Wie Verhaltensdesign Gleichstellung revolutionieren kann – Gedanken zur Publikation von Iris Bohnet*
Die Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern – im Beruf, in der Politik, der Wirtschaft oder der Wissenschaft, im Verlag, im Buchhandel, bei Rezensionen, bei der Verteilung von Preisen und Stipendien, in der Sprache, bei der Konzeption von Büchern und ihrer Werbung – sind in den letzten Monaten auf vielfältige Weise diskutiert und kommentiert worden. Das Börsenblatt befragte Branchenteilnehmer*innen zu Sinn und Unsinn des Gendermarketings, auf dem Blog des Merkur fand eine ausführliche Diskussion über Sexismus an Schreibschulen statt und politische Institutionen, wie die Staatsministerin für Kultur und Medien und der Deutsche Kulturrat, haben mehrere Diskussions- und Arbeitsrunden zu den Ergebnissen der Studie „Frauen in Kultur und Medien“ durchgeführt.
Mit jeder neuen Empörung, jedem neuen Aufreger, jeder kritischen und kontroversen Auseinandersetzung beginnen mehr Menschen darüber nachzudenken, ob sie solche Situationen auch schon erlebt haben oder etwas beobachtet, gelesen oder gehört haben, was auf der ungerechten Behandlung oder Wahrnehmung des biologischen Geschlechts beruhte. Das ist gut. Es bildet sich ein Bewusstsein für die grundlegende Ungerechtigkeit, die uns alle mit dem Betreten der Welt umgibt und die wir uns aneignen, ohne uns über das Ungleichgewicht im Klaren zu sein. Die Ungerechtigkeit ist gelernt, strukturell vorgegeben und als Realität akzeptiert, weil es eben so ist, weil es schon immer so war. Nur: Viele Menschen wollen diese Realität heute nicht mehr.
Bilder, die Realitäten schaffen
Sprechen wir aber erst einmal nicht von der Realität, sondern von den Bildern, die Realitäten schaffen. Denn diese sind mitverantwortlich für das beharrliche Bestehen der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Diese Bilder sind von Menschen geschaffen. Sie definieren Prinzipien für gutes Benehmen und ein gutes Leben, und sie bestimmen auf diese Weise auch die Regeln für unser Zusammenleben und -arbeiten. Sie wirken unmittelbar, durch Werbung, Filme, Bücher, oder weniger auffällig, wie in Traditionen, Symbolen, Bräuchen, Lehrplänen, Steuergesetzen und Arbeitszeitregelungen. Wir brauchen diese Bilder, um unsere Wirklichkeit zu strukturieren und uns innerhalb einer Gemeinschaft über Werte, Regeln und Umgangsformen zu verständigen, d. h. Bilder an sich sind nicht schlecht. Aber es ist wichtig, sie immer wieder zu überprüfen und zu schauen, welche (Vor-)Bilder und Rollenmodelle sie transportieren. Entsprechen die darunter liegenden Menschenbilder und Ideen vom Leben noch unseren Werten und Wünschen für Gegenwart und Zukunft? Da sie immer häufiger Grund für Kontroversen sind, gibt es offenbar eine Kluft zwischen den Wahrnehmungsebenen, zwischen tradiertem Bild und erlebter Realität.
Stereotype und Vorurteile sind eine Form von Bildern, die mit Vorsicht betrachtet werden sollten, vor allem wenn sie unbewusst unser Denken und Handeln bestimmen. Denn diese Art Bilder können leicht in die Irre führen und verzerren die erlebte Realität. In der Arbeitswelt führt dies zum Beispiel dazu, dass unbewusste Zuschreibungen eine Voreingenommenheit festigen, die Frauen für ein bestimmtes Auftreten bestrafen, Männer aber dafür belohnen. Das meistzitierte Beispiel ist wahrscheinlich eine Studie, die häufig mit dem „Heidi-Howard-Phänomen“ beschrieben wird. Ein und derselbe Lebenslauf, einmal mit dem Namen Heidi, einmal mit dem Namen Howard, wurde Studierenden vorgelegt, die sich über die Person und ihre Erfolge äußern sollten. Einhellig wird beiden eine erfolgreiche und eindrucksvolle Karriere bescheinigt, Howard wird von den Studierenden als sympathisch wahrgenommen. Er ist eine Person, für die sie gerne arbeiten würden. Heidi dagegen wird als unsympathisch bezeichnet. Sie ist kein Vorbild, an dem man sich orientieren wollte. Die prototypische Führungskraft ist männlich, ein Howard oder Thomas. Frauen werden bestraft, wenn sie sich nicht dem zugeschriebenen Rollenmuster entsprechend verhalten, wenn sie zu fordernd oder sogar aggressiv auftreten. Aber auch wenn sie sich rollenkonform verhalten und Kinder bekommen, werden sie dafür mit Gehaltseinbußen und Karrierestillstand bestraft, während sich die Vaterschaft positiv auswirkt.
