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Ein Beitrag zur Debattenkultur in der Buchbranche

Drei Autorinnen – drei Bücher: Marion Voigt

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Hier kommen die nächsten Anregungen für die langen Winterabende. Die letzten Büchertipps in diesem Jahr stammen von Marion Voigt, die in den über zwanzig Jahren ihrer Mitgliedschaft nicht nur Regionalsprecherin war, sondern sich auch u. a. um die Webkoordination gekümmert hat.

 

Marion Voigt hat nach der Ausbildung zur Sortimentsbuchhändlerin Slawistik, Mittelalterliche und Osteuropäische Geschichte studiert; seit 1996 arbeitet sie als freie Lektorin, Texterin und Literaturagentin. Am Lesen liebt sie die »Konversation über Zeit und Raum hinweg«. www.folio-lektorat.de

© Günter Distler

 

Drei Autorinnen

 

Anna Achmatowa (1889–1966)

»Über Gedichte wusste ich von Jugend an alles, über Prosa wusste ich nie etwas.«

Das Gedicht »Im Traum« handelt von zwei Liebenden, die einander so fern sind wie zwei Berge. Anna Andrejewna Achmatowa hat es 1946 geschrieben, es trifft direkt ins Herz. Als Zeitgenossin der wichtigsten russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war sie eine Überlebende, eine, die sich zu oft trennen musste und zu viele Wegbegleiter durch Krieg und Terror verlor, darunter ihren engen Freund Ossip Mandelstam. »Und wer hätte geglaubt, daß ich für so lange gedacht war«, schrieb sie gegen Ende ihres Lebens ins Tagebuch.

Nahe Odessa geboren, wuchs Achmatowa bei St. Petersburg auf und kam weit herum. Ab 1912 veröffentlichte sie einige Lyrikbände, von 1922 an durfte sie nicht mehr publizieren, 1946 wurde sie aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Ihre Gedichte verbreiteten sich dennoch – abgeschrieben und auswendig gelernt.

»Anna von ganz Russland« (Marina Zwetajewa) lebte hochverehrt, aber verarmt an wechselnden Orten, angeblich nur mit einem Koffer voller Manuskripte unterwegs. Sie übersetzte Dante und Shakespeare ins Russische. Als ihr Hauptwerk gilt Poem ohne Held, das den Opfern der Belagerung Leningrads gewidmet ist. Im kommenden Jahr jährt sich der Geburtstag der großen Dichterin zum 130. Mal.

 

Madge Jenison (1874–1960)

»Bücher! Mache ich zu viel Aufhebens von ihnen? Sie klopfen an die Tür zur Zukunft.«

Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen, in den USA war es erstmals 1920 so weit. Eine, die sich dort schon früh für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte, war Madge Caroline Jenison. Aufgewachsen in Chicago, besuchte sie das College, arbeitete als Lehrerin und lebte später in New York City. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten und gründete 1916 mit einer Freundin die legendäre Buchhandlung Sunwise Turn am Rande der Eastside. Jenison war 1917 Gründungsmitglied der Women’s National Book Association. Aus der Buchhandlung wurde rasch ein kultureller Treffpunkt mit Lesungen und Kunstausstellungen, bald gab es die ersten eigenen Verlagspublikationen.

Über ihren Laden schrieb Jenison das Buch Sunwise Turn. Eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher, das ich vor Jahren entdeckte und auf Deutsch herausgeben konnte. Es inspiriert mich immer noch. Drei weitere Bücher hat Madge Jenison veröffentlicht, darunter Invitation to the Dance. Story of a Woman’s Life Through Three Husbands, a Fortune, and a Trip to Spain. Ich warte darauf, dass dies ebenfalls übersetzt wird.

 

Sigrid Undset (1882–1949)

»Die Ideale der Demokratien sind niemals Traumgebilde, sondern Ziele in sich selbst.«

Heuer hat es bekanntlich keinen Literaturnobelpreis gegeben, in den 117 Jahren davor erhielten 14 Frauen die Auszeichnung. Eine von ihnen war Sigrid Undset. Die norwegische Schriftstellerin wurde 1928 vor allem für ihre historischen Romane geehrt. Ihr berühmtestes Werk erzählt das Leben einer Frau um 1300: Kristin Lavranstochter (erschienen 1920 bis 1922; übersetzt von J. Sandmeier und S. Angermann). Meine kiloschwere Ausgabe trug ich klaglos auf einer Hüttentour im Rucksack, damit ich abends weiterlesen konnte.

Oft hat Sigrid Undset über starke Frauenfiguren geschrieben, außerdem verfasste sie kulturhistorische und literarische Essays. Sie selbst ging ebenfalls ihren eigenen Weg und scheute keine Provokation. Ihr erster Roman Frau Marta Oulie beginnt mit dem Eingeständnis eines Ehebruchs seitens der Erzählerin (1907), ein Skandal. Von Kritik ließ sie sich auch nicht abschrecken, als sie zum Katholizismus konvertierte und die Frauenfrage aus religiöser Sicht diskutierte. In den 1930er-Jahren kämpfte sie gegen die Nationalsozialisten und legte sich offen mit Knut Hamsun an. Sie musste fliehen und unterstützte aus dem Exil in den USA den politischen Widerstand in Norwegen, 1945 kehrte sie nach Lillehammer zurück.

