Auch in diesem Monat bekommen wir wieder spannende Lesetipps für den anstehenden Urlaub oder für diejenigen, die ihn schon hinter sich haben, für Zuhause: von wunderbaren Kinderbüchern bis hin zu ernsthaften Romanen, eine wunderbare Mischung. Diemal von Vera Seehausen von der Geschäftsstelle der BücherFrauen in Berlin.
Vera Seehausen betreibt zusammen mit Annette Sandberg ein Organisationsbüro für Vereine und Institutionen mit „Rundum-Service“ (Organisation des Vereinsalltags, Finanzenverwaltung, Buchprojekte) – auch für die BücherFrauen. Sie ist außerdem am medizinhistorischen Institut der Charité Berlin für den Bereich Archiv und Datenbanken zuständig.
Nachdem in dieser Rubrik schon so viele fabelhafte Autorinnen und Bücher präsentiert wurden wie Siri Hustvedt, Audre Lorde, Astrid Lindgren, Dorothy Parker oder Toni Morrison, lasse ich meinen Blick mehrmals durch mein inneres Bücherregal schweifen, greife in das echte Bücherregal, lese mich hier und da fest und lande dann bei dieser Auswahl an Schriftstellerinnen, die einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen haben.
Drei Autorinnen
Franziska zu Reventlow (1871–1918)
Franziska (eigentlich: Fanny) Gräfin zu Reventlow ist im Grunde eine Schriftstellerin wider Willen: Als sie 1895 aus der norddeutschen Heimat nach München zieht, um dort Malerei zu studieren, weiß sie noch nicht, dass sie mit dieser Kunst kein Geld verdienen wird. In ihrem autobiografischen Roman-Debüt Ellen Olestjerne (1903) beschreibt sie diesen Aufbruch in ein ungebundenes, von Geldnöten geprägtes Boheme-Leben, das sie auf vielerlei Weise finanziert, u. a. mit kleinen Bühnenrollen, als Übersetzerin, aber auch mithilfe betuchter Verehrer. Neben scharfzüngigen Essays u. a. für den Simplicissimus verfasst Reventlow Romane und Novellen, in denen sie sich gern (selbst-)ironisch z. B. über ihre Schwabinger Boheme-Kollegen lustig macht, wie in Herrn Dames Aufzeichnungen Oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913). Nicht nur hier wählt Reventlow einen dialogischen Plauderton, in dem sie den Gang der Ereignisse schildert. Auch in Von Paul zu Pedro (1912) – eine schöne Printausgabe hiervon ist bei ebersbach & simon lieferbar – malt die Protagonistin ihre „Amouresken“ und eine bunte Typologie an wechselnden Liebhabern mit Witz und Charme in allen Facetten aus. Und sie erteilt ihrem Berufsstand eine Absage: „es hat soviel peinlichen Beigeschmack – eine schreibende Frau – schrecklich. Denken Sie nur, alle Leute, die man nicht kennt, taxieren einen auf geistige Interessen und dergleichen.“ Ob hier aber die Autorin oder die Figur spricht, das ist bei Reventlow nicht so leicht auseinanderzuhalten. Das gilt auch für den Roman Der Geldkomplex (1916), der die damalige Psychoanalyse als Modeerscheinung aufs Korn nimmt. Die notorisch klamme Protagonistin flieht vor ihren Gläubigern in ein Sanatorium für Nervenkranke, simuliert Symptome einer „fixen Idee“ und zerrüttete Nerven, wartet aber in Wahrheit auf eine rettende Erbschaft, deren Auszahlung sich von Monat zu Monat verzögert. Sie diagnostiziert sich selbst: „ausschließlich Gläubiger, Hausherren und Lieferanten haben es dahin gebracht, mich psychisch zu zerrütten. […] Ich habe nur einen ‚Geldkomplex‘.“ Unter den Patienten findet sie weitere Mitstreiter aus der Finanzmisere, die ebenfalls lieber über Aktiengeschäfte, gewinnträchtige Leibrenten und Investitionen fachsimpeln als sich ihren Bäderkuren für Neurosen oder Psychosen zu unterwerfen. Schlussendlich landet die ganze Truppe in einem Spielcasino, verliert die ererbten Gelder aber nicht dort, sondern auf ganz andere Weise …
Lakonisch, witzig, temporeich entwickelt Reventlow ihre eigenwilligen Frauenfiguren und Plots, immer gegen den Strich gebürstet, Konventionen aus tiefstem Herzen abgeneigt. Ganz so unbekümmert, wie es scheint, hat sie ihr Leben allerdings nicht gemeistert, wie sich so manchen Tagebuchnotizen entnehmen lässt, aus denen die Verzweiflung einer alleinerziehenden Mutter und die Sorge um ihren Sohn Rolf spricht.
