, erzählt die in Südafrika geborene Autorin von Abschied und Neubeginn, der Suche nach neuen Orten zum Schreiben und Leben – und der Freiheit, die daraus wachsen kann.
Besonders faszinierte mich Levys szenenhafte Art zu schreiben, viele Momente des Buches blieben bei mir hängen: Die Autorin an einer Strandbar in Kolumbien, wie sie eine junge Frau beobachtet, die einen älteren Mann unbeeindruckt ziehen lässt – er hatte nicht verstanden, dass sie ihn nicht als major und sich nicht als minor character ihres Lebens begreift. Die Autorin, die wild auf ihrem E-Bike durch London reitet, auf der verzweifelten Suche nach der einen Eiscreme, die ihre im Sterben liegende Mutter am liebsten mag.
Dabei fragt sich Levy immer wieder, welche Erwartungen auf ihr als Frau, Ehepartnerin, Mutter und Schriftstellerin lasten. Zwar spricht sie dabei als renommierte Autorin aus einer durchaus privilegierten middle class-Perspektive, ihr Text als Zusammenspiel aus Intimem, Politischem und unterfüttert mit literarischen Zitaten hat mich trotzdem sehr bewegt.
Patti Smith: M Train

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Patti Smith ist für mich eine große Poetin, meine liebste Flaneurin und die lässigste Punkerin on earth. In M Train. Erinnerungen, ins Deutsche übersetzt von Brigitte Jakobeit, nimmt mich die Künstlerin mit in Träume voll von traurigen Cowboys und leeren Notizbüchern, auf Reisen nach Mexiko und Japan sowie in die Erinnerungen an ihren verstorbenen Ehemann. Bei der Lektüre flaniere ich mit Patti durch die Straßen von New York, streife mit ihr durch ihre Stammcafés und wir vertiefen uns in die Bücher von Bolaño und Murakami.
Ihre Reflexionen, Erinnerungen und fotografischen Momentaufnahmen sind für mich wunderbar lose und assoziativ arrangiert, und sie folgen Pattis ureigenem Rhythmus, der den Sound ihres Schreibens für mich unverwechselbar macht. Ihr Blick auf die Dinge, ihr Gefühl für die besondere Magie mancher Orte und ihr Gang durch die Welt entschleunigen mich im besten Sinne und sind schönster Trost gegen die Widrigkeiten des Alltags.
20. April 2022 um 20:15
Eine tolle Auswahl! Patti Smith muss ich lesen. Danke für den Tipp, Hanna.