Für diesen Monat stellt uns die Autorin, Übersetzerin und Dozentin Ina Pfitzner ihre Leseanregungen vor – und das sind eine ganze Menge Titel. Bei den BücherFrauen ist sie seit Kurzem eine der beiden Presse-Sprecherinnen der Berliner Gruppe. Außerdem gibt sie seit 2015 das Seminar „Besser übersetzen“ bei der BücherFrauen-Akademie.
Ina Pfitzner ist Übersetzerin, Dozentin und Autorin. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Sprachmittler für Englisch und Französisch 1989 lebte sie in den USA und Frankreich und promovierte dort. Seit 2011 schreibt sie die Kolumne „Botschaft aus Babel“ (übers Übersetzen) in der Zeitschrift Bücher. Sie übersetzt in verschiedenen Medien und Genres, u. a. regelmäßig für National Geographic. 2017 erschien der Essayband Aus Neugier und Leidenschaft von Margaret Atwood im Berlin Verlag, den sie gemeinsam mit Christiane Buchner und Claudia Max übersetzt hat.
Ich möchte je drei Autorinnen und drei Bücher vorstellen, die mich in den letzten Jahren bewegt haben — aus zwei Ländern, die mich vor allem als junger Mensch geprägt haben: aus der DDR und den USA. Aus Frankreich lese ich im Moment weniger, dabei habe ich über eine Autorin, die in der DDR und anderen Ostblock-Staaten sehr bekannt war, sogar meine Diplomarbeit geschrieben: Martine Monod. In ihrem kleinen Roman Le Nuage (Die Wolke) thematisierte sie den amerikanischen Atomtest 1952 im Bikini-Atoll, bei dem japanische Fischer ums Leben kamen, indem sie die Geschichte auf eine amerikanische Luxusyacht mit schöner junger Frau verlegte …
Aber hier meine Empfehlungen:
Drei Autorinnen:
Daniela Dahn (geb. 1949)
Im November 2014 hatte ich die Autorin Daniela Dahn zu einer Veranstaltung bei den Berliner BücherFrauen eingeladen. Das hatte zunächst zwei Gründe: Sie ist eine politische Autorin, und sie ist aus dem Osten.
Daniela Dahn ist eine der DDR-Autorinnen, der es gelungen ist, auch nach den Umbrüchen der Wendezeit eine eigene Stimme zu finden. Heute, wo alle fast alles sagen können, ist es schwieriger, sich Gehör zu verschaffen, denn Subversion aller Art, so eine These von Stephen Greenblatt, wird heutzutage durch die Gesellschaft vereinnahmt und damit entschärft. Das ist ganz schön desillusionierend.
Doch Daniela Dahn tut es trotzdem, immer wieder: sorgfältig recherchiert, sachlich und doch voller Sprengkraft. Zu DDR-Zeiten schrieb sie Feuilletons und Bücher wie Spitzenzeit und Prenzlauer Berg-Tour, letzterer ein Klassiker der emotional involvierten Mikro-Geschichtsschreibung, der eigentlich in jeden Prenzlauer Berger Haushalt gehört.
Im Westen hatte Daniela Dahn zunächst keine Zeit zu schreiben, weil sie sich gegen Rückübertragungsansprüche in ihrer Wohnsiedlung engagierte. Auf Initiative eines aufmerksamen Rowohlt-Lektors, dem sie zufällig begegnete, entstand daraus ihr erstes Nachwendebuch Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?. Seitdem hat sie nicht aufgehört zu schreiben, über den Wiedervereinigungsprozess, in dem Ost und West vieles verloren haben, und die Folgen, in Büchern wie Westwärts und nicht vergessen, Vertreibung ins Paradies, Wenn und Aber, Wehe dem Sieger!, Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt. Darin betreibt sie durchaus auch Systemkritik: Wer traut sich das heute noch?
2014 erschien ihr erstes E-Book, Emanzipiert Euch!, über den Zustand der Demokratie und die Macht des Geldes. Sie befasst sich auch mit Themen wie dem Ukrainekonflikt, der Fluchtkrise, Pressefreiheit und zuletzt auch Israelkritik im Streitgespräch (nachzulesen auf ihrer Webseite).