„Die Gräfin“ – leider keine Freundin der Frauenbewegung ihrer Zeit – bleibt mit ihrem ungebundenen, unsteten Lebensentwurf eine schillernde Figur und Ausnahmeerscheinung ihrer Zeit.
Ágota Kristóf (1935–2011)
Die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin Ágota Kristóf schrieb in einer „Feindessprache“, wie sie einmal sagte: Französisch ist die Sprache ihres Exillandes Schweiz, die sie sich erst aneignen muss. Ihre Erzählungen sind geprägt von ihrem Herkunftsland Ungarn, aus dem sie 1956 mit ihrer Familie floh. Der erste Band einer Trilogie (übersetzt von Eva Moldenhauer bzw. Erika Tophoven), die sich um die Zwillingsbrüder Claus und Lucas dreht, ist angesiedelt in einem nicht näher benannten Land, das sich in einem nicht näher erklärten Kriegszustand befindet. Gewalt und Verrohung durchziehen auch das Leben des Brüderpaares, die „aus der großen Stadt“ kommend bei ihrer Großmutter abgeladen werden. Diese erweist sich als „Hexe“, die den Kindern das „Überleben“ um jeden Preis und mit all seinen Grausamkeiten beibringt. Das große Heft (1986) bleibt völlig in der Perspektive der Kinder, und das macht die Lektüre umso beklemmender, weil deren Situation schier ausweglos erscheint. Innere und äußere Verwahrlosung prägt ihr Dasein. Eigentlich kaum vorstellbar, dass sie die beiden Folgebände noch erleben … Im ersten Band noch namenlos, erhalten die Brüder dann in Der Beweis ihre Namen, wobei sich die Geschichte ganz auf Lucas, den im Haus der Großmutter verbliebenen Zwilling, konzentriert. Er versucht sich ein normales Leben aufzubauen, kann aber seiner Einsamkeit nicht wirklich entkommen. Und er sucht seinen Bruder Claus, den er dann Jahrzehnte später in Band 3, Die dritte Lüge, glaubt aufgespürt zu haben. Aber der Mann leugnet, sein Bruder zu sein – und in diesem Vexierspiel vermutet die Leserin schnell einen noch tieferen Abgrund als den schon bekannten, der die beiden auseinandergetrieben haben könnte.
Dass diese menschlichen Zerrüttungen auch im politischen System des stalinistischen Ungarn begründet sind, lassen die Romane und Erzählungen der Autorin erahnen. Einsamkeit, Gefühl- und Bindungslosigkeit scheint den Figuren Kristofs anzuhaften, selbst wenn sie sich ins Exil retten konnten. In knappster Form erzählt sie von Gewalt und Schrecken, oft nebenbei, mit nur wenigen Worten. „Karg“ und „dicht“ sind wohl die häufigsten Adjektive, mit denen ihre Sprachkunst beschrieben wird. Und eben wegen dieser Kunst ist sie so lesenswert – trotz der heftigen Stoffe.
Auf meinem Lesezettel steht noch Kristófs Autobiografie „Die Analphabetin“ – mit ganzen 80 Seiten Umfang. Das sollte gerade der männlichen Schriftstellerriege mal auf die Agenda geschrieben werden.
Pamela Lynwood Travers (1899–1996)
Ursprünglich wollte ich mich zu Enid Blyton bekennen, die mir lebenswichtige Kenntnisse in der Organisation von Mitternachtspartys (Hanni und Nanni), der Behandlung von Pferdekoliken (Dolly) und eine vorwitzige Heldin und Anführerin der Fünf Freunde-Bande namens Georgina, genannt Georg, beschert hat. Aber eindrücklicher war doch die Lektüre der Mary Poppins-Bände, die ich mehrfach verschlungen habe.
