Station 3.
Washington, D.C.
Ortszeit 10:25, Flug United Airlines 5836 direction Chicago.
Letzte Nacht gegen halb elf – nach der Show bei „Politics & Prose“, dem wohl politisch unbequemsten Buchhändler Nordamerikas – stehe ich vor dem hell erleuchteten White House. Der Wind spielt warm um meine nackten Beine. Ich habe Hunger, aber im Umkreis von zehn Blocks hat nicht mal ein Dim-Sum-Laden auf. Ich bin so müde, dass ich befürchte, ich schlafe auf der Stelle an einer roten Fußgängerampel ein.
[Neun Städte in acht Tagen: Die US-Lesetour der Schriftstellerin Nina George („The Little Paris Bookshop“, „The Little French Bistro“) wird zu einer Seelenreise in das Herz des intellektuellen, des armen und des Amerika auf der Suche nach einer Haltung. Sie spricht mit Buchhändlerinnen, Leserinnen, Agentinnen und Menschen auf der Straße. Georges Tagebuch „This is not Trump’s Land“, das sie jeden Abend zunächst nur per Mobiltelefon für ihre Facebookfreundinnen schrieb, erscheint auf dem Blog der Bücherfrauen das erste Mal öffentlich und ungekürzt. Zu Teil 2]
Die Männer des Secret Service (Wie secret ist es eigentlich, wenn das Wort auf den kugelsicheren Westen steht?) – meist jung, sehr, sehr jung, manche kurven auf Mountainbikes um das Gelände – schauen mir in die Augen, nicken, so, als ob ich jemand sei, jemand, den sie kennen, der nach Feierabend nach Hause geht. Ich wandere einmal um das Haus herum, im Schwarz der Nacht leuchten die weißen Hemden der jungen Securityburschen unter den dunklen Westen und dem Waffengürtel, ich bin ganz allein auf dem Weg, und ich frage mich, wo er schläft, ob er schläft, was ich tun würde, wenn ich ihn träfe, und was das nützt (nichts, sehen wir der Tatsache ins Auge).
Mehr denn je fällt mir eine „Farbentrennung“ auf. Wer nicht pigmentiert ist, trägt eine Waffe oder übt Tätigkeiten im Sitzen aus. Wer pigmentiert ist, hält Türen auf, kontrolliert an Grenzen. Oder fährt Taxi und Shuttlelimousinen. Putzt nachts die Böden der Restaurants und Take-out-Delis.
Das Weiße Haus. Es ist wie in den Filmen, Serien, es ist das „Kartenhaus“. Als ich kurz zuvor den Doorman des „The Jefferson“, Abdul, nach dem Weg fragte und erwähnte, ich wolle zum „House of Cards“, lachte er halb erschrocken, halb anerkennend auf. „House of Cards“, wiederholt er, er zieht es in die Länge, „ja, aber erst in letzter Zeit“, er lacht, dunkles, kehliges Lachen, er steht jeden Tag acht Stunden an der Tür des „Jefferson“ und öffnet sie, er kriegt Ärger, wenn Gäste die Tür alleine öffnen.
Vier Blocks, sagt er, und ein absolut sicherer Weg.
Fear is a bad advisor, antworte ich, und dass ich keine Angst hätte, außer vor Leuten, die aus Angst bewaffnet sind.
Ich stehe nach meinem Rundherumlauf noch mal vor dem Kartenhaus und mit mir nun eine laute Gruppe weißer Amerikaner, es fällt auf, dass sie alle ein wenig mehr jenseits eines noch gesunden Body-Mass-Index sind. Barbecue-Klassenfahrtstimmung, mitten in der Nacht, sie fotografieren sich, ein kleiner Junge kräht „Papa, hier wohnt unser Präsident“ und der Vater sagt stolz „ja“ und ich denke, dass sie Touristen sein müssen und dass dieser Junge in einem Amerika aufwächst, das einer Dystopie der 80er-Jahre ähnelt, in manchem, an manchen allzu wesentlichen Punkten.
„Washinton war immer liberal“, sagte vorhin einer der Buchhändler bei „Politics & Prose“ in der Connecticut Avenue. Der, der mal in Frankreich gelebt hat und beklagt, es gäbe dort keine kleinen Dörfer mehr (wenn der wüsste. Wollte er aber nicht wissen, nun gut, man wollte auch nicht wissen, wie ich wieder nach Hause komme oder ob ich Hunger habe.).
„Wenn jemand in Washington mit einem Trump-Hat herumläuft, sind es amerikanische Touristen.“
Und doch, sagt Katie, meine abendliche Hostess, und dennoch.
„Trump hat eine unsichtbare Mauer eingerissen. Nach ihm werden sich jetzt die nächsten zehn Jahre mehr und mehr Celebritys bewerben. Die auch keine Ahnung von Politik haben.“
Mark Zuckerberg, der Facebook-Eigner, hat bereits ein Wahlkampfteam engagiert.
Auch aus Hollywood seien die ersten Interessen am POTUS-Account zu hören.
Zuckerberg for President? Oder doch lieber Angelina Jolie?
Drei lange Gänge der Buchhandlung sind der aktuellen Politik gewidmet. Sehr, sehr cooler Jazz vom Band, eine Vinyl-Section und sehr viele politisch orientierte Give-Aways.