Der Titel unserer Veranstaltung lautete „Wer hat Angst vor Daniela Dahn?“, und tatsächlich gibt es da wohl so einige, wie sie sagte, u. a. wurde sie vor ein paar Jahren als Mitherausgeberin des Freitag abgesetzt. Für den schreibt sie immer noch, ebenso wie für die Nachfolgeschrift der Weltbühne, Ossietzky. Dass Daniela Dahn eine Frau ist, spielte vermutlich bei einigen öffentlichen Anfeindungen eine Rolle, gegen die sie sich erfolgreich zur Wehr setzte. Was sie und ihre Texte aber besonders auszeichnet, ist, dass bei ihr die scharfe Analyse mit großer Herzenswärme einhergeht. Das macht sie zu so einer wichtigen, immer noch unbequemen Stimme, die mehr gehört und gelesen werden sollte.
Mary Gaitskill (geb. 1954)
Die US-amerikanische Autorin Mary Gaitskill kenne ich bisher vor allem aus ihren Kurzgeschichten: Bad Behavior (Schlechter Umgang, übersetzt von Nikolaus Hansen) und Because They Wanted To, und aus Essays und Interviews. Ihr Roman Veronica (2005) war für den National Book Award nominiert; ihr letzter Roman The Mare (Die Stute, übersetzt von Barbara Heller und Rudolf Sorge) wurde auch hierzulande ausgiebig besprochen. Darin schildert sie autobiografisch inspiriert, wie ein Ehepaar ein dominikanisches Mädchen aus New York über ein Programm des Fresh Air Fund erst in den Ferien und dann immer öfter bei sich auf dem Land aufnimmt, und die emotionalen Verwicklungen, die das in den Beteiligten auslöst. (Das Buch steht auf meiner Leseliste.) Auch in Lost Cat (Der verschwundene Kater, übersetzt von Manfred Allié) spielt dieses Programm eine Rolle.
Den Interviews mit ihr entnehme ich, dass die Autorin eine nachdenkliche, brüchige Person ist, zugleich mit einer gewissen Taffheit, ganz wie ihre Figuren. Mary Gaitskill hat einen Ruf als „badass writer“, also als eine mutige, knallharte, schonungslos erzählende, versierte Autorin. Das hat mit den Themen ihrer Geschichten zu tun, aber auch mit ihren Erfahrungen als Stripperin und Callgirl, über die sie berichtet, nicht um zu kokettieren, sondern weil sie auch davon ausgehend erzählt. In einem Essay „On Not Being a Victim“ in Harper’s (1994) schrieb sie über eine Vergewaltigung, die sie erlebt hat.
Aufmerksam auf sie bin ich durch eine Beziehungsratgeber-Sendung geworden, die auf ihre Kurzgeschichte „The Girl on the Plane“ verwies. Darin geht es — wahrscheinlich — um die Massenvergewaltigung eines jungen Mädchens, erzählt aus der Perspektive eines der Täter, der sich viele Jahre später daran erinnert. Wahrscheinlich schreibe ich, weil das, was da passiert, gar nicht so eindeutig zu benennen ist, da wie in so vielen ihrer Geschichten (und wie in dem Essay über ihre eigene Vergewaltigung) die Grenzen verschwimmen, und weil man sich fragen könnte, inwiefern sich das Mädchen in die Situation selbst hineinbegeben hat. Das ist keine Rechtfertigung für sexuelle Gewalt. Mary Gaitskill schreibt immer wieder über die komplizierte Dynamik von Sexualität, vor allem in Beziehungen. Das ist nicht erotisch oder pornografisch oder voyeuristisch, sondern psychologisch feinfühlig, nachspürend, gnadenlos ehrlich und — aus Sicht einer Frau erzählt. Das habe ich so noch nirgendwo gelesen und finde es kühn, wahrhaftig und berührend.
