Auch wenn dieser Blog-Beitrag zur Frankfurter Buchmesse erscheint, auf der wieder unzählige neue Bücher vorgestellt werden, so lohnt sich ein Blick auf die Auswahl von Martha Wilhelm, die zwei Jahre lang Städtesprecherin der BücherFrauen in Hamburg war, doch sehr. Denn anders als in Frankfurt, wo im vorigen Jahr 70 % der vorgestellten Titel von Männern verfasst waren, sind es hier auf dem Blog wie immer 100 % Autorinnen.
Martha Wilhelm studierte Germanistik und Slavistik in Hamburg, absolvierte ein Verlagsvolontariat in Berlin und kehrte danach wieder an die Alster zurück. Hier machte sie sich selbstständig und arbeitet nun als Lektorin, Korrektorin und Autorin in den Bereichen illustriertes Sachbuch und Jugendbuch. Mehr Informationen gibt es auf ihrer Website (www.textwinkel.de). Sie freut sich über Austausch auf Facebook und Twitter. Auf dem BücherFrauen-Blog schreibt sie unter anderem die Kolumne #lesbar, in der sie am letzten Donnerstag jedes Monats interessante Online-Artikel empfiehlt.
Drei Autorinnen
Marion Zimmer Bradley (1930–1999)
Die Romane von Marion Zimmer Bradley habe ich zu Schulzeiten in der Bibliothek für mich entdeckt, als ich mich quer durch das Fantasy- und Science-Fiction-Regal gelesen habe. Ihre „Darkover“-Reihe, ein riesiges Universum mit über 20 Romanen, Kurzgeschichten, Anthologien etc., fesselte mich wegen der cleveren Verbindung zwischen klassischer Fantasy und Sci-Fi, aber vor allem wegen ihrer Diversität. Vor Bradley hatte ich keine Fantasy-Bücher mit queeren Charakteren gelesen und auf einmal waren sie überall: die lesbischen Paare im Gildenhaus der freien Amazonen, der bisexuelle Thronanwärter, das non-binäre Volk der Einheimischen auf Darkover … Ihre Welt war mit großer Selbstverständlichkeit bunt und vielfältig – etwas, was ich in heutiger Fantasy-Literatur (für Erwachsene) oft vermisse. Nicht alle von Bradleys Büchern haben mich überzeugt, aber sie haben mich als Leserin und Autorin geprägt und heute immer noch einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.
Meine erste Berührung mit Christa Wolf war ihre Erzählung Kassandra (1983), deren Anfang in meinem Deutsch-Lehrbuch für die Oberstufe abgedruckt war. Wir haben sie nicht im Unterricht behandelt, aber ich bin beim Durchblättern des Buchs darauf gestoßen und habe den Textausschnitt wegen meiner Liebe für das antike Griechenland und seine Mythen gelesen. Sofort war ich eingenommen von Wolfs selbstreflexivem Schreibstil und habe mir das Buch in der Buchhandlung bestellt. In den Jahren danach habe ich auch alle anderen Werke der DDR-Autorin verschlungen.
Neben Kassandra und Medea (1996), die mich beide auch wegen der besonderen Perspektive auf zwei mythische Frauengestalten interessiert haben, hat mich besonders Kindheitsmuster (1976) begeistert. Darin geht Wolf (autobiografisch geprägt) dem Aufwachsen eines Mädchens in der Zeit des Nationalsozialismus nach und versucht dieses Mädchen aus der Perspektive der erwachsenen, politisch ernüchterten Frau zu verstehen. Dieses Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnern, Vergessen und Erzählen, ist ein beliebtes Thema in Wolfs Werk. Ihr analytisches Kreisen um unbequeme Fragen und ihre Suche nach Selbsterkenntnis bringen mich immer wieder zu ihren Büchern zurück.
Carolin Emcke (geb. 1967)
Philosophin, Reporterin und scharfsinnige Kommentatorin der Gegenwart: So beschrieb mir eine Kollegin 2012 Carolin Emcke, von der ich bis dahin noch nichts gelesen hatte. Ich griff also mit hohen Erwartungen zum gerade erschienenen Wie wir begehren – und wurde nicht enttäuscht. Emcke beschäftigt sich darin mit der Entwicklung und Wandlung von Sexualität, ein schwer zu durchschauender Prozess, den sie anhand ihrer eigenen Biografie verfolgt und in die gesellschaftlichen Umstände einbettet. Ihre Art, mit Fragen und präzisen Beobachtungen Gefühle und Bedürfnisse zu analysieren, hat mich sehr beeindruckt. Auch in Gegen den Hass (2016), Emckes Appell für Pluralität und eine offene Gesellschaft, und in ihrer regelmäßigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung zeigt sie sich als humanistische Denkerin, die sich reflektiert für Demokratie und Menschenrechte einsetzt. 2016 hat Carolin Emcke den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, was mich sehr gefreut hat.