Die halbe Nachbarschaft hängt hier noch herum, auch später noch, die Buchhandlung schließt selten vor 22 Uhr. Ich bedauere, keine „Over-Acting-Figure“ von der „Pussy“ zu kaufen (Cabin case …) oder wenigstens den Survivalguide in Zeiten von Trump. Nicht mal der Countdownzähler, wie lang Amerika es noch auszuhalten hat mit dem Mann, der „Tiny hands“-Soap nutzt und von dem meine heutige Flughafenbekanntschaft, Barry Waters aus North Carolina, sagt: „Je sozialer er sich gibt, desto unzivilisierter wird er.“ Barry spielt auf die sogenannten „Sozialen Medien“ an, Trumps Twitter-Logorrhöe sei nur ein Symptom. „Alle nutzen soziale Medien und benehmen sich immer weniger zivilisiert.“ Er spielt auf anonyme Beleidigungen und Fake News an, Nachlässigkeit in der Kommunikation, digitale Distanz statt analoge Nähe, Trumps Auswürfe, aber auch die Usance, sich vor der Welt an den Monitor zurückzuziehen anstatt miteinander zu reden, Menschen kennenzulernen. Barry ist so ein Typ, der leicht Menschen kennenlernt, ein Blick, ein Lächeln, eine Frage, ein Gespräch. Das Tindern der prä-digitalen Ära.
Wir rauchen, er Pall Mall, ich Marlboro, flirten ein bisschen, am Ende weiß er, wie man sich auf Französisch verabschiedet, inklusive Bisous, und wo es meine Bücher zu kaufen gibt.
Er prophezeit mir, der Pazifik sei weniger zuschlagend als der Atlantik. Ich hätte Lust, sofort baden zu gehen, mit Mr Waters, seinem Lachen und seinem – nichtsdestotrotz – Optimismus: „Wer immer Präsident ist, es beeinträchtigt deinen Alltag nicht. Wir sollten aufhören, so zu tun, als wären wir jeden Tag in Gefahr. Dein Leben geht weiter, es wird nur wenige Momente geben, in denen seine Existenz dich direkt bedroht.“ Er mag Wichtigtuer nicht, die jede Krise auf sich beziehen und demonstrativ betroffen sind. Trotzdem regt er sich noch mal über Trumps Twitterrhöe auf.
„Politics & Prose“ also. Was mir auffiel: sehr abgeklärte Buchhändler und -innen. Ich war vermutlich so aufregend wie eine Lieferung neuer „How-to-Protest“-Postkarten, sprich: gar nicht. Ich fühle mich alleingelassen, aber nicht unbedingt einsam. Dort sind überall Menschen, die lesen, und ich werde ständig angesprochen, ich könnte die halbe Nacht dort debattierend mit Leuten verbringen, über alles, über Haare, über Vorurteile, über Refugee-crisis, über indisches Essen, über Washingtons Grundbesitzpreise, über Autoren, die keinen Mut zur politischen Debatte haben, über nette Jungs und böse Frauen.
Im Untergeschoss ein Café, freie Internetzugänge und regelmäßige Nachbarschaftsdebattenclubs, während oben täglich (!) ein Autor auftritt, meist jene mit politischen Themen, ich war mehr so aus der Feelgood-Section, aber dafür the most performative artist since a long, long time, die rund fünfzig, sechzig Gäste genossen und kauften, das verblüfft mich immer wieder, die langen Signierschlangen, gestern las ich im Prinzip nur zwei Seiten, der Rest frei erzählt, Dialog ist relevant (Es gibt immer Mikrofone für das Publikum), auf Fragen klug und noch lieber: schlagfertig und mit Herz und Witz antworten, das ist die Überzeugungsarbeit, die es zu leisten gilt, das, und sich Zeit nehmen beim Signieren, how are you? – ich sage immer noch die Wahrheit, was die meisten verblüfft, anstatt „Oh, so good! How are you?“ zu erwidern, das langweilt mich halt, und manche sagen dann, wie es ihnen geht.
Immer wieder muss ich erzählen, was ich lese, und ich habe das leise Gefühl, in Washington wird es demnächst eine größere Lieferung von Romanen von Véronique Olmi geben müssen.
Nachts im Hotel. Meredith bittet mich, für den „Authors in Residence“-Club des „The Jefferson“ eines meiner Bücher zu signieren, sie haben es in meiner Abwesenheit rasch besorgt. Im Regal stehen Werke aller Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die entweder im „Jefferson“ schliefen, vorgestellt wurden oder bei „Prose & Politics“ auftraten.
Es sind deutlich weniger Frauen als Männer.
Ich sehe Yann Martell, Umberto Eco, ich frage Meredith: Umberto war hier? Really? Sie sieht mich an und weiß nicht genau, wer Eco ist, aber sie sorgt später dafür, dass ich statt nur eines Glases eine halbe Flasche Sancerre zum selben Preis bekomme und einen Teller Nudeln aufs Zimmer, ich esse in dem gigantischen Bett, lese Herman Koch „The Dinner“ und schlafe fast mit der Gabel in der Hand ein, nach fünfeinhalb Stunden geht der Wecker und ich weiß für einen Moment nicht, wieso ich um kurz nach sechs aufstehen muss, ach ja: Chicago.
Mir fällt auf, wie sehr ich mich klammere an Essen und Getränke aus meiner „Heimat“. Wie an Luftwurzeln, um nicht vollkommen in der fremden Andersartigkeit, der anderen Sprache, den anderen Ritualen, Begrüßungszeremonien, Umgangsformen, unsichtbaren Regeln abzudriften. Um nicht zu vergessen, wer ich bin, um mich nicht zur Unkenntlichkeit zu assimilieren. Ich denke an die Vertriebenen und Geflohenen und an ihre Luftwurzeln, an das, was sie essen, trinken, sagen, glauben, an Rituale und unