Die Wirklichkeit hat viele Gesichter, doch im Kern entsteht sie in unseren Köpfen und gelangt von dort in unser Leben, wenn wir beispielsweise handeln, demonstrieren, wählen, reden und schreiben. In den letzten Jahren haben wir bereits viel über eine Wirklichkeit in Kunst und Kultur erfahren, in der Aufmerksamkeit, Präsenz, Geld, Anerkennung und Macht ungerecht zwischen den Geschlechtern verteilt sind – beispielsweise in der Studie „Frauen in Kultur und Medien“ des Detuschen Kulturrats und in der Studie zu Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen der MaLisa Stiftung. Daraufhin sind verschiedenste Initiativen entstanden, um die Situation zu verändern, wie zuletzt eine unabhängige Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt. Auch in der Buchbranche haben sich verschiedene Verbände und Netzwerke zusammengeschlossen, um die Arbeit von Kulturstaatsministerin Monika Grütters am Runden Tisch zu Frauen in Kultur und Medien zu unterstützen. Das damals gegründete Kompetenzteam Buch und die daraus hervorgegangene verbandsübergreifende AG Diversität hat konstruktive Vorschläge formuliert und Ideen gesammelt und nun mit Unterstützung von Prof. Elizabeth Prommer und dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock eine Pilotstudie zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb vorgelegt. Diese Zahlen zeigen eine weitere Facette der Wirklichkeit, in der Autorinnen weniger Aufmerksamkeit bekommen als ihre männliche Kollegen und Intellektualität und künstlerisches Schaffen von Frauen weniger sichtbar bleiben.
Im März 2018 haben 45 Freiwillige insgesamt 2036 Rezensionen und Literaturkritiken in deutschen Medien mit der Frage gelesen, angeschaut oder angehört, wer in welchem Umfang welche Bücher rezensiert. Werden mehr Bücher von Autoren rezensiert als von Autorinnen? Stammen die Rezensionen überwiegend von Kritikern oder von Kritikerinnen? Es wurden aber nicht nur Autoren/Autorinnen und Kritiker/Kritikerinnen gezählt, sondern außerdem auch geschaut, in welchen Medien, mit welchem Umfang und zu welchen Genres diese Rezensionen erschienen sind. Das Ergebnis liegt nun unter dem Titel #frauenzählen vor und ist – wie erwartet – ernüchternd.
Bücher von Autoren werden in fast allen Medien öfter besprochen als die von Frauen. Die Ausnahme sind Frauenzeitschriften, in denen sich – erwartungsgemäß und zielgruppengerecht? – der Anteil der Rezensionen von Autoren und Autorinnen umkehrt. Aber auch das ist Ausdruck eines Ungleichgewichts, nur eben in die andere Richtung.
Besonders deutlich ist die Dominanz von Autoren und Kritikern bei Sachbüchern und Krimis – also denjenigen Genres, die üblicherweise als eher männlich identifiziert werden. Kritiker haben im März in überwiegendem Maße Sachbücher und Krimis besprochen, die von Autoren verfasst wurden. Auch Kritikerinnen bevorzugten Bücher von Autoren bei der Auswahl der besprochenen Bücher. Nur Kinder- und Jugendbücher werden weitestgehend ausgewogen bzw. ohne erkennbare Geschlechterdifferenz besprochen.
Das Ungleichgewicht zwischen Buchbesprechungen von Autoren und Autorinnen ist ein Zeichen dafür, dass Autorinnen im deutschen Literaturbetrieb weniger sichtbar sind als ihre männlichen Kollegen. Die Zahlen zeigen darüber hinaus, dass die Betrachtung bzw. Bewertung von Literatur in deutschen Medien überwiegend durch männliche Augen und damit nach männlich geprägten Bewertungskriterien geschieht. Das bedeutet, dass die seit Jahrhunderten männlich geprägte Wirklichkeit beziehungsweise deren Wahrnehmung sich in diesem Ungleichgewicht reproduziert und die weibliche Perspektive wenig Aufmerksamkeit bekommt. Die Entscheidung darüber, welche Bücher rezensiert werden, ist deshalb immer auch eine Entscheidung darüber, welcher Wirklichkeit eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wird beziehungsweise welche Wirklichkeiten und Perspektiven weniger sichtbar und damit weniger prägend sind. Doch nicht nur die Bilder- und Vorstellungswelten werden einseitig dominiert. Neben der Vernachlässigung der weiblichen Perspektiven beeinflussen Rezensionen auch ganz profan die Verkaufszahlen von Büchern und damit die Einkommensmöglichkeiten von Autor*innen. Die Studie des Deutschen Kulturrats zu Frauen in Kultur und Medien hat für das Jahr 2014 eine Einkommensdifferenz zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern von 20 % festgestellt.
Die Macht der Gatekeeper
Rezensionen und damit auch diejenigen, die Rezensionen schreiben und in Auftrag geben, haben so eine entscheidende Auswahlfunktion über die Vielfalt der angeboten literarischen und nicht-literarischen Lebenswelten, Erfahrungen und Erinnerungen und damit über die Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung. Nun besteht Wirklichkeit aber nicht nur aus Zahlen. Zahlen sind ein nachvollziehbarer Maßstab der Realität, doch ihr Erleben ist geprägt von Ideen, Bildern, Erzählungen und Emotionen, die offen für Interpretationen sind. Auch aus diesem Grund bestimmt die Gatekeeperfunktion der Medien so machtvoll unsere Perspektive auf die Vielfalt oder Einseitigkeit der sichtbaren Welt.
Eine britische Studie aus diesem Jahr zur Transformation von Gender in englischsprachiger Prosaliteratur, die 100.000 Romane der letzten 200 Jahre untersucht hat, bestätigt die geringere Präsenz von Frauen in der Literatur. Der Anteil der Autorinnen fiktiver Erzählungen hat im Untersuchungszeitraum stetig abgenommen. Zusätzlich dazu ist die Präsenz von literarischen Frauenfiguren in von Männern verfassten Büchern in der gesamten Zeit gleichbleibend gering – Frauenfiguren nehmen dort im Durchschnitt nur ein Drittel des Raums ein, den männliche Figuren einnehmen. In von Frauen verfassten Büchern erhalten männliche und weibliche Charaktere dagegen ungefähr den gleichen Raum. Die Autor*innen der Studie sprechen in ihrem Fazit davon, dass schreibende Frauen aus der Öffentlichkeit gedrängt wurden und gleichzeitig Frauencharaktere in von Männern verfassten Büchern vernachlässigt wurden, sodass sich der Eindruck aufdrängen muss, dass wir vor allem über Frauen lesen, die einseitig aus einer rein männlich geprägten Perspektive geschildert werden.
In ihrem prägnant-bissigen Bericht über „Die 7 größten Irrtümer über Frauen, die denken“ spitzt Beatrix Langner dies zu: „Daher wissen wir so ziemlich alles darüber, wie Männer die Welt sehen.“ Die Unsichtbarmachung und damit die strategische Entmündigung von Frauen in der Geschichte – so Langner – hat unter anderem dazu geführt, dass Frauen auf Bilder von Weiblichkeit und Körperlichkeit, von Mütterlichkeit und Häuslichkeit reduziert wurden und werden, ihnen also Rollen zugeschrieben werden, die sie aus der handelnden Öffentlichkeit ausschließen. Frauen sind Musen aber keine Künstlerinnen. Ihre Abbilder schmücken die Portale der Macht, der Zugang dazu bleibt ihnen aber verwehrt. Zugang zur Macht heißt in diesem Fall unter anderem Macht über die Auswahl der Vorstellungswelten durch Medienvertreter sowie Macht durch die Deutung dieser Bilder in Rezensionen. Die Entscheidung darüber, mit welchen Bildern wir leben wollen, ist Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die geringere Sichtbarkeit von Autorinnen stellt ein Ungleichgewicht beziehungsweise Machtgefälle in diesen Aushandlungsprozessen dar, sodass bewusste und/oder unbewusste Prägungen und Vorurteile, beispielsweise in Bezug auf Rollenmodelle und -eigenschaften, unsere Wahrnehmung von Frauen in der Literatur – sowohl als Schaffende als auch als fiktive Charaktere – prägen und reproduzieren. Dieses Machtgefälle ist auch eine Frage von Gerechtigkeit, nicht zuletzt der sozialen Gerechtigkeit, und damit eine genuin politische Frage.
Auf der Frankfurter Buchmesse werden die Ergebnisse der Pilotstudie #frauenzählen präsentiert. Im Anschluss diskutieren Nina George, Maren Kroymann und Professor Dr. Elizabeth Prommer über die Macht von Bildern und Mechanismen der Unsichtbarmachung:
„Bilder bauen Welten: die Macht des (un)sichtbaren Narrativs“
10. Oktober 2018, 13 Uhr im Salon des Weltempfangs, Halle 4.1 / B81
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Das Langzeitprojekt #frauenzählen wird von der AG DIVERSITÄT konzipiert und realisiert. Die AG setzt sich zusammen aus ehrenamtlich forschenden Kulturschaffenden (Historiker, Autorinnen, Übersetzerinnen, Ethnologen, Politologinnen) der Literaturverbände PEN-Zentrum Deutschland, Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) in ver.di, BücherFrauen e.V., Mörderische Schwestern e.V., Das Syndikat – Autorengruppe Kriminalliteratur sowie dem Netzwerk Autorenrechte.
17. Januar 2020 um 16:02
„Nur Kinder- und Jugendbücher werden weitestgehend ausgewogen bzw. ohne erkennbare Geschlechterdifferenz besprochen.“
Das lässt sich aus den Zahlen alles nicht schließen. Bei Spiegel stand, dass über 60% aller veröffentlichten Bücher von Männern verfasst wurden. Wenn 2/3 der von männlichen Kritikern rezensierten Werke von Männern stammen, entspricht das also in etwa dem Marktdurchschnitt und damit für eine ausgewogene Besprechung und gegen eine Geschlechterdiskriminierung.
Letztlich kann ich all die Zahlen überhaupt nur – als Mindestvoraussetzung – einordnen, wenn ich weiß, wieviele Bücher in einem bestimmten Genre von Männern oder Frauen veröffentlicht wurden. Und selbst wenn es dann ein Ungleichgewicht gäbe, wäre das erstmal nur ein Indiz. Wenn Frauen also vor allem Werke von Frauen besprechen, ist das eher ein Indiz für Diskirminierung von Männern durch Frauen…