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Ein Beitrag zur Debattenkultur in der Buchbranche

Elise Dosenheimer

Ein Stolperstein für Elise Dosenheimer

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Die am 22. November 1868 in Ungstein in der Pfalz geborene Frauenrechtlerin und Germanistin Dr. Elise Dosenheimer schrieb 1959, kurz vor ihrem Tod in New York an ihre Nichte:

„Was mich betrifft, so geht es mir nicht immer glänzend, trotz des Zimmers für mich allein. Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen, wie ihr wisst, und man wandelt auch nicht ungestraft unter 90 Jahren. Tragik des Alters.“

Mir fallen die Zitate aus Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ und Goethes „Wahlverwandschaften“ auf, mit denen Elise Dosenheimer hier fast beiläufig die beiden schwersten Kämpfe ihres 90-jährigen Lebens benennt. Sie kämpfte für einen privaten und öffentlichen Raum für Frauen und sie kämpfte für und um ihr Leben in Deutschland während des Nationalsozialismus, floh schließlich in die USA, einen Ort in der Fremde, an dem sie, in Goethes Worten, nicht ungestraft unter Palmen wandelte, weil sie durch ihre Flucht zu einem anderen Menschen geworden war.

BücherFrau und Feministin

Elise Dosenheimer war eine Bücherfrau, weil sie Bücher liebte und schrieb und auch über Bücher schrieb. Das Heidelberger Adressbuch vermerkt von 1938 bis 1940 für den dritten Stock der Blumenthalstraße 36: „Dosenheimer Elise Dr. Frl., Schriftstellerin und Dozentin“ und ich meine einen gewissen stolzen Unterton aus dem Eintrag herauszuhören. Elise Dosenheimer bewohnte hier in Heidelberg, im Sinne Virginia Woolfs, ein Zimmer für sich allein, einen eigenen Raum innerhalb des Hauses, weil sie durch ihr Studium und ihre Arbeit materiell unabhängig geworden war. Und sie war Feministin. Als Frauenrechtlerin hatte sie sich für das Frauenstimmrecht und den Zugang der Frauen zu den Universitäten eingesetzt. Sie selbst studierte ab 1904 in Berlin, Jena und Heidelberg.

Werk Elise Dosenheimers: Das deutsche soziale Drama.

Werk Elise Dosenheimers: Das deutsche soziale Drama.

In Jena promovierte sie 1912 zum Thema „Individuum und Staat bei Friedrich Hebbel“. 1925 wurde „Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels“ veröffentlicht (sie benannte den Dualismus der Geschlechter als Hebbels zentrales Problem) und 1949 erschien ihr Hauptwerk „Das deutsche soziale Drama von Lessing bis Sternheim“, das viel besprochen und gelobt wurde. Elise Dosenheimer war Schriftstellerin, schrieb über Hebbel, Nietzsche, Schiller und Goethe, arbeitete als Publizistin und Dozentin für Literatur in Jena, München und Heidelberg. Sie bewohnte also noch in einem weiteren Sinne ein Zimmer für sich allein, denn im Zitat Virginia Woolfs ist auch das Recht der Frauen auf „Fiction“ eingeschlossen, das Recht auf Teilhabe an der Kulturproduktion.

Neben ihrer Arbeit als Germanistin war Dr. Dosenheimer weiterhin als Frauenrechtlerin aktiv:

„Wenn die Renaissance die geistige, die Reformation die religiöse, die französische Revolution die politische Freiheit begründet haben, wenn die wirtschaftliche Rechtlosigkeit in ihrer rohesten Form, der Sklaverei, überwunden ist, so liegt der weitere Fortschritt in der völligen Befreiung der Frau, die sich nur in ihrer Entwicklung vom politischen Objekt zum Subjekt vollziehen kann.“

Aus: Die Frauenbewegung 1913.

Aus: Die Frauenbewegung 1913.

Sie publizierte unter anderem in „Die Frauenbewegung“, in der von Minna Cauer herausgegebenen „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“ und in Helene Stöckers Zeitschrift „Die Neue Generation“.

