Zum ersten Mal bekommt die französische Künstlerin Fabienne Verdier in Deutschland eine Einzelausstellung ausgerichtet, in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums in Saarbrücken – zeitgleich zeigt das Musée Unterlinden in Colmar eine beeindruckende, große Schau ihrer von den dortigen klassischen und modernen Exponaten inspirierten Werke: Der Gesang der Sterne.
Aufmerksam wurde ich auf die Künstlerin durch ihren fast zehnjährigen Aufenthalt in China, wo sie in den 1980er-Jahren in Chongqing, Sichuan, als erste Französin ein Stipendium zum Studium der chinesischen Kalligrafie bekam. Ihre Biografie vermittelt denn auch zahlreiche Einblicke in das durchaus nicht einfache Leben im China dieser Zeit, selbst für eine Ausländerin, die zwar durch ihren besonderen Status Vergünstigungen wie ein Einzelzimmer erhielt, aber so auch mit einer starken Isolation zu kämpfen hatte. Mit großer Hingabe und Persistenz gelang es der Kunststudentin, bei Huang Yuan, einem der alten Meister der chinesischen Kalligrafie, in die Lehre gehen zu dürfen – und es ist ein Geschenk, dass sie uns an ihren Erfahrungen auf ihrem langen Weg zur Meisterschaft teilhaben lässt: „Pinselstrich für Pinselstrich“. Die Basis der chinesischen Kalligrafie und auch der Malerei ist der Strich: „Man muss die tausendundeine Variation erfassen, die sich in einem einzigen Strich darbieten lassen.“
Zu schauen, wie die Künstlerin diesen „Strich“ inzwischen in ihrem französischen Atelier weiterentwickelt hat, wie sie neue Werkzeuge und Pinsel konstruiert hat, in körpergroße Dimensionen vorgestoßen ist und im Gehen „Walking Paintings“ kreiert hat, dazu gibt die Ausstellung Im Auge des Kosmos in Saarbrücken einen tiefergehenden Einblick. Der ganze Körper wird zum Resonanzraum.
Während für die alten chinesischen Meister im Schwarz „alle Farben des Regenbogens“ enthalten sind, lässt sich Fabienne Verdier im Eintauchen in die Naturbeobachtung, z. B. eines speziellen Bergpanoramas, einer Astgabel oder eines Felsens, auch auf andere Farbtöne ein. Es geht jedoch niemals um das naturgetreue Abbilden, sondern um das Erfassen der innewohnenden Essenz.
Mit welchem Forscherinnengeist, welcher Hingabe und Disziplin Fabienne Verdier sich auf jeweils neue Themen einlässt und deren Verbindung zur Malerei auslotet, zeigen ihre umfangreichen Experimente mit Musiker:innen der New Yorker Juilliard School, das Zusammenwirken von Bild und Sprache mit dem ehemaligen Chefredakteur des französischen Wörterbuchs Le Petit Robert und ganz besonders Der Gesang der Sterne im Musée Unterlinden in Colmar.
Seit 2019 hatte sich die Künstlerin intensiv mit den sowohl klassischen als auch modernen Exponaten des Musée Unterlinden auseinandergesetzt, insbesondere jedoch mit dem Isenheimer Altar, dem Hauptwerk Matthias Grünewalds aus dem 16. Jh. In 13 Stationen wurden unter Leitung der Kuratorin Frédérique Goerig-Hergott Gegenüberstellungen geschaffen, die bezeugen, wie stark Fabienne Verdier in Resonanz ging mit den Werken und deren Essenz auf ihre ganz eigene Weise auf die Leinwand brachte. Ganz besonders gilt dies für 76 farbmächtige „Sternenbilder“ im Dachgiebel des Museums, die in einem Vortex kulminieren, der in einem Wirbel die gesammelte Energie wie ins Universum hochsteigen lässt.
Die beeindruckende Entstehungsgeschichte lässt sich in den Veröffentlichungen des Museums (und im Katalog) nachlesen oder auch in Filmsequenzen nachverfolgen – was mich persönlich sehr beschäftigt hat, war deren Entstehung selbst. Mithilfe von kreisförmigen Schablonen und dünnen Farbschichten nicht deckender Acrylfarben, die im Siebdruckverfahren aufgetragen werden, entstehen jeweils neue Farbschattierungen. Fabienne Verdier spricht hier von Lasur, weil es sich im Grunde um das gleiche Verfahren handelt, wie es von Grünewald verwendet wurde. Anders als bei der Tuschemalerei präsentiert sich die Leinwand anschließend in einem Glanz, der auch als „Schutzschild“ vor der nächsten Etappe der Bearbeitung wirkt: Mit einem großformatigen Pinsel sprüht, spritzt, streift sie noch einmal weiße Farbe auf die kolorierte Leinwand – und hier wird korrigiert, wieder weggewischt, zerstört und neu geschaffen –, indes bleibt die darunterliegende Farbenpracht in ihrem Glanz erhalten.
Während in der chinesischen Kalligrafie der Tuschestrich auf einem Bogen Reispapier unveränderbar ist, wie er ist, roh und verletzlich bleibt, wird hier – aus einem Empfinden der Künstlerin heraus – nachgebessert, um Stimmigkeit zu erzeugen, wie einer Geometrie der Seele folgend. Hier zeigt sich für mich fast eine Annäherung an die Vorgehensweise in der islamischen Kalligrafie.