Die stets adrett gekleidete, strenge Gouvernante bringt Struktur in die ganze Familie Banks, nicht nur in die Erziehung der beiden Kinder Jane und Michael. Neben ihrer Funktion als Kindermädchen entführt sie ihre Schützlinge in ganz andere Welten: über die Dächer Londons tanzend oder in die Kreidezeichnungen der Straßenmaler und die darin erzählten Geschichten springend. Mit Mary Poppins entdecken Jane und Michael hinter dem Alltäglichen und Altbekannten eine Welt des Wunderbaren, gefüllt mit skurrilen Figuren, deren Leben beispielsweise nur kopfüber stattfindet (was das Teeeinschenken zu einer Herausforderung werden lässt). Ausschließlich Mary Poppins kann nahezu alles auf den Kopf stellen: Selbst die Bank, in der Mr. Banks arbeitet, ist vor einer kleinen Revolte nicht gefeit, die darin mündet, dass alle Banker lieber Drachen steigen lassen, als hinter ihren Schaltern zu sitzen. Nur weil Michael sich weigert, seinen hart ersparten Groschen anzulegen … der Auslöser einer echten Finanzkrise. Mary Poppins ist also eine echte Wundertüte an Überraschungen: Sie spricht mit dem Papageienkopf ihres Regenschirms, schwebt elegant am selbigen den Kirschbaumweg 17 herab, trägt unter dem schwarzen Kleid einen lila Unterrock und rote Schuhe (nur sichtbar während des Schwebens, wenn ich mich richtig erinnere). Sie kann Unmengen von Gegenständen in ihrer Handtasche verschwinden lassen und räumt mit reinem Fingerschnipsen in Nullkommanichts das Kinderzimmer auf – bis heute beneidenswert.
Sie und ihr Kompagnon und Bewunderer Bert vermitteln nonchalant Lebensweisheiten und wissen um andere Ebenen hinter der Alltagswirklichkeit – so wie auch Mary Poppins eben nicht nur die strenge Aufpasserin ist.
P.L. Travers (eigentlich: Helen Lyndon Goff) wuchs in Australien auf und wanderte später nach England aus, wo sie als Schriftstellerin, aber auch als Tänzerin und Schauspielerin arbeitete. Berühmt wurde sie mit der Mary Poppins-Reihe, deren erster Band 1934 erschien. Spannend dürfte auch der bislang nicht übersetzte Roman I Go By Sea, I Go By Land (1941) sein, der von der Verschickung britischer Kinder während der Luftangriffe auf London handelt. Hier sollen Travers‘ Erfahrungen aus ihrer Tätigkeit für das britische Informationsministerium während des 2. Weltkrieges eingeflossen sein. Vielleicht lese ich jetzt doch das Original …
Soazig Aaron: Klaras NEIN. Eine Tagebuch-Erzählung
Eigentlich sollte hier an erster Stelle Menschen im Krieg von Marge Piercy stehen. Nachdem ich aber dummerweise die Rezension von Heike Herrberg hier im Blog gelesen habe, kann ich nun keine besseren Worte finden. „Klaras NEIN“ knüpft aber quasi an einen von Piercys Handlungssträngen (Jacqueline) an und erzählt von der Rückkehr Klaras aus dem KZ Auschwitz, vielmehr: aus Oswiecim. Denn Klara, eine aus Frankreich deportierte deutsche „Halbjüdin“ (nach der NS-Klassifikation), verweigert sich der Muttersprache. Ein weiteres NEIN spricht sie gegen ihre kleine Tochter aus, der sie nicht begegnen will. Damit schockiert sie ihre alte Freundin Lika, die sie in einem als Auffanglager für Displaced Persons dienenden Hotel in Paris aufgespürt und mit zu sich nach Hause genommen hat. Likas Tagebuch zeichnet die Annäherung an eine völlig veränderte Klara nach, die nur bruchstückhaft von ihrem Überleben im KZ berichtet, auch von ihrer monatelangen Rückfahrt von Polen – mit einem bedeutsamen Zwischenstopp in Berlin – nach Paris, wo sie nach ihren früheren Freunden Ausschau hält. In ihren Aufzeichnungen rekonstruiert Lika ihre gemeinsame Vergangenheit und vor allem die Geschehnisse nach Klaras Deportation – all das, was Klara selbst nicht erfragt. Oder gar nicht erfragen darf, um nicht von ihrem Entschluss abzuweichen, ihr früheres Leben, ihre Identität – oder was davon noch übrig ist – und überhaupt Europa, den „Ort meiner Verödung“, hinter sich zu lassen. Aaron gelingt es, ihrer Erzählerin Lika eine eigene Stimme zu geben, um die Perspektive der Zurückgebliebenen zu schildern. Zugleich schafft es Lika, auch die Stimme ihrer Freundin einzufangen – inklusive der langen Momente des Schweigens.