Bis vor Kurzem schmückte Undsets Bild den 500-Kronen-Schein und ein Asteroid trägt den Namen dieser streitbaren Frau.

 

Drei Bücher

 

Salome Benidze: Die Stadt auf dem Wasser

Dieser Prosaband ist ein Nachklang der Buchmesse 2018 und ihres Gastlandes: Nicht nur die Autorin, sondern auch die Übersetzerin und die Illustratorin kommen aus Georgien. Und wie sich zeigt, passen hier Geschichten, Sprache und Gestaltung wunderbar zueinander.

Die Stadt auf dem Wasser beginnt mit einem Traum und endet mit dem Erwachen der Erzählerin. Dazwischen liegen sieben Kapitel über verschiedene Frauenfiguren und ihre Suche nach der großen Liebe. Scheinbar unverbunden treten die Protagonistinnen hervor, jede liebt und leidet auf ihre Weise: die Spinnenfrau, die Bäckerin, die Frau mit dem Orangenduft und andere. Nach und nach stellt sich heraus, dass in der »kleinen Stadt des Nordens« alles auf geheimnisvolle Art ineinanderfließt. Sinnbild dafür ist das Meer. Aus dessen Untiefen tauchen Mythen und Geister auf und als Überwinderin von Schwäche und Angst erweist sich schließlich die Wassergöttin Iurate.

Salome Benidze erzählt ohne Skrupel vor märchenhaften, fantastischen Wendungen. Dabei hält sie spielerisch die Balance und führt alle Fäden wieder zusammen.

 

Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen

Ein Loblied auf die Frauen. Es stammt aus der Feder einer Adligen, die vom Schreiben leben konnte und 1405 den Versuch unternahm, das frauenfeindliche Denken ihrer Zeit als üble Propaganda zu entlarven. Sie macht das geschickt, indem sie quer durch die Geschichte und die Literatur Beispiele für Frauen anführt, die nicht dem gängigen negativen Bild entsprechen, sondern als überaus tugendhaft und ehrenwert gelten.

Umrahmt ist die Sammlung von einer Vision der Erzählerin: Christine hadert mit ihrer Weiblichkeit, da erscheinen ihr drei weise Frauen, sie heißen Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. Christine bekommt von ihnen den Auftrag, ein Buch zu schreiben, wehrhaft wie eine ummauerte Stadt, auf soliden Fundamenten erbaut, mit prächtigen Häusern und vorbildlichen Bewohnerinnen. Ein »Ort der Zuflucht« soll die Stadt sein, »eine umfriedete Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer«.

Aus dem Zwiegespräch mit jeder der drei Frauen entsteht Stein um Stein, Geschichte um Geschichte ein Utopia, lange vor Thomas Morus’ Genreklassiker (1516). Nicht so lange dauerte es, bis diese seinerzeit berühmte Aufklärungsschrift in Vergessenheit geriet und stattdessen der Hexenwahn grassierte. Umso mehr lohnt sich die Lektüre dieses spätmittelalterlichen Werks, das Margarete Zimmermann erstmals ins Deutsche übersetzt und sorgfältig ediert hat.

 

Elisabeth Wehling: Politisches Framing

Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, so lautet der Untertitel dieses Buchs. Zugleich eine kleine Einführung in die Kognitionswissenschaft, stellt es in zwölf Kapiteln dar, wie gedankliche Deutungsrahmen, Frames, unseren demokratischen Diskurs bestimmen. Die Autorin führt aus, wie Sprache missbraucht wird, um zu manipulieren.

Ob es um Arbeit oder um Zuwanderung geht, Metaphern, genauer gesagt: konzeptuelle Metaphern, bilden das »semantische Zauberserum«, das abstrakte Ideen greifbar macht. Sie spiegeln Haltungen, Interessen, Werte wider, etwa wenn wir von der Nation als Boot oder Schiff sprechen. Wir denken in Kontexten und nutzen Schablonen, und das meist ohne unser bewusstes Zutun. Dass wir Frames aber brauchen, damit wir unsere eigene Sicht auf die Welt angemessen wiedergeben können, zeigt Elisabeth Wehling anhand von vielen Beispielen. Das ist spannend zu lesen und ergibt ungewohnte Perspektiven auf unsere Sprache. Denn »Worte sind nur die Spitze des Eisbergs«.

Autor: Doris Hermanns

Doris Hermanns lebt nach 25 Jahren als Antiquarin in Utrecht/Niederlande seit 2015 in Berlin, wo sie als Redakteurin, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin tätig ist. Seit 2000 ist sie in der Redaktion der Virginia Frauenbuchkritik, seit 2012 in der Redaktion des Online-Magazins AVIVA-Berlin. Zahlreiche Porträts von Frauen auf www.FemBio.org. Sie veröffentlichte u. a. die Biografie der Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe sowie deren Feuilletons. 2021 gab sie den Roman "Christian Voß und die Sterne" von Hertha von Gebhardt heraus, an deren Biografie sie arbeitet. Neueste Veröffentlichung: »Und alles ist hier fremd«. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil. Von 2016 bis 2020 war sie Städtesprecherin der BücherFrauen in Berlin. BücherFrau des Jahres 2021.

Ein Kommentar

  1. Vielen lieben Dank- immer wieder spannend, welch anregende Tipps hier zu bekommen sind.
    Liebe Grüße
    Heike

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