Den größten Erfolg hatte Mary Gaitskill wohl mit der Kurzgeschichte „Secretary“, die unter dem gleichen Titel mit Maggie Gyllenhaal in der Hauptrolle verfilmt wurde. Der Film ist augenzwinkernd, schillernd, charmant, überzogen, die „Pretty-Woman-Version der Erzählung“, wie die Autorin sagt. Es geht um eine sehr junge Frau, die aufblüht, als sie in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten anfängt, wo sie von ihrem Arbeitgeber schikaniert und auf den Po geschlagen wird, sich in diesen verliebt und so auf wunderbare Weise von ihrem selbstverletzenden Verhalten geheilt wird. Der Film brachte der Autorin Tantiemen und Bekanntheit ein, aber ihre Geschichte ist natürlich ganz anders: differenziert, zwiespältig und verstörend, eben typisch Mary Gaitskill. Aber das ist nicht deprimierend, sondern aufmerksam und sensibel. Meisterhaft! Lesenswert!
Lillian Hellman (1905–1984)
Zu meinem ersten Buch von Lillian Hellman, An Unfinished Woman (Eine unfertige Frau, übersetzt von Kyra Stormberg) hatte ich mir notiert: „So ein umwerfendes, offenes Buch! New Orleans, New York, Hollywood, Spanischer Bürgerkrieg, Sowjetunion im Krieg, immer wieder Moskau, die schwierige Liebe zu Dashiel Hammett. Eine Entdeckung!“ Als ich dann las, dass Mary McCarthy über sie sagte: „Jedes Wort, das sie schreibt, ist eine Lüge, einschließlich and und the“, war ich zutiefst enttäuscht. Sollte das, was mich so begeistert hatte, alles erlogen gewesen sein?
Sicherlich auch wegen dieser Bemerkung, gegen die sie sich mit Gerichtsprozessen zur Wehr setzte, ist Lillian Hellmans Ruhm heute auch in den USA verblichen. Doch in der Mitte und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie eine bedeutende Dramatikerin, und das zu einer Zeit, als Frauen eigentlich nicht für das Theater schrieben. Sie tat dies ausdrücklich als playwright und nicht als woman playwright, aber Mary McCarthy bezeichnete sie als „lady writer“.
Damit sind wir schon bei Lillian Hellman als Person, die ihre Zeit vermutlich ebenso geprägt hat wie die Schriftstellerin. Eine Autobiografie über sie heißt A Difficult Woman. The Challenging Life and Times of Lillian Hellman (Eine schwierige Frau. Die Herausforderung des Lebens und der Zeiten von Lillian Hellman), denn das war sie, zickig, eigensinnig, aber auch eine, die sich treu blieb.
Lillian Hellman wurde 1905 in New Orleans geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend abwechselnd dort und in New York. Sie heiratete jung und ließ sich scheiden, hatte eine Abtreibung und fand durch ihre Arbeit in einem Verlag, durch ihre Ehe und durch die Freundschaft mit Schriftstellern und durch ihre Beziehung zu Dashiel Hammett selbst zum Schreiben.
Nach eigener Aussage blieb sie Südstaatlerin, geprägt durch ihre schwarze Amme Sophronia und durch New Orleans, eine Stadt mit einem intensiven kulturellen Leben, wo Schwarze und Weiße schon immer eng zusammenlebten. Lillian Hellman war aber auch (deutschstämmige) Jüdin und im Sinne des in New Orleans tief verwurzelten Reformjudentums aufgewachsen, was sie von ihren Kollegen in New York, orthodoxen osteuropäischen Einwanderern in der zweiten Generation, grundlegend unterschied.
Sie war eine Frau, die sich souverän unter den Machoschriftstellern ihrer Zeit behauptete und ein freizügiges, selbstbestimmtes Intimleben führte, gern auch mit verheirateten, gern auch mit jüngeren Männern, was man ihr immer wieder übel nahm. Man nahm ihr vieles übel: dass sie keine Intellektuelle war, dass sie es schaffte, als Frau ihrer Zeit von ihrer Arbeit als Schriftstellerin zu leben und durch geschickten und sparsamen Umgang mit ihren Finanzen sogar finanzielle Sicherheit und einigen Wohlstand erlangte. Dass sie sich als erfolgreiche Schriftstellerin nicht mit den Zielen der Frauenbewegung identifizierte (sexuelle Befreiung, Gleichstellung im Öffentlichen wie im Privaten), brachte ihr Unverständnis ein. Doch auch hier war ihre Haltung konsequent: „Ob nun BH oder kein BH, ist absolut nebensächlich. Dass man sich selbst einen BH kaufen kann — das ist wichtig.“
Während ihr langjähriger Lebensgefährte Dashiell Hammett für seine Überzeugung in der McCarthy-Ära schweigend ins Gefängnis ging und dort gebrochen wurde, trieb sie ihr störrischer Gerechtigkeitssinn dazu, mithilfe ihrer Anwälte einen Brief zu verfassen, der ihr mit etwas Glück vor dem McCarthy-Ausschuss zum Triumph verhalf: Sie denunzierte niemanden und blieb trotzdem auf freiem Fuß. (Darum geht es u. a. in ihrem Buch Scoundrel Time, dt. Zeit der Schurken, übersetzt von Peter Naujack.) Neue Feinde machte sie sich aber, als sie Kollegen heftig kritisierte, die ihre Kollegen und Freunde verraten hatten.