Klaras NEIN wurde bei Erscheinen – in deutscher Übersetzung von Grete Osterwald bei der Friedenauer Presse – heiß diskutiert. Kann bzw. darf eine „Nicht-Zeitzeugin“ und eine „Nicht-Jüdin“ eine fiktive Geschichte über den Holocaust erzählen? Jorge Semprun beantwortet die Frage in seinem Vorwort mit einem unbedingten JA.
Leslie Feinberg: Träume in den erwachenden Morgen (Stone Butch Blues)
Leslie Feinberg erzählt in ihrem „Stonewall-Roman“ die Geschichte der aus Buffalo stammenden Jess Goldberg und ihrer Selbstfindung und Selbstbehauptung zwischen den Geschlechtern. Als Mann lebend, als Lesbe liebend, muss sich Jess immer wieder den Anfeindungen der Gesellschaft und der Brutalität der Polizei erwehren, die bei Razzien im New Yorker Sub der 1970er Jahre die ihr „suspekt“ erscheinenden Clubgänger*innen in Gewahrsam nimmt und in den Gefängniszellen misshandelt. Neben Schwarzen und Prostituierten sind es die Butches – auch „B-Girls“ genannt –, Dragqueens und Kings, für die diese Polizei- und Straßengewalt alltäglich ist. In diesem Umfeld sucht Jess ihren Platz und kämpft mit ihren Freundinnen um Respekt und Gerechtigkeit (übrigens auch als Aktivistin in der Arbeiterbewegung). Die gemeinsame Erfahrung von Verachtung und manchmal tödlich endendem Hass, das (Über-)Leben mit und in der Gemeinschaft beschreibt Feinberg ganz berührend und mit einem präzisen Blick für die Auswirkungen von permanenter Demütigung und Ausgrenzung. Allein die Szene, in der die „alten Butches“, üblicherweise nur in Arbeitshose oder Anzug unterwegs, sich notgedrungen in Kleider zwängen, um an der Beerdigung einer ihrer Freundinnen teilnehmen zu können … auch gegen solche Formen der Verstellung rebelliert Jess. Für Feinbergs Protagonistinnen stellt sich jeden Tag wieder neu die Frage, wie sie ihr Anderssein leben wollen – und können: „Ich habe überlebt. Und nicht nur ich allein.“ So endet Feinbergs Danksagung am Schluss des Buches, das auch ein starker Roman über Freundschaft ist.
Dem Verlag Krug & Schadenberg ist es zu verdanken, dass es dieses wunderbare Buch (in der Übersetzung von Claudia Brusdeylins) 1996 nach Deutschland geschafft hat – und seitdem lieferbar ist.
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann
Lekys Roman war das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler und Buchhändlerinnen 2017 – und meines in den letzten Wochen. Eigentlich ist darüber schon alles gesagt: über die eingeschworene Dorfwelt im Westerwald, in der Luise – behütet von ihrer Großmutter Selma und getragen vom unerschütterlichen Optimismus des Optikers – aufwächst, über den dörflichen Zusammenhalt bei Schicksalsschlägen, über all die eigenwilligen, liebenswerten Charaktere. Drei Lebensphasen von Luise stehen im Zentrum des Buches, und in jeder spielt der Tod eines nahen Menschen eine große Rolle. Der Schwere und auch Tragik, die darin mitschwingt, setzt Leky eine Leichtigkeit entgegen, die die Lektüre zu einem Vergnügen macht. Ihre Figuren geben (sich) nicht auf, egal welchen Alters. Sie kreisen einfach weiter um die Frage, wie man das Leben und die Liebe entdeckt, zulässt, wegstößt, vergräbt, offen zeigt, verleugnet oder einfach „hinkriegt“. „Zugegeben: Das klingt nach Kitsch“, sagt die Zeit-Rezensentin, verweist dann aber zu Recht auf die sprachlichen Finessen der Autorin, die dem eine klare Grenze setzen. Lekys Elemente des Fantastischen bringen den Glauben an wundersame Dinge zurück: Okapis erscheinen im Traum und sind Vorboten des Todes, buddhistische Mönche tauchen aus dem Nichts auf und helfen bei der Suche nach einem verlorenen Hund, ein weltreisender Vater ruft stets in entscheidenden Momenten des Lebens von schlecht funktionierenden Telefonen aus zu Hause an … für all diese Begebenheiten findet Leky eine witzige, originelle, einfach großartige Sprache. Und die (Nicht-)Liebesgeschichte zwischen Selma und dem Optiker ist eine der schönsten überhaupt.
14. August 2018 um 15:38
Danke, liebe Vera, für die schönen Texte!
Bis bald,
liebe Grüße
Gertrud