Weil es geht
„Voreingenommenheit ist eine eindeutige Ursache von Ungleichheit“, schreibt Iris Bohnet in ihrem Buch What works. Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann (C.H. Beck 2017). Neben der ausführlichen Darlegung aktueller Studien, die Wahrnehmungsverzerrungen und soziale Ungleichgewichte aufgrund von Geschlechterzuschreibungen nachweisen, bietet sie aber auch zahlreiche, größtenteils leicht umzusetzende Ansätze, daran etwas zu ändern. What works ist ein programmatischer Titel, quasi eine Aufforderung, sich nicht mehr auf der Ausrede komplizierter, teurer und langwieriger Verfahren auszuruhen. Weil es geht. Eigentlich sollte das Buch Pflichtlektüre im Wirtschaftsstudium sein oder zumindest auf den Schreibtischen der Personalverantwortlichen liegen, denn dass gemischte, diverse Teams die besten Ergebnisse erzielen, ist längst keine ideologisch verbrämte Verunglimpfung mehr, sondern vielfach wissenschaftlich nachgewiesene Tatsache, selbst bei Branchenteilnehmern.
Das Zauberwort heißt Verhaltensdesign. Durch die Veränderung von Umgebungen (Strukturen, Prozesse, Bilder) soll das Verhalten, das individuelle wie das systemische, geändert werden. Durch Verhaltensdesign können die Definitionen für gesellschaftlich angemessenes Verhalten verändert werden, so Bohnet. Dabei geht es nicht nur um das Verhalten einzelner Personen, sondern auch um die Muster, die durch bestehende Strukturen und Prozesse geprägt werden. Bohnet plädiert dafür, dass auch Unternehmen lernen. Angesichts der Diskussionen um Arbeit 4.0 ist dies ein häufig gefordertes, aber noch zu selten umgesetztes Modell, das vor allem auch die Unternehmen in die Verantwortung nimmt. Denn es reicht eben nicht, nur die Menschen fortzubilden, es müssen auch Umgebungen geschaffen werden, in denen Prinzipien der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit wirkungsvoll umgesetzt werden können. Und selbst wenn Unternehmen heute ihre betrieblichen Strukturen und Prozesse an die Anforderungen der neuen Arbeitswelt anpassen, bleibt die Behebung des Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern in der Regel auf der Strecke. Doch anstatt Frauen immer wieder vorzuhalten, dass sie eben nicht verhandeln können, wäre es wichtig, erst einmal anzuerkennen, dass schlechtes Verhandeln nichts mit Schüchternheit zu tun hat, sondern eine Anpassung an das Heidi/Howard-Dilemma ist. Wenn Frauen zu fordernd in Verhandlungen gehen, werden sie dafür meist bestraft, weil Frauen eben nicht forsch auftreten dürfen. Die scheinbare Unfähigkeit zu verhandeln erscheint so in einem ganz anderen Licht. Um daran etwas zu ändern, müssen Bedingungen geschaffen werden, die auch andere Verhandlungsstrategien zulassen: Die Transparenz über das, was verhandelbar ist, führt nachweisbar zu besseren Ergebnissen; eine externe Legitimation von Verhandlungen fördert die Teilnahme und Teilhabe der Frauen. „Wenn der Verhandlungsspielraum klar abgesteckt ist, verhandeln Frauen genauso gut wie Männer“, schreibt Bohnet. Und sie beschreibt auch, wie die Bewerbungsverfahren an ihrem Institut verändert wurden, um Verzerrungen zu vermeiden. Streng formalisierte Verfahren sind dabei entscheidend. Wenn Iris Bohnet die Kandidat*innen nach der Vorauswahl zum ersten Gespräch trifft, weiß sie nicht, auf wen sie trifft, kennt nicht deren Ausbildungsweg oder Herkunft. Sie stellt allen Kandidat*innen die gleichen Fragen in gleicher Reihenfolge und bewertet die Antworten nach einem vorher festgelegten Bewertungsschema. Nicht zu wissen, wen man in einem Auswahlgespräch vor sich hat, klingt erst einmal merkwürdig. Aber es leuchtet auch ein, dass große Brocken Voreingenommenheit vor der Tür gelassen werden und wirklich nur der unmittelbare Eindruck und die gegebenen Antworten das Urteil beeinflussen. Zu lernenden Unternehmen gehört, dass „Räume geschaffen werden, in denen Fehler als Chance begriffen werden“, dass man bereit ist, sich von eigenen Gewohnheiten und Überzeugungen zu verabschieden, sei es nun bei Personal- oder Programmentscheidungen. Man sollte meinen, dass eine kreative Branche den Mut zur Gestaltung aufbringen kann und solche Räume zulässt.