Lillian Hellman war kurzfristig Kommunistin und verteidigte die Sowjetunion noch, als andere sich wegen der Gewalt unter Stalin schon längst abgewandt hatten und bekannt war, dass er auch gegen Juden vorging. Sie war kaufsüchtig, eitel, nicht zu Kompromissen bereit, neigte zu Szenen und Unpässlichkeit. Sie war auch eine liebevolle und großzügige Freundin und Patentante, eine passionierte Dozentin, eine zurückhaltende, sehr feminine Frau, die gehörig auftrumpfen konnte.
Dann wären da die Anschuldigungen von Mary McCarthy und die nachfolgenden, zermürbenden Gerichtsprozesse, die erst mit ihrem Tod 1984 ein Ende fanden. Nora Ephron hat die Fehde in einem Musiktheaterstück Imaginary Friends (Imaginäre Freundinnen) verarbeitet. Ja, eigentlich hätten die beiden wahrscheinlich Freundinnen sein sollen.
Lillian Hellman mag in ihren autobiografischen Texten verdreht, falsch zugeordnet, übertrieben oder auch plagiiert haben, dabei war ihr die Suche nach der Wahrheit wichtig. Ich vermute dahinter den heimlichen Wunsch, anders, heroischer, selbstloser zu sein, besonders in der spektakulären Geschichte Julia. Angefeindet hat man Lillian Hellman übrigens auch, weil sie all das war, eine kantige, eigenwillige Persönlichkeit und dabei noch nicht einmal schön! (Interessanterweise ist sie trotzdem — oder deshalb? — auf vielen ihrer Buchtitel abgebildet.)
Ihre Theaterstücke feierten große Erfolge: Little Foxes (Die kleinen Füchse, mit Nina Hoss in der Hauptrolle bis vor Kurzem in der Berliner Schaubühne zu sehen), Toys in the Attic (Puppenstube) und andere, mit starken und schwachen Frauenfiguren, ein wenig im Stil von Tennessee Williams. Aber zum Anwärmen, liebe Leserinnen, empfehle ich Eine unfertige Frau (in zwei verschiedenen Übersetzungen erhältlich) aus der Bibliothek oder antiquarisch. Alles, was Lillian Hellman darin beschreibt, hat sie so oder so ungefähr in etwa tatsächlich erlebt.
Drei Bücher:
Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne
Im Januar habe ich in der Zeit im Osten (den Seiten der Zeit, die gerade auch im Westen erscheinen sollten) einen Artikel mit dem Titel „Das Aufbegehren in Gedanken“ gelesen, in dem die Autorin Carolin Würfel über die Bedeutung von Maxie Wanders Buch Guten Morgen, du Schöne für die verschiedenen Generationen von Frauen in ihrer Familie schreibt.
Also habe ich es wieder herausgesucht und lese. In meiner Jugend kannte es jeder in meinem Umkreis, alle hatten es gelesen. 1978 wurde es am Deutschen Theater als Theaterstück aufgeführt, Thomas Langhoff drehte einen Film dazu. Ich las es zuerst 1982 und dann gleich noch einmal 1983. Es ist eines der wenigen Bücher, in das ich mit Bleistift Notizen gemacht hatte. Erschienen ist das Buch schon 1977, dem Jahr des Todes von Maxie Wander, im Buchverlag Der Morgen, meine Ausgabe ist aus der bb-Taschenbuchreihe des Aufbauverlags von 1980.