Drei Bücher
Ursula K. Le Guin: Der Magier der Erdsee
Als ich im Januar dieses Jahres erfahren habe, dass Ursula K. Le Guin verstorben ist, habe ich mein russisches Exemplar von Der Magier der Erdsee (A Wizard of Earthsea) aus dem Regal geholt. Dieses Buch habe ich als Kind oft gelesen, bevor ich es dann in Deutschland in deutscher Übersetzung und schließlich im englischen Original kennenlernte. Die russische Ausgabe bedeutet mir aber immer noch am meisten, denn sie beschwört meine frühe Faszination für die Geschichte des jungen Zauberers Ged herauf, der lernen muss, dass auch sein fleischgewordener Schatten ein Teil von ihm ist und dass das Gleichgewicht in der Natur wichtiger ist als persönliche Macht und Ehrgeiz. Noch heute entdecke ich neue Bedeutungsschichten, wenn ich mir das Buch wieder vornehme. Mit der Erdsee-Reihe, aber auch mit ihren anderen Werken schuf Le Guin Welten, die unsere Gesellschaft spiegeln und radikal für ihre Zeit waren. Ich arbeite mich stetig durch ihr Oeuvre vor, aber Der Magier der Erdsee wird immer das Buch meines Herzens bleiben – auch weil es mir schon früh gezeigt hat, dass Fantasy- und Science-Fiction-Titel philosophisch, gesellschaftskritisch und bedeutungsvoll sein können. Umso mehr freue ich mich, dass die Frankfurter Buchmesse dieses Jahr eine Science-Fiction-Lounge mit dem Namen Think Ursula ins Leben gerufen hat, um im Gedenken an diese vielseitige Autorin über Science-Fiction als relevantes literarisches Genre zu reden.
Juli Zeh: Treideln
„Das, was man Roman nennt, stößt einem zu.“ Sätze wie dieser machen für mich den Reiz dieses Buchs von Juli Zeh aus. In Form von fiktiven Briefen gewährt sie hier auf unterhaltsame Weise einen Einblick in das Entstehen eines Romans – treffend und witzig formuliert, aber gleichzeitig voller kluger Einsichten über das Schreiben, Lesen und Rezipieren von Literatur. Normalerweise hinterlasse ich in Büchern keine Markierungen oder Anmerkungen, aber bei dem hier finde ich beim Durchblättern viele unterstrichene Textstellen. Darin beschäftigt sich Zeh zum Beispiel mit dem Unding Literaturinterpretation im Deutschunterricht und der Peinlichkeit des Schreibens (und des Menschseins). Ich muss über ihre Vergleiche lachen und finde gleichzeitig vieles von meinen eigenen Schreiberfahrungen in ihrem Text wieder. Das Buch entstand als Ergebnis von Zehs Poetikvorlesung an der Frankfurter Goethe-Universität – eine „Anti-Poetologie“, wie sie es nennt, die mich aber weiter gebracht hat als alle regulären Schreibratgeber zusammen.
Nnedi Okorafor: Binti
Das Erste, was ich von Nnedi Okorafor gelesen habe, war Wer fürchtet den Tod (Who Fears Death, 2010), ein bildgewaltiger Fantasy-Roman, der in einem postapokalyptischen Afrika spielt. Das war meine erste Berührung mit dem Genre Afrofuturismus. Auch in ihren drei Binti-Novellen (vor kurzem erst als Sammelband auf Deutsch erschienen) verbindet die nigerianisch-amerikanische Autorin Science-Fiction mit afrikanischen Kulturen. Die titelgebende Protagonistin erschließt immer wieder neue Horizonte – als Erste ihres Volkes im Weltraum, als Vermittlerin zwischen den Menschen und einer feindlichen Alien-Rasse, als Friedensstifterin in einem blutigen Konflikt auf der Erde. Okorafors Welt ist fantastisch und originell, ein Genuss für jeden Science-Fiction-Fan. Aber darüber hinaus hat mich an diesen Novellen Bintis Reise zu sich selbst gefesselt, eine niemals endende Erforschung ihrer Herkunft, ihrer Zukunft und ihrer Identität. Wo die Geschichte sich schnell in der reinen Faszination mit Aliens und fremden Technologien erschöpfen könnte, verleiht Okorafor ihr eine menschliche Tiefe und Aufrichtigkeit, die mich sehr beeindruckt hat. Ihre Art zu erzählen zeigt wieder einmal, wie viel die moderne Science-Fiction als Reflexion der Gegenwart zu bieten hat.
Copyright der Fotos: Martha Wilhelm