Mittendrin und ganz weit draußen
Die Stadtbibliothek von Gorlice ist ein Bollwerk der Kultur an einem Ort, der ziemlich abgeschlagen am östlichen Rand der EU liegt. Zugleich aber irgendwo in der Mitte Europas. Nahe Gorlice sitzt mit Czarne nicht nur einer der progressivsten Independent-Verlage Polens, sondern auch das »Europäische Krzysztof Penderecki Musikzentrum«, das erst 2013 anlässlich des 80. Geburtstags des Komponisten eingeweiht wurde.
Magda Miller und ihr Team gehen aktiv auf das Lesepublikum zu. Unter anderem mit einem YouTube-Kanal, einer Facebook-Seite und regelmäßigen Veranstaltungen. Bei einem Abend über das Restaurieren alter Drucke präsentierte Małgorzata Grocholska von der Ossolinski-Nationalbibliothek in Wrocław zusammen mit einem Priester des russisch-orthodoxen Kulturzentrums in Gorlice die konservatorische Arbeit an wertvollen Exemplaren aus Kirchenbeständen.
Literarische Spiegelungen
Für mich sah Magda einen Vortrag über deutsche Gegenwartsliteratur für den Leseklub der Bibliothek vor. »Auf Polnisch?«, ich schwitzte. Nein, sie werde eine Dolmetscherin engagieren.
Wochen später hatte ich viel über die Literatur meines Landes gelernt. Das Ergebnis meiner Recherchen und diverser Umfragen war eine Liste von 21 Romanautorinnen und -autoren. Alle verfügten über ein umfangreiches Werk, diverse Preise und aktuelle Veröffentlichungen. Zu überraschend vielen Titeln fand ich Übersetzungen ins Polnische, wiederum viele davon im Czarne-Verlag erschienen. Schon das ein interessanter Befund.
Zusammen mit Zofia, einer pensionierten Deutschlehrerin, und der Direktorin legte ich den Ablauf des Abends fest. Magda schlug vor, dass wir die Gäste zu Kostproben einer deutschen und einer polnischen Spezialität einladen sollten. In einem Kochbuch mit Gerichten aus aller Welt hatte sie das »typisch deutsche« Rezept für Biersuppe gefunden, die man auch kalt reichen könne. Sie bestand im Wesentlichen aus etwas Milch und Kartoffelmehl, aufgegossen mit viel Bier, verfeinert mit Zucker und Zimt. Nichts für Genießer. Wir einigten uns schließlich auf Plätzchen, passend zur Adventszeit. In Magdas Küche backten wir Unmengen Vanillehörnchen und Brecelki, wohlwollend begleitet von Kasper, ihrem Mann, der homöopathische Dosen von selbst angesetztem Paradiesapfel- und Rosenblattlikör kredenzte.
Der 12. Dezember war mein vorletzter Tag in der Bibliothek. Gut 30 Personen hatten sich zu meinem Vortrag eingefunden. Nach ein paar Sätzen über den deutschen Buchmarkt stellte ich meine Auswahl an Autorinnen und Autoren mit jeweils einem Werk vor, Magda zeigte dazu per Beamer Gesichter und Namen der Betreffenden. Zofia übersetzte. Anschließend gab es Gebäck und deutschen Wein der Marke »Rhein« in Weiß und Rot.

Marion Voigt. Im Hintergrund Infografik zu Buch und Buchhandel in Zahlen, 2013; Foto: Bartłomiej Kiełtyka
Zur Statistik der Übersetzungen ins beziehungsweise aus dem Deutschen hier einige interessante Zahlen: 2012 wurden genau 38 Bücher aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt, davon 19 aus dem Bereich Belletristik. Umgekehrt kauften polnische Verlage die Übersetzungsrechte von 367 Büchern, das entspricht einem Anteil von gut fünf Prozent aller Lizenzverkäufe. Darunter waren 49 Titel aus dem Bereich Literatur/Unterhaltung/Lyrik.