Wie der Untertitel Protokolle nach Tonband besagt, wurden 19 Frauen im Alter von 16 bis 92 Jahren interviewt, die freimütig über sich und ihr Leben erzählen, über ihre Wünsche, Sorgen, Gedanken. Sie reden über das, was ihnen wichtig ist: über Kinder, gewollt oder ungewollt, Abtreibung, Familie und Beruf, enge Wohnverhältnisse, Beziehungen, das Verhältnis zu den Eltern und Schwiegereltern. Vielleicht ist es ja nur eine Nuance, aber sie sprechen nicht von Feminismus, sondern von Emanzipation. Viele der Frauen kommen aus einfachen Verhältnissen und haben keinen höheren Schulabschluss, aber sie haben einen selbstverständlichen, praktischen Ehrgeiz und arbeiten sich hoch, bilden sich weiter, setzen sich durch. Und dann reden sie über Lust und Liebe, wie sie Sex erleben oder nicht, wie sie sich ihre Männer aussuchen oder auch nicht, freizügig und realistisch. Der selbstverständliche und unbefangene Umgang mit Sex mag mit der relativen finanziellen Unabhängigkeit und dem Selbstbewusstsein zu tun haben, das sie aus ihrer Berufstätigkeit bezogen, aber auch damit, dass damals der weibliche Körper nicht überall sexualisiert zur Schau gestellt wurde.
Die Autorin Maxie Wander (1933 bis 1977) stammte eigentlich aus Wien und war 1958 mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Fred Wander, einem Shoa-Überlebenden, in die DDR gezogen. Obwohl eigentlich die Frauen erzählen, ist Maxie Wander in ihren Erzählungen präsent. Sie stellte die Fragen, die richtigen Fragen. Christa Wolf lobte ihre Offenheit und ihre Gabe, auf Menschen einzugehen (in den wenigen Fotos offensichtlich), aber als Wienerin, die seit 18 Jahren in der DDR lebte, hatte sie auch einen besonderen, nämlich einen zugleich fremden und vertrauten Blick. Die Frauen sprechen sie an, thematisieren die Interviewsituation, und bei meiner jetzigen Lektüre fallen mir auch die gelegentlichen Austriazismen auf, die sich vermutlich bei der Überarbeitung in die Texte hineingeschlichen haben.
Viele der Frauen sprechen auch über das Gesellschaftliche, einige sind aufrichtig „überzeugt“ und wünschen sich, dass sich alle für den Sozialismus einsetzen, andere sind skeptisch oder kritisch. Aus heutiger Sicht mag es verwundern, dass das Buch erscheinen durfte, aber damals hat es uns nicht gewundert. Heute ist das Buch ein faszinierendes Zeitdokument, aber es ist noch viel mehr. Es zeugt von etwas, was verloren gegangen ist, einer gewissen Unschuld, einer kraftvollen Selbstverständlichkeit, einer anderen Art von Frausein. Es ist alles andere als altmodisch. Lest es, Ihr Frauen. Lest es, wenn Ihr wollt, mit Euren Männern. Es ist ein Buch, aus dem wir alle über Frauen lernen können.
Mary McCarthy: Die Clique
Mary McCarthy war Lillian Hellmans Erzfeindin und schrieb über diese: “Every word she writes is a lie, including ‘and’ and ‘the’“, was schon mal auf eine scharfe und witzige Zunge und einen ebensolchen Geist schließen lässt. Hellman hatte darauf mit „lady writer“ pariert, was natürlich abwertend gemeint war, dabei ist es von dort nicht weit zu „Our First Lady of Letters“, wie Norman Mailer Mary McCarthy nannte, und es ist bezeichnend für den Stoff ihres Schreibens. The Group (Die Clique) ist nämlich ein großer Frauen-Roman, wenn auch kein Frauenroman.