Weltenbürgerin und Pazifistin

Der Begriff der Heimat, als Gegensatz zu der im Goethe-Zitat erwähnten Fremde unter Palmen, war Elise Dosenheimer, die bereits in Frankreich gelebt hatte, schon häufig zu eng, zu völkisch-nationalistisch erschienen. In einer Buchrezension zum dänischen Literaturkritiker und Schriftsteller Georg Brandes hatte sie die Heimatlosigkeit als Tragik des Judentums bezeichnet, aber auch als Möglichkeit für die Herausbildung eines guten Europäertums. In ihrem Aufsatz zu Fichte unterstrich sie den „Weltenbürgersinn“, „das Vaterland des ‚ausgebildeten Europäers‘“. Als Pazifistin beklagte sie zu Beginn des Ersten Weltkriegs das Erstarren Europas im Militarismus und schrieb nach seinem Ende:

„Wenn die Frauen in diesem Kriege in sozialer und philanthropischer Hinsicht vieles geleistet haben, hier haben sie, die Frauen aller kriegführenden Länder versagt.“

Ihren Pazifismus gab sie erst während des Zweiten Weltkriegs auf, als sie den Kampf gegen den Faschismus bejahte, weil er unumgänglich war, „sollte die Welt vor einem äußersten Abgrund, sollte die Idee der Menschheit vor letzter Schändung gerettet werden“.

Verschleppt nach Gurs

Am 22. Oktober 1940 verschleppte man Elise Dosenheimer aus dem Zimmer, das sie in Heidelberg für sich allein bewohnte. In ihrer sogenannten Wiedergutmachungsakte beschreibt sie den Verlust dieses Zimmers, und weil die bürokratischen Anschreiben an sie, mit denen sie immer wieder hingehalten wird und mittels derer ihr schließlich Minimalbeträge als Auszahlung versprochen werden, bei der Lektüre nur schwer zu ertragen sind, beschließe ich, diese Aufzählung als Anklage zu lesen:

„1. Schlafzimmer bestehend aus: Bett, Nachtisch, Spiegelschrank, Waschtisch, Stühle, angeschafft 1914
2. Zimmer best. aus: Buffet, Chaiselongue, Sofa, Tisch, Stühle 1914
3. Küche: Küchenschrank, Tisch, Stühle
4. Wäscheausstattung: Bettwäsche, Tischwäsche, worunter besonders wertvolle ererbte Stücke sind
5. Bekleidungsgegenstände: Mäntel, Kleider, Schuhe, Unterwäsche
6. Sonst. Gegenstände: Beleuchtungskörper, Porzellanwaren, Glas, Bilder, Gemälde
7. Bücher: Bedeutende Anzahl von Einzelbänden, worunter teure Gesamtausgaben von Jeremias Gotthelf, Jean Paul, Goethe, Schiller, Shakespeare, Hebbel, Kleist, Grillparzer, Brentano, Heine, Herder sind sowie literaturgeschichtliche Werke, Textausgaben, Lexika usw.“

Man hat ihr dieses Zimmer doppelt gestohlen, als gerade erst von ihr erkämpftes Recht einer Frau auf Privatbesitz und materielle Unabhängigkeit und als Überlebensraum einer deutschen Jüdin in ihrer Heimat. Eine Wiedergutmachung ist ausgeschlossen.

Zusammen mit circa 300 weiteren Heidelberger Juden und Jüdinnen, darunter ihre Schwägerinnen Paula und Anna Dosenheimer, wurde sie im Alter von 71 Jahren nach Gurs deportiert. Ihr gesamtes Vermögen wurde eingezogen, ihre Wohnung leergeräumt. In Gurs wies man ihr im Schlamm und der eisigen Kälte des Internierungslagers die Baracke 1 zu, ein Bretterverschlag ohne Betten, ohne ausreichende Nahrung. Zum Jahreswechsel 1940/41 fand in Gurs ein grausames Massensterben vor allem vieler alter Menschen statt. Im August 1941 erhielt Elise Dosenheimer ein Visum, mit dem ihr die Flucht über Marseilles in die USA gelang.

Elise Dosenheimer und Nichte.

Elise Dosenheimer und Nichte Gertrude Dosenheimer Schwerin: Foto: Courtesy of Leo Baeck Institute.

