Station 4.
Chicago.
Ortszeit 05:58. Kurz nach Sonnenaufgang. Sieben Stunden hinter Europa. Der Sand wird gekämmt. Ich bin um 05:34, nach fünf Stunden Schlaf und einem halben Corona-Bier als Abendessen aus dem überbreiten Bett gekullert, geweckt von Licht und Sehnsucht nach echter Luft statt Aircondition. Am Strandweg Läufer, sie nicken sich grüßend zu, der Lake Michigan, größtes Süßwasserreservoir Amerikas, leuchtet hellblau und klar, Chicago, ich höre die Blues Brothers in meinem Kopf, Chicago, du bist wie New York, nur freundlicher, herzlicher, lichter. Sauberer, und du besitzt ein eigenes kleines Meer vor den Skyscrapern, dessen Horizont ich nicht sehen kann.
[Neun Städte in acht Tagen: Die US-Lesetour der Schriftstellerin Nina George („The Little Paris Bookshop“, „The Little French Bistro“) wird zu einer Seelenreise in das Herz des intellektuellen, des armen und des Amerika auf der Suche nach einer Haltung. Sie spricht mit Buchhändlerinnen, Leserinnen, Agentinnen und Menschen auf der Straße. Georges Tagebuch „This is not Trump’s Land“, das sie jeden Abend zunächst nur per Mobiltelefon für ihre Facebookfreundinnen schrieb, erscheint auf dem Blog der Bücherfrauen das erste Mal öffentlich und ungekürzt. Teil 3]
Und Donald Trump hasst dich. Aus tiefstem Herzen, wobei Bill Young gestern mutmaßte, Trump besitze keines. „Trump hat keine Empathie. Kein Einfühlungsvermögen. Er ist weder für die Demokraten noch für die Republikaner. Donald Trump ist nur für Donald Trump.“ Wäre Amerika zur Wahl gegangen, jeder oder wenigstens 70 Prozent, so säße nicht er im White House. Amerika hat Trump nicht gewollt.
Aber war zu müde, um zu wählen.
Bill brach die Schule ab, wie ich, dann jobbte er in Buchhandlungen, baute selbst eine auf und brachte Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Chicago. Er holte Anais Nin, ein Jahr, bevor sie starb, und Barack Obama, Joanne K. Rowling.
Es sind stille Stunden, in denen wir in seinem Toyota fahren, nach Downtown, nach Naperville, wieder zurück, mehrere Stunden, ruhige Gespräche, unterbrochen von intimem, vertrautem Schweigen. Dinge werden einander gesagt, aus dem Leben, der Seele. Sie werden in der Stille des Wagens bleiben.
Chicago. Ein Mann an einer Kreuzung vor dem Water Tower. Er schreit, laut, „Could anybody help?“, „COULD ANYBODY HELP?“, ich drehe mich erschrocken um. „Ich habe zu lang keinen Erste-Hilfe-Kurs gemacht“, erster Impuls, zweiter Impuls, „wieso drehe nur ich mich um?“
Dann sehe ich, es ist einer der Bettler, er schreit und winkt mit einem Plastikbecher.
Später, nachdem ich das erste Mal am Lake war, werde ich zurückgehen und ihm sieben Dollar geben und dem Mädchen, das zusammengekauert auf der anderen Straßenseite hockt, auch. Sie liest, während sie bettelt, tief über die Seiten gebeugt, die Stadt wogt um sie herum und niemand wirft Zigaretten auf den Gehsteig.
Lesung im „Anderson’s“. Ich signiere 100 Bücher. Für ein Kaufhaus. Zwei für Soldaten. Es ist ein nationales Programm der Indie-Buchhändlerinnen, Bücher aus dem ganzen Land gehen ans Militär. „Stay safe.“ Das steht in allen, „Stay safe“ schreibe also auch ich mit einem blauen Filzstift.
Reden, lesen, Fragen, Antworten, ich bekomme Champagner, es hat sich herumgesprochen, dass die Autorin aus Europa trinkt bei der Performance, ich rede mich erneut mit der Zeit heraus, es ist Mitternacht meiner Zeit und ich bin immer müde, immer wach zugleich. Was die in Naperville nur 35 Leute an Deutschland kennen, mögen?
Das gute Essen. „Schwainebrooten.“
Und an Frankreich? „Paris.“
Wir reden über second chances, über Figurenentwicklung, über Landschaften der Seele, mich zu lesen, sagen sie, ist wie dort gewesen zu sein, zu schmecken, zu riechen.
Mary Ann sagt leise Danke, sie hörte, ich halte nichts von Amazon, sie auch nicht, deutet im „Anderson’s“ umher, das ist es doch, auf was es ankommt.
Sie meint den Ort, die Buchhändlerinnen, das Reden, das „Browsen“ durch die Reihen.
Ich signiere eine Säule. Nicht die, an der sich George W. Bush verewigte. Inklusive #44. Seine Präsidentenziffer.
Für den Fall, dass das jemand vergisst. Nicht mal Bush war so schlimm wie Trump, sagt Bill, das will etwas heißen, er hasste Bush.
Als Aurora vor mir steht, schließt sich ein Kreis mit Rachel Hildebrandt, Verlegerin von The Weyward Sisters. Lasst uns Pläne schmieden, Geschichten von der Wirklichkeit erzählen. Bei Rachel wird mein „Das Herz des Menschen“ auf Englisch in den USA erscheinen, Magnus See (Venturaverlag, Werne) sei Dank, der mich um eine Kurzgeschichte für seine Heimatstadt bat. Ein syrischer Herzchirurg aus Aleppo erzählt in meiner Geschichte von seiner Flucht nach Werne, es geht nicht gut aus.
Später gibt es Macarons, ich suche mir noch ein Buch aus und der Doorman des „The Drake“ begrüßt mich mit Vornamen, welcome back!, er umarmt mich, ich ihn, mit aller Kraft, so wie immer, mit Kraft, er verliebt sich, ich nicht. Schlagzeile des Tages: Google wird mit einer Rekordstrafe von Europa belegt. Es ist ein großer Arbeitgeber in Chicago. Trump hasst Chicago, weil es ihn nicht liebt. Weil es ihn verspottet.
Am Strand wird Frisbee gespielt und Rugby, Polizisten patrouillieren auf Quads, ein Junge spielt Banjo, der Eismann zerrt klingelnd seinen Wagen durch den Sand, Rauchen am Beach verboten, Fußmassage 15 Bucks.
Mein Wecker spielt „La Mer“. Zeit, ins „The Drake“ zurückzukehren und ein zweites Mal aufzustehen, zu duschen. Um 08:00 Uhr wird Bill kommen, es geht weiter nach Austin, Texas, zu den „Bookpeople“.
Die Morgensonne wärmt mich. Noch ein kleiner Moment.
Lasst mich noch einen kleinen Moment atmen.
Und los.
Nachtrag: How are you? ist keine Frage, sondern Höflichkeit. Wie das ça va?, wie das Schönen Tag noch. Es ist ratsam, dann nicht seine Probleme auszubreiten.
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