Die Clique, das sind acht Absolventinnen des renommierten Vassar College aus dem Jahr 1933, die lose befreundet sind und sehr unterschiedliche Wege einschlagen. Und dann entfalten sich ihre sehr unterschiedlichen Charaktere mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenswegen, die sich immer wieder kreuzen. Die Besonderheit: Sie sind alle Frauen, aus der Oberschicht, mit ihren ganz besonderen Frauensichten und Frauenproblemen. Was das für welche sein könnten? Sex, Verhütung, die Dynamik sexueller Beziehungen zwischen Mann und Frau, Untreue, Politik und die Erotik politischer Überzeugungen, Mutterschaft, Stillen (vor allem, wenn man mit einem Kinderarzt verheiratet ist, der an einem ein Exempel statuieren will), als Frau in der Buchbranche Karriere machen wollen („Publishing’s a man’s business“, lautet die Antwort), Vergewaltigung, eine lesbische Beziehung, Ledigbleiben, eine akademische Karriere, Impotenz usw. Das sind Themen, die 1963, als das Buch erschien, womöglich allmählich stärker an die Oberfläche drangen, aber schon lange, vielleicht schon immer, existierten, und die auch heute noch, über fünfzig Jahre später, kaum Eingang in die große Literatur finden. Ein Grund, warum das Buch für mich eine Sensation ist.
Ein weiterer: Das hier ist große Literatur. Mary McCarthy schreibt präzise und bildhaft wie Francis Scott Fitzgerald und zieht seine Leser in einen fesselnden Sog aus Ereignissen, Wahrnehmungen, Schicksalen. Es ist kein warmes Buch, in dem einem die Figuren ans Herz wachsen; es bleibt scharf beobachtend, auf Distanz. „Scathing“ („vernichtend“) nannte es ein geschätzter Kollege. Frauen sollten das Buch lesen, weil sie sich darin wiedererkennen können, Männer, die sich für Frauen interessieren und sie lieben, sollten es lesen, weil es Frauen und das Leben von Frauen ernst nimmt und ohne Traumprinzen und Schönheitsideale auskommt.
Mary McCarthy selbst sagte über ihr Buch: „I am putting real plums into an imaginary cake“ („Ich tue echte Pflaumen in einen imaginären Kuchen“) und „I’m afraid I’m not sufficiently inhibited about the things that other women are inhibited about for me. They feel that you’ve given away trade secrets.“ („Ich fürchte, ich bin nicht zurückhaltend genug, wo andere Frauen für mich mit zurückhaltend sind. Sie finden, ich habe Geschäftsgeheimnisse preisgegeben.“)
Ebersbach & Simon hat die deutsche Fassung Die Clique 2015 neu aufgelegt, in schöner Aufmachung und mit einem informativen Vorwort von Sex-and-the-City-Autorin Candace Bushnell, allerdings in der etwas angestaubten Übersetzung von Ursula von Zedlitz von 1964.
Zora Neale Hurston: Vor ihren Augen sahen sie Gott
Kaum zu glauben, dass Buch und Autorin heute vielleicht vergessen wären, wenn nicht Ende der sechziger Jahre Robert Hemenway, ein junger Literaturprofessor, das Buch entdeckt und 1977 eine wegweisende Biografie über die Autorin veröffentlicht hätte, die eine Welle der Wiederentdeckung auslöste.
Zunächst interessierten sich einige Akademiker für sie, dann berichtete die Schriftstellerin Alice Walker, die Begründerin des Womanism, in ihrem Essayband In Search of Our Mother’s Gardens (Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter, übersetzt von Gertraude Krueger) von 1973 über ihre fast erfolglose Suche nach dem verwilderten Grab von Zora Neale Hurston in Florida. Seitdem steht sie bei den African American Studies, bei den Gender Studies und in American Literature auf der Leseliste. Zu Recht. Doch in den offiziellen Kanon der amerikanischen Literatur hat sie es noch nicht geschafft, so scheint es mir: zu schwarz, zu eigenwillig, zu südlich, zu weiblich.
Zora Neale Hurston war ja nicht nur Autorin der Harlem Renaissance und Schriftstellerin, sondern auch Ethnologin und reiste durch die Gegend, um Geschichten und Sprache „ihrer“ Leute zu sammeln. So lässt sie die afroamerikanischen Figuren in Their Eyes Were Watching God (1937) in der örtlichen Mundart sprechen. Ihre Kollegen nahmen ihr das übel, hielten es für einen Verrat, allen voran Richard Wright, Autor des Protestromans Native Son (1941), der dem Roman vorwarf, die Schwarzen wie in einer Minstrel Show lächerlich zu machen. Ein vernichtendes Urteil.
