Sicher brauchen einige jetzt im Sommer noch Anregungen, welche Bücher sie im Urlaub lesen könnten. Die heutige Auswahl stammt von der literarischen Agentin Silke Weniger, auch bekannt von der edition fünf.

© Sabine Klem
Silke Weniger hat nach einer Ausbildung zur Fremdspachensekretärin in München Kommunikationswissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Soziologie studiert. Während des Studiums arbeitete sie als Sekretärin, u. a. bei Agence Hoffman. Nach dem Studium arbeitete sie ein Jahr in der Pariser Filiale der Agence Hoffman, danach viele Jahre in Lizenzabteilungen Münchner Verlage und im Münchner Büro der Agence Hoffman. 1999 absolvierte sie eine Hospitanz in der Agentur Sterling Lord Literistics in New York. Danach übernahm sie die Literarische Agentur Brigitte Axster und gründete in München die Literarische Agentur Silke Weniger. 2010 gründete sie den Verlag edition fünf, der sich auf die (Wieder-)Entdeckung von internationaler Literatur aus weiblicher Hand spezialisiert hat. www.litag.de, www.editionfuenf.de
3 Autorinnen
Madeleine Bourdouxhe (1906–1996)
Madeleine Bourdouxhe war Belgierin, die sich im Zweiten Weltkrieg in Brüssel der Résistance anschloss. Sie gehörte zum literarischen Kreis um Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Beauvoir erwähnte Bourdouxhe in Das andere Geschlecht und lobt ihre subtile Beschreibung der Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Sexualität. Nach anfänglichen Erfolgen geriet Bourdouxhe‘ Werk durch den Krieg in Vergessenheit. Als 1940 die Deutschen die Belgier überfielen, floh die Autorin mit ihrer gerade geborenen Tochter nach Frankreich. Die Intensität dieser hochgefährlichen Flucht hat Bourdouxhe in der kunstvollen Erzählung Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine (deutsch von Sabine Schwenk) meisterhaft verarbeitet.
Später kehrte sie ins besetzte Belgien zurück. Sie schloss sich der Résistance an. Den Widerstand gegen die Deutschen bezeichnete sie als die wichtigste Arbeit ihres Lebens. 1937 erschien La Femme de Gilles im Pariser Verlag Gallimard. Doch erst mit der Wiederveröffentlichung 1985 bei Gallimard wurde sie berühmt und zählt heute zu den wichtigsten Autorinnen französischer Sprache. 1996 brachte der Piper Verlag ihren ersten Roman Gilles‘ Frau in der Übersetzung von Monika Schlitzer heraus.
Gilles‘ Frau handelt von einer ménage á trois im belgischen Arbeitermilieu. Elisa liebt ihren Mann Gilles zutiefst. Die Tatsache, dass er mit ihrer Schwester Victorine schläft, nimmt sie hin. Elisa wertet ihre Toleranz als Zeichen ihrer Liebe. Als Victorine sich von Gilles trennt, leidet Elisa mit ihm. Sie wird seine Verbündete im Schmerz. Als sie erkennt, dass Gilles weiterhin verliebt in Victorine ist, ist sie vor Unglück wie gelähmt, und doch spendet sie Trost und Mitleid. Am Ende verkündet Gilles, dass seine Gefühle für Victorine und alles im Leben erkaltet sind. Elisa verliert den Boden unter ihren Füßen und nimmt sich das Leben.
Um dem Eindruck zu begegnen, sie würde nur über unglückliche Frauen schreiben, schrieb Bourdouxhe A la Recherche de Marie. Der Roman erschien 1943 im kleinen belgischen Verlag Editions Libris in Brüssel (1998 unter dem Titel Auf der Suche nach Marie bei Piper in der Übersetzung von Monika Schlitzer, 2013 Neuausgabe bei edition fünf). Eine junge, verheiratete Frau in Paris verliebt sich in einen jüngeren Mann. Sie genießt ihre Sinnlichkeit und denkt nicht daran, ihren Mann zu verlassen. Diese Kühnheit, über sinnliches Erleben und selbstbestimmtes Handeln einer Frau zu schreiben, ist angesichts der Entstehungszeit bemerkenswert. Anders als in Gilles Frau wird das Handeln der Heldin von Optimismus und Energie bestimmt, bemerkt die englische Übersetzerin Faith Evans in ihrem Nachwort.