Parallel zu meinen Recherchen über die deutsche Literatur las ich Texte über die polnische Gegenwartsliteratur. Bei der Auswahl und der Lektüre unterstützte mich Bartek, Marketingbeauftragter der Bibliothek und von Haus aus Polonist. Dazu kamen Artikel über den polnischen Buchmarkt mit seiner geringen Anzahl von Neuerscheinungen (13.410 Titel in Erstauflage 2012) und dem erschreckend niedrigen Interesse an Büchern, jedenfalls laut den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage der Biblioteka Narodowa, derzufolge 61 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2012 kein Buch gelesen haben.
Leseförderung tut offenbar not. Und so engagiert sich auch die Gorlicer Stadtbibliothek auf diesem Gebiet. Es gibt ständig Programme für Kitagruppen und Schulklassen. Ich war Gast bei mehreren Lese- und Spielevormittagen und assistierte Kasia, die sich um die Jüngsten kümmert, als 27 Erstklässler feierlich ins Mysterium der Bücherwelt eingeführt wurden. Am Ende bekam jedes Kind eine Urkunde und einen Ritterschlag als Nutzer der Bibliothek.
Brücken zur Welt
Ein Höhepunkt meines Aufenthalts war Kwiatonowice. Magdas Haus, ein ehemaliger Adelshof aus dem 19. Jahrhundert, steht auf einer Anhöhe mit weitem Blick in die Ausläufer der Beskiden. Einst lebte hier die Familie des Grafen Sczaniecki. Acht Jahre lang und später noch einmal für kürzere Zeit wohnte die Schweizerin Lina Bögli bei ihnen, bevor sie 1892 ihre erste, zehn Jahre dauernde Reise um die Welt antrat. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte sie ihre Aufzeichnungen über diese Zeit und wurde berühmt. Gewissermaßen war Lina Bögli der Grund dafür, dass ich ausgerechnet nach Gorlice kam. Es gibt einen Roman über ihr Leben und die Autorin, Judith Arlt, hatte mir den Kontakt zu Magda vermittelt. Das Buch erscheint demnächst unter dem Titel “Die Welt war schneller als die Worte” im Achter Verlag.
Glanzlichter dieser Wochen waren auch die Ausflüge ins nahe Szymbark mit seinem weiß leuchtenden Renaissance-Kastell am Steilufer der Ropa und den Bauernkaten im Freilandmuseum wie aus Władysław Reymonts Roman Die Bauern, für den er 1924 den Nobelpreis erhielt. Und natürlich die Busfahrt nach Krakau, auf der ich von einer Hochebene aus plötzlich die schneebedeckten Gipfel der Hohen Tatra sah. Später streifte ich voller Wiedersehensfreude durch Krakau, stand im Innenhof des Collegium Iuridicum, einem der ältesten Gebäude der Jagiellonenuniversität, die 2014 ihr 650-jähriges Bestehen feiert, mokierte mich ein bisschen über die Tafel der Buchhandlung Matras, die verkündete, hier befinde sich die älteste Buchhandlung Europas, gegründet 1610 (Korn & Berg in Nürnberg besteht seit 1531), und kehrte im Ariel in Kazimierz ein.
Lernen ist anstrengend. Das merkte ich daran, dass ich unglaublich viel schlief. Acht bis zehn Stunden jede Nacht, oft voller wilder, bildersatter Träume. Die Tage verflogen, ich war ständig beschäftigt, Rätsel zu lösen – nicht zuletzt über die verschlungenen Muster der Deklination und Konjugation polnischer Wörter. Wenn ich mit meinem Vermieter, Pan Stefan, sprach und er mir auf Englisch antwortete, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass ich mir wieder einen groben Schnitzer geleistet hatte. Nun ja. Und in der Konditorei bestellte ich statt »jedną kremówkę«, ein Cremetörtchen, »jedną komórkę«, ein Handy.
Mein Ziel, Polnisch fließend zu sprechen, habe ich (noch) nicht erreicht. Aber mein Bild von Polen ist bunter und differenzierter geworden. Und schließlich: Lernen macht glücklich.
Teil 1: Lebenslanges Lernen im alten Europa
Teil 2: Mit Leonardo in Polen (Lebenslanges Lernen)
Teil 3: Mit Leonardo in Polen (Lebenslanges Lernen)