Their Eyes Were Watching God ist ein Liebesroman, in dem sich eine schwarze Frau, die Hauptfigur Janie, nach einer akzeptierenden, ebenbürtigen Liebe sehnt und diese schließlich nach allerlei missglückten Versuchen und allerlei Hindernissen auch findet, mit dem um einiges jüngeren Tea Cake. Mit ihm kann sie das Leben in vollen Zügen genießen, lernt über Eifersucht und Treue, über Sein und Seinlassen. Zerstört wird ihre Liebe durch einen verheerenden Hurrikan, den sie am Okeechobee-See in Florida erleben, als Tea Cake sie in den Fluten vor einem tollwütigen Hund rettet und von diesem gebissen wird. Um ihr Leben zu retten, muss Janie schließlich ihre große Liebe erschießen.
In der Rahmenhandlung kehrt Janie danach in ihren Heimatort Eatonville zurück, wo die Nachbarn über sie reden. Denn eine schwarze Frau zu sein, die wahre Liebe sucht und lebt, die sich mit nicht weniger zufrieden geben will und die sich so anzieht, wie sie will, die unabhängig und laut und aber auch liebevoll und zart ist, das passt bis heute nicht so recht in das vorgesehene Rollenmuster für schwarze Frauen. Und so ist Zora Neale Hurstons Liebesroman auch revolutionär.
Dialekt, Umgangssprache, Mundart in der Literatur sind immer ungewöhnlich und problematisch, vor allem in der Übersetzung? Zunächst erschien das Buch 1993 in der Übersetzung von Barbara Henninges unter dem Titel Und ihre Augen schauten Gott, mit einem ausführlichen Glossar. Die Mundart bringt die Übersetzerin als Dialekt in unsere Sprache, für mich liest sie sich nach Ruhrpott, andere sehen sie als rheinischen Kunstdialekt. Es mag dafür Rechtfertigungen geben – auch eine Redeweise armer Leute, regional geprägt usw. –, doch heute macht man das nicht mehr so.
Für die Edition Fünf hat sich ein Mann der Neuübersetzung angenommen, Hans-Ulrich Möhring, für den Vor ihren Augen sahen sie Gott ein Traumprojekt war, mit dem eines seiner am Horizont fahrenden Schiffe in den Hafen eingelaufen ist (eine Anspielung auf den ersten Satz: „Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord.“). Er beschreibt den Blues als sein leitendes Prinzip. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Ah was skeered. Ich hatte Schiss.“ (bei Barbara Henninges steht: “Ich hatte Anx.”) oder „Dann musst du ihnen sagen, dass die Liebe nicht so was ist wie ein Schleifstein, der überall gleich ist und mit allem das Gleiche macht, wo er mit in Berührung kommt. Love is lak de sea. Wie das Meer ist die Liebe, immer in Bewegung, aber seine Form kriegt es erst von der Küste, an die es trifft, und die ist von Küste zu Küste anders.“ Für mich entsteht durch diese Doppelung eine interessante Intensität. Es ist, als ob sich die Figuren selbst dolmetschen, selbst erklären und noch kompetenter über sich selbst sprechen.
Das Deutsche stattet die Figuren mit einem besonderen, warmen Witz aus, zeichnet sie mit viel Liebe. In der Zeitschrift Übersetzen 01/2013 haben übrigens Lektorin Karen Nölle und der Übersetzer, ihr Lebensgefährte, über ihre enge Zusammenarbeit berichtet. Für mich ist es auch diese besondere Konstellation, die Liebe zwischen Lektorat und Übersetzung, die Vor ihren Augen sahen sie Gott auf Deutsch so liebens- und lesenwert macht.
19. März 2018 um 15:19
Danke, Ina, für diese tollen Anregungen. Und für die Beschreibung der besonderen Übersetzung von VOR IHREN AUGEN SAHEN SIE GOTT – eines der bewegendsten Bücher, die ich je gelesen habe.