Laut einer der Mythen zu deren Entstehung fiel der Buchstabe Alif wie ein Lichtstrahl vom Himmel – und aus ihm wurden alle folgenden Buchstaben geboren. Im Sterben der Sterne vollzieht sich bei Verdier Vergleichbares in umgekehrter Richtung – sie fallen in sich zusammen und hinterlassen Sternenstaub. Als Malerin stellt die Künstlerin sich den Abschied eines Menschen ähnlich vor wie das Erlöschen eines Sterns, als Spur einer Energie, die auf die Lebenden abstrahlt.
So wurde jedem einzelnen der „Sternenbilder“ ein Name beigegeben, der symbolisch stehen soll für all die Sterbenden der Corona-Zeit, die ohne Begleitung hinübergehen mussten. Dazu wurden von Sprachwissenschaftler:innen in zahlreichen Sprachen der Welt Vornamen ausgewählt, die einen Bezug zum Universum in sich tragen.
Ganz aktuell finden wir diese Haltung in der Rede des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan wieder, die er am 23. Oktober 2022 anlässlich der Preisverleihung in der Paulskirche in Frankfurt hielt: „Vor allem müssen wir die Namen der Toten laut aussprechen. Die Namen müssen genannt werden. … Denn aus ihren Namen werden unsere Wörterbücher entstehen.“[1]
Auch ohne diese Zuschreibungen ist die monumentale Installation sicherlich schon aussagekräftig genug – jedoch diente auch Grünewalds Altar, und hier ganz besonders das Bild der Auferstehung mit Christus im Lichtkranz, dazu, den Kranken Trost zu spenden, die damals – mit einem Kräutertrank des Klosters versehen – vor den Altar gebracht wurden.
Wie bedeutungsvoll Kunst gerade heute ist und wie sie in der Lage ist, „über die Erfahrung reiner Resonanz hinaus die gesamte Bandbreite der (zu einem historischen Zeitpunkt kulturell) möglichen Weltbeziehungen nachzubilden und zum Ausdruck zu bringen und damit fühlbar zu machen“[2] – das haben mir diese Ausstellungen wieder nachdrücklich gezeigt.
Mögen die Museen, die Kuratorinnen sowie natürlich die Künstlerin und ihre Werke Resonanz finden – und wir alle unsere Weltbeziehungen immer wieder neu verorten.
Für mich persönlich war es eine besondere Erfahrung, eine Künstlerin zu treffen, deren Werke und Leben in gebündelter Weise so viele Resonanzpunkte meiner eigenen Weltbezüge und Interessenssphären berühren: meine Liebe zur französischen Sprache – und zur chinesischen, die Kalligrafie, die Astronomie … Wörterbücher … All das – und noch viel mehr – findet sich in den aktuellen Ausstellungen der Künstlerin Fabienne Verdier. Lassen Sie sich von ihrem Forscherinnengeist berühren!
[1] Serhij Zhadan: „Lasst es einen Text sein, aber nicht über den Krieg“ (aus dem Ukrain. übers. v. Claudia Dathe). Friedenspreis 2002 des Deutschen Buchhandels: Reden und Bilder aus der Paulskirche. Frankfurt: Börsenblatt 2022, S. 33.
[2] Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 483.
Links zu den Ausstellungen:
Saarlandmuseum Moderne Galerie
Zu den Ausstellungen sind jeweils zweisprachige Kataloge erschienen:
Fabienne Verdier – Le Chant des Étoiles, hg. vom Musée Unterlinden, Colmar (engl.-frz.)
Neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen gibt es vor allem die Biografie zu erwähnen, die sich insbesondere auf ihren zehnjährigen Studienaufenthalt in China bezieht und einen guten Einblick in das Leben dort in der damaligen Zeit gibt:
Fabienne Verdier: Zeichen der Stille – Eine Initiation in China (aus dem Franz. übers. v. Maike u. Stephan Schumacher). Winterthur: Edition Spuren 2017.
29. Dezember 2022 um 12:21
Liebe Veronika!
Wie bedauerlich, dass diese faszinierenden Ausstellungen, die Du so anziehend beschrieben hast, so weit von Lüneburg entfernt sind. Doch zum Glück ist noch ist bis zum 27. März Zeit, Mitentdecker*innen zu affizieren und damit evtl. auch Mitfahrgelegenheiten zu generieren.
Ganz liebe Grüße
Evy
20. Januar 2023 um 16:42
Liebe Veronika,
coole Headline, spannende Künstlerin, wunderbare Rezension.
Für mich etwas weit weg, aber ich werde Freunde in Süddeutschland darauf “ansetzen”.
Liebe Grüße Ulli aus Hamburg
22. Januar 2023 um 21:58
Liebe Veronika,
vielen Dank, dass Du Fabienne Verdier und ihre Arbeiten so ausführlich vorgestellt hast. Die Werke mit chinesischer Tusche-Technik sind wirklich etwas Besonderes.
Liebe Grüße
Stefanie