Auf der Suche nach Marie ist ein bald 80 Jahre alter Liebesroman, der ohne Kitsch und Klischees von einer modernen, selbstbestimmten Frau erzählt.
Lucia Berlin (1936–2004)
Die US-amerikanische Schriftstellerin Lucia Berlin wurde erst gewürdigt, als sie elf Jahre tot war. Eine posthume Bestsellerautorin, die zu ihren Lebzeiten in kleinen Verlagen veröffentlichte. Ein Roman ist verschollen, einen anderen hat sie verbrannt. Sie hatte vier Söhne von drei Ehemännern, zog sie allein groß, arbeitete als Krankenschwester, Telefonistin, Putzfrau, Lehrerin und erst sehr spät erhielt sie einen Lehrauftrag an einer Universität. Sie war Alkoholikerin. Seit ihrer Kindheit litt sie unter einer Skoliose. Mehrere ihrer Geschichten spielen in Krankenhäusern und handeln von Kindern in Metallkorsetts.
2016 erschien auf deutsch Lucia Berlins Geschichtensammlung Was ich sonst noch verpasst habe. Storys„, übersetzt und mit einem Vorwort von Antje Rávic Strubel.
2017 folgte Was wirst du tun, wenn du gehst. Stories, ebenfalls übersetzt und mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel.
Es sind „Stories“, aber die Geschichten hängen miteinander zusammen. Orte wechseln, Figuren tauchen in anderen Geschichten wieder auf.
Ich empfehle, „Stories“ in einem Rutsch durchzulesen. Von der Schwester, die bald an Krebs sterben wird. Von dem Mann, der die Erzählerin in eine Welt zurückführt, die sie an ihre Kindheit erinnert. Von dem altersungleichen Paar (er jung, sie älter), das sich tapfer liebt, gegen alle Widerstände. Beide trinken, sie ist wegen Mordversuchs an einem Polizisten angeklagt. Sie wird freigesprochen, und am Ende der Geschichte gehen sie im strömenden Regen davon, „beide absichtsvoll in Pfützen stapfend, einander zärtlich anrempelnd.“ Überhaupt die Liebe – immer wieder spielt sie eine große Rolle, sie kommt und geht und ist doch bei Lucia Berlin immer tröstlich.
Lucia Berlin schreibt gleichzeitig lakonisch und gefühlvoll, im besten Sinne des Wortes. Jede Geschichte enthält die ganze Welt und ist unendlich berührend. Eine wunderbare späte Entdeckung.
Im Kampa Verlag erscheinen 2019 Welcome Home. Erinnerungen, Bilder und Briefe, herausgegeben von Jeff Berlin, dem Sohn der Autorin, sowie Abend im Paradies. Storys, beide übersetzt von Antje Rávic Strubel.
Dörte Hansen (geb. 1964)
Dörte Hansen ist kein Geheimtipp. Ihr erster Roman Altes Land erschien 2015 und besetzte monatelang die Bestsellerlisten. Ihr zweiter Roman Mittagsstunde erschien 2018 und rangiert seitdem ununterbrochen unter den ersten fünf der Spiegel-Bestsellerliste.
Dörte Hansen wuchs in Nordfriesland auf. Zuhause wurde Plattdeutsch gesprochen, hochdeutsch lernte sie erst in der Schule. Sie studierte Linguistik in Kiel und promovierte in Hamburg über kleine Sprachen. Sie hat viele Jahre als Journalistin für Hörfunk und Zeitschriften gearbeitet.
Ich habe Altes Land gelesen, weil es mir geschenkt wurde. Seit einigen Jahren boomen Bücher mit Früchten, Pflanzen und Vögeln auf dem Cover. Sie suggerieren Zugehörigkeit; Haus und Garten, Heimat, Idylle. Von daher war ich skeptisch – und war überrascht, wie gut mir der Roman gefiel.
Die Verschränkung der Geschichte von Vera, die als Kind mit ihrer Mutter aus Ostpreußen ins Dorf kam und dort immer eine Fremde blieb, mit der modernen Art von Verlorenheit von Anne, dem allein erziehenden Großstadtkind, hat mich tatsächlich berührt. Dazu die Szenerie im Alten Land vor den Toren Hamburgs, in der die Obstbauern noch immer den Ton angeben, auch wenn Stadtflüchter sich breit machen. Widersprüchliche Merkwürdigkeiten der modernen Gesellschaft ohne anklagenden Ton, seltsame Charaktere, die nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden – das hat mir gefallen. Dass am Ende aus den vor Einsamkeit verhärteten Frauen so etwas wie Familie wird, liest frau gerne wie ein modernes Märchen.
Der zweite Roman Mittagsstunde spielt wieder im ländlichen Norddeutschland und hat mit der Dorfidylle nichts zu tun. Am Leben des Archäologie-Dozenten Ingwer Feddersen entlang beschreibt die Autorin den kulturellen Wandel in einem fiktiven nordfriesischen Ort seit den sechziger Jahren. Ingwer wächst in „Brinkebüll“ als Enkel des Gastwirt-Ehepaars auf. Seine Mutter Marret hat ihn in sehr jungen Jahren zur Welt gebracht – wenige Monate nachdem die ersten Ingenieure und Landvermesser in das Dorf kamen. Mittagsstunde schildert den Einbruch der Moderne im ländlichen Raum. Die den Bewohnern heilige Mittagsruhe zieht sich als Motiv durch das Geschehen – und ist am Ende das letzte Überbleibsel Brinkebüller Lebensart.
Dörte Hansen hat einen modernen Heimatroman ohne jegliche Sentimentalität geschrieben. Das gelingt durch ihre unbedingte Zuneigung zu den oft skurrilen Figuren, die sie mit Humor und echtem Mitgefühl beschreibt, und nicht zuletzt durch ihre knappe, lakonische Sprache.
Drei Bücher
Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann. Eine Biographie in Bruchstücken
Ina Hartwig, Literaturwissenschaftlerin und Frankfurter Kulturdezernentin, hat eine Biographie in Bruchstücken geschrieben. Sie mäandert mal hierhin, mal dorthin, führt Gespräche mit Wegbegleiter*innen (u. a. mit Hans Magnus Enzensberger, Klaus Wagenbach, Martin Walser, Günter Herburger, Peter Härtling, Marianne Frisch – und dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger). Ina Hartwig lässt sich von den Gesprächen treiben und nicht von der zeitlichen Chronologie. Ich folge ihr gerne auf diesem essayistischen Weg, der nicht zum Ziel hat, den vielen Würdigungen von Bachmanns Werk eine weitere hinzuzufügen. Hartwig nähert sich der Dichterin mehr journalistisch als literaturwissenschaftlich, mit subjektivem Interesse, aber nüchternem Blick und zeichnet nebenbei ein Stimmungsbild der 1950er bis 1970er Jahre.
Ina Hartwig hebt Ingeborg Bachmann von ihrem Sockel, ohne sie zu beschädigen, sie gibt sie nicht preis, sie urteilt nicht. Sie bringt auf diese Weise die Person Ingeborg Bachmann den Leserinnen wirklich nahe.
Ingeborg Bachmann war eine starke, emanzipierte, politisch wache Frau in den miefigen Fünfziger- und Sechzigerjahren, nicht nur die „Schmerzensreiche“, als die ich sie immer gesehen habe. Ihr Freiheitsdrang war grenzenlos. Sie übertrat Konventionen, trank viel Alkohol, war beruhigungsmittelsüchtig. Einen Tag vor der Abreise zu einer Entziehungskur erlitt sie in ihrer römischen Wohnung schwere Brandverletzungen. Aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von Beruhigungsmitteln starb sie am 17. Oktober 1973 mit 47 Jahren an den Folgen der Verbrennungen in Kombination mit schweren Entzugserscheinungen.
Die US-Amerikanerin Nell Zink lebt seit 2000 in Deutschland und hat in Tübingen promoviert. Seit 2013 lebt sie in der brandenburgischen Kleinstadt Bad Belzig. Erst mit über fünfzig wurde sie entdeckt – und berühmt.
Seit ihrer Kindheit beschäftigt sich Zink mit Naturschutz. Sie schrieb eine Gegendarstellung zu einem Artikel über Zugvögel im Mittelmeer, den Jonathan Franzen im New Yorker veröffentlicht hatte. Daraus entwickelte sich eine Korrespondenz, und Franzen drängte sie, selbst zu veröffentlichen. Innerhalb weniger Wochen schrieb Zink ihren Debütroman The Wallcreeper (Der Mauerläufer, übersetzt von Thomas Überhoff). Das Buch erschien in einem Kleinstverlag und schaffte es 2014 auf die Liste der „100 notable books of 2014“ der New York Times. Ihr zweiter Roman Mislaid (Virginia, übersetzt von Michael Kellner) stand 2015 auf der Longlist des National Book Award. Ihr dritter Roman Nicotine erschien 2018 auf deutsch unter dem Titel Nikotin in der Übersetzung von Michael Kellner.
Nikotin ist ein Familienroman der besonderen Art. Es geht um Erbstreitigkeiten, Rauchen, Hausbesetzungen, Liebe und Sex. Mit unglaublich schrägem Humor nimmt die Autorin die linksliberale Szene in den USA aufs Korn. Schreiend komische Dialoge, besonders in den Sexszenen. Die Leserin muss am Ball bleiben, um die vielen Beziehungen zu durchschauen.
Die Geschichte beginnt bedrückend. Penny Baker begleitet ihren Vater Norm beim Sterben. Dem Todkranken werden Schmerzmittel verweigert, sie könnten seine Leber schädigen und seinen Tod beschleunigen. In Amerika wird gesund gestorben. Penny ist nach dem College arbeitslos, und die Familie beschließt, dass sie sich um das Elternhaus ihres Vaters in Jersey City kümmern soll. Das Haus ist besetzt von rauchenden Menschen, anarchistisch, links und alternativ. Eigentlich soll Penny die Besetzer*innen vertreiben, solidarisiert sich aber mit ihnen. Sie verliebt sich in Rob, der behauptet, asexuell zu sein.
Nell Zink wurde kürzlich der deutschen Fernsehöffentlichkeit präsentiert. Am 2. Juni 2019 interviewte Dennis Scheck sie für seine Sendung Druckfrisch zu ihrem zweiten Roman. Dabei hätte sie diese Beachtung schon für Nikotin verdient.
Lotte Bromberg: Fallsucht. Der andere Berlinkrimi
Wer sich auf die Suche nach Informationen über die Autorin macht, landet schnell auf der Homepage des Memel Verlags, der nur Bücher von Lotte Bromberg verlegt. Die Autorinnenvita verbirgt mehr über die Autorin hinter dem Pseudonym Lotte Bromberg, als sie verrät. Eine Rezension in der Zeitschrift Virginia Frauenbuchkritik hat mich auf Fallsucht neugierig gemacht.
Fallsucht ist spannend und überraschend. Es gibt herrlich exzentrische Figuren und wunderbare starke Frauen.
Hauptkommissar Jakob Hagedorn sieht Geister. Sie bitten ihn um Hilfe. Er soll ihre Mörder finden, damit ihre Geschichte zu Ende erzählt werden kann. Seine Kollegen machen sich über ihn lustig und meiden ihn. Hinzu kommt, dass er einen von ihnen verraten hat. Bei der Berliner Polizei werden eher Mörder als Verräter in Kauf genommen. Damit er keinen weiteren Schaden anrichten kann, wird er auf einen uralten Fall angesetzt. Die Tote, eine Professorengattin, wartet schon ein Jahr im Kühlhaus darauf, dass sich jemand um sie kümmert. Reichlich spät, aber Narben vergehen nicht, wenigstens nicht im Kühlhaus, und Narben hat sie viele.
Jakob und sein Kollege gehen an einem kalten Februarmorgen in die Charité, weil eine Ärztin namens Hanna Amok läuft. Sie hat einer alten Frau, die sterben wollte und zwangsoperiert wurde, die Geräte vom Leib gerissen. Die alte Frau, ihr kleiner Spatz, sollte sterben dürfen. Die einen nennen es Amoklauf, Hanna nennt es Rettung. Jakob und Hanna verlieben sich ineinander. Gemeinsam mit Freundinnen gehen sie einer Mordserie nach.
Lotte Bromberg geht es ohne Zweifel um Gerechtigkeit. Bei allem moralischen Anspruch: Brombergs skurriler Humor und ihre wunderbaren Charaktere machen diesen Krimi zu einem besonderen Lesevergnügen – nicht zuletzt wegen Jakob Hagedorn, den frau unbedingt kennenlernen möchte.
Fotos: Anne Kästner