Eine neues amerikanisches Zimmer

Ihr neues amerikanisches Zimmer für sich allein war ein winziges Zimmer in New York, ein Ort, an den sie sich gerettet hatte, mit schwierigen Arbeitsbedingungen, ein fremder Sprachraum, aber auch ein Ort, der außerhalb der Binarität Heimat-Fremde existierte, weil die Heimat fremd und schrecklich geworden war. Gertrud Dosenheimer Schwerin erinnert sich in ihren unveröffentlichten Memoiren an ihre Tante Elischen, die in einem winzigen Zimmer in New York wohnte und sich als Vegetarierin spartanische Mahlzeiten kochte. Jeden Tag machte sie sich auf den Weg in die Bibliothek der Columbia University, wo sie an ihrem letzten Buch über Schiller arbeitete, dessen Veröffentlichung sie nicht erleben sollte. 1958 schrieb sie an ihre Nichte Gertrud Schwerin: „Ich denke an ein Wort von Goethe: „Arbeite, die Freude kommt von selbst.““ Sie unterzeichnete den Brief mit „Elischen“.
Gertrud Schwerin schrieb weiter über ihre Tante Elischen:

„Elise Dosenheimer was quite a lady. She had never married. […]– Yes, my aunt „Elischen“ was part of my life. … the hours with her in her little room in Heidelberg, later in New York, belong to my most precious recollections.“

In dem Maße, in dem Gertrud Schwerin das Zimmer Elise Dosenheimers, ihr Zimmer für sich allein, als geschützten Raum erinnert, erobert sie es ein Stück weit wieder zurück. Wir, die Bücherfrauen Rhein-Neckar, tun es ihr nach und verlegen deshalb einen Stolperstein für Dr. Elise Dosenheimer, die in Heidelberg ein Zimmer für sich allein bewohnte.

Die Verlegung des Stolpersteins findet am 20. November 2014 um 12:45 Uhr in der Blumenthalstraße 36 in Heidelberg statt. Mehr Informationen im Netz:  Zur Heidelberger Stolpersteininitiative und zu weiteren Verlegungen am Donnerstag sowie zum feierlichen Festakt in der Pädagogischen Hochschule am Donnerstag ab 17 Uhr.

Link: Broschüre Stolpersteine Initiative Heidelberg

Bildergalerie zur Stolpersteinverlegung

 

Autor: Maja Linthe

Maja Linthe wurde 1964 in Berlin geboren. Nach Abitur und Ausbildung arbeitete sie halbtags als Wirtschaftskorrespondentin für Englisch und Französisch und begann ein Studium der Amerikanistik und Slavistik. Dieses schloss sie 2001 mit einem Doktor phil. in Slavischer Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin ab. Sie studierte auch in den USA und Russland und hatte ein Promotionsstipendium des Ev. Studienwerks Villigst e.V. Sie spricht englisch, französisch und russisch. Kurzprosa begann sie für die Frankfurter Rundschau zu schreiben, veröffentlichte im Dreischneuß, Macondo und der Süddeutschen Zeitung, gab Lesungen u. a. in der Brotfabrik, Weißen Rose und Gedok-Galerie in Berlin. Maja Linthe lebt als freie Autorin in Heidelberg und Berlin, ist Mitglied der Berliner Autorinnengruppe alphabettinen sowie der Bücherfrauen Rhein-Neckar. 2013 war sie Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Maja Linthe schreibt wissenschaftliche Texte, Kurzprosa, Roman, Essay und Blog. Ihre Schwerpunkte sind russische und amerikanische Literatur, Frauen- und Geschlechterforschung, Nationalsozialismus, Demenz, Stadtspaziergänge Berlin – Rhein-Neckar. Im Netz: www.majalinthe.de.

4 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für diese wunderbare Initiative und den gut recherchierten und interessanten Text! Als langjährige Heidelbergerin bedaure ich sehr, nicht dabei sein zu können!

  2. Vielen Dank für diesen spannenden Text!

  3. Liebe Maja,
    das ist dir gut gelungen, ein schöner Text! Ich bin gespannt, mehr über die Verlegung zu hören, gut, dass ihr das hin bekommen habt.

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