Transparenz führt zu neuen Rollenmodellen
Auch die Mär, dass Frauen in bestimmten Berufen nicht so erfolgreich sind wie Männer, wird in Studien widerlegt. Bohnet zitiert eine Studie, die untersucht hat, warum Aktienhändlerinnen 60 Prozent weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen. Ein gründlicher Blick hinter die Kulissen zeigte, dass der schlechtere Verdienst nicht daran lag, dass die Frauen weniger arbeiteten, weniger verkauften oder grundsätzlich weniger leisteten, sondern daran, dass sie die schlechteren Ausgangsbedingungen hatten: Sie hatten die schwierigeren Kundengruppen, die schlechteren Portfolios usw. Sobald die Ausgangsbedingungen angeglichen waren, verschwand der Leistungsunterschied zwischen Frauen und Männern. Dieser Blick hinter die Kulissen, also das Sammeln und Offenlegen von Daten, die Offenbarung von ungerechten Strukturen, ist ein schmerzhafter und deshalb viel gescheuter Prozess. Doch ohne Daten und ohne Transparenz werden wir in einer Realität verharren, die allen teuer zu stehen kommt.
Studien haben auch gezeigt, dass neue Rollenmodelle, die über längere Zeit präsent und wahrnehmbar sind, ganz erheblich Einstellungen verändern können. Ein spannendes Beispiel liefert Indien. 1993 wurde mit einer Verfassungsänderung festgelegt, dass ein Drittel der Sitze in Dorfräten für Frauen reserviert werden muss, ein Drittel der Vorsitzenden mussten außerdem weiblich sein. Diese Regelung hat im ländlichen Indien das Erscheinungsbild von Politik vollkommen verändert. Der Anteil von Frauen in den Dorfräten ist von 5 auf 40 Prozent gestiegen. Viel wichtiger aber ist, dass sich ein neuer Möglichkeitsraum für Frauen geöffnet hat. Denn Eltern erlebten, dass Frauen auch Politik machen konnten und entdeckten plötzlich ganz andere Perspektiven für ihre Töchter. Sie schickten sie länger zur Schule, ermöglichten sogar ein Studium und sprachen davon, dass sie Politikerin werden sollten. Und das in einem Land, in dem Töchter häufig schon vor der Geburt abgetrieben werden, weil sie keine Jungs sind! Frauen in Führungspositionen zu sehen, veränderte die Wahrnehmung: „Die Quote hatte Rollenmodelle für die Mädchen und ihre Eltern geschaffen und beiden ermöglicht, den Wert einer anderen Zukunft zu erkennen.“ (229) Es wurden neue Werte und Normen geschaffen, die die Gesellschaft als Ganzes langfristig verändern können.
Rollenmodelle aufbrechen – von Kindesbeinen an
Wie mit Sprache und Bildern gearbeitet wird, um eine möglichst genderneutrale Umgebung zu schaffen, zeigen Kindergärten in Schweden. Erzieher*innen sprechen nicht von Jungen und Mädchen, sondern von Menschen und Personen, sie vermeiden Zuschreibungen, die häufig an eine geschlechtliche Rolle gebunden sind: Frieda wird nicht als hübsch bezeichnet, Jonas nicht als wild. Auch Spielzeug wird nicht den Geschlechtern zugeordnet. In der Puppenküche steht ein Skelett am Herd oder der Prinz küsst den Frosch. Das gleiche gilt für Bilder an Wänden und in Bilderbüchern, für Spiellandschaften und die Kleidung von Puppen, so kann ein Roboter Tutu tragen und an der Ballettstange üben. Es wird vermieden, schon den Kindern bestimmte Rollenzuschreibungen zu vermitteln, und das scheint zu funktionieren. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kinder aus genderneutralen Kitas seltener männliche und weibliche Zuschreibungen vornahmen als andere Kinder. Kein Wunder also, dass der Ruf nach role models so laut ist. Auch Bohnet betont, dass Vorbilder ganz entscheidend sind und ein Anfang schnell gemacht sein kann, beispielsweise indem Ahnengalerien – oder die unermüdlichen Bemühungen um (Literatur-)Kanons – nicht nur männliche Vorbilder zeigen bzw. nennen, sondern auch eindrucksvolle und erinnernswerte Frauen. Es gibt sie. Doch wer kann sich noch an die Autorinnen erinnern, die im Deutschunterricht besprochen wurden? Waren da überhaupt Schriftstellerinnen dabei? Fragen wie diese werden glücklicherweise immer häufiger gestellt und führen hoffentlich dazu, dass Frauen wenigstens genauso oft durch unser Bewusstsein streifen wie ihre männlichen Kollegen.
Das Buch von Iris Bohnet liefert unzählige Anstöße, um über das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern nachzudenken und zu diskutieren. Auf der Frankfurter Buchmesse werden Iris Bohnet und die Verlegerinnen Zoë Beck und Daniela Seel darüber nachdenken, welcher Verantwortung sich Publizierende stellen müssen und welche Möglichkeiten sie haben, Verhalten und damit Realitäten zu verändern.
11. Oktober 2017 13.30 Uhr, Frankfurter Buchmesse, Halle 4.1 B91
Unbewusste Prägung: Gleichstellung als Verantwortung von Publizierenden
Auf die ungleichen Arbeits- und Karrierebedingungen für Frauen und Männer in der Buchbranche wurde in den letzten Jahren in Studien der BücherFrauen und des Kulturrats aufmerksam gemacht, ohne dass dies viel geändert hat. Verantwortlich dafür sind unter anderem unbewusste Prägungen, die unser Handeln und Denken, unsere Werte und Ideale bestimmen und damit die Strukturen und Prozesse unserer Arbeits- und Lebenswelt formen. Unbewusste Prägungen werden auch von der Buchbranche bedient und mitgestaltet. Menschen werden von Büchern und anderen Publikationen in ihren Wahrnehmungen beeinflusst, auch im Entstehen von Vorurteilen – sei es durch die erzählten Inhalte und Charaktere, durch die Gestaltung von Covern oder die verwendete Sprache. Auf welche Weise können und müssen Publizierende Verantwortung übernehmen und Mut zur Enttarnung von Stereotypen und Rollenzuschreibungen zeigen? Valeska Henze von den BücherFrauen diskutiert über Gendergerechtigkeit im Publishing mit Iris Bohnet (Verhaltensökonomin und Professorin für Public Policy an der Harvard Kennedy School in Cambridge) und den Verlegerinnen Zoë Beck (CulturBooks) und Daniela Seel (Kookbooks).
http://orbanism.com/event/orbanismspace2017-unconsciousbias/
Überschrift: *Zitat von Iris Bohnet.
29. September 2017 um 13:18
Danke für Deine logisch-konsequente und präzise Beweisführung, die ich gleich durch alle „meine“ sozialen Medien verbreitete 🙂
29. September 2017 um 19:03
Herzlichen Dank fürs Teilen!
2. Oktober 2017 um 13:17
Liebe Valeska,
ein wichtiger, weiterführender und kluger Text, den wir gerne über edition fünfs Kanäle verbreiten.
Vielen Dank dafür.
6. Oktober 2017 um 14:29
Liebe Valeska, Danke für diese interessante Buchbesprechung, die ich auch gerne weiterleiten werde. Gerade letzte Woche habe ich ein Seminar zur “kultur und gender-sensiblen Berufsorientierung” für unsere Multiplikator*innen gehalten, das sind Sozialpädagog*innen, die an Schulen Berufsorientierung und Potentialanalysen durchführen. Auch habe ich wieder von der schwedischen “Egalia” Kita berichtet und einen interessantes Video der BBC gezeigt. Es ist soooo wichtig, sich den eigenen unterbewussten Mustern bewusst zu werden und: dagegenzusteuern ist nicht immer einfach:
https://www.youtube.com/watch?v=nWu44AqF0iI&t=6s
viele liebe Grüsse von Nikola (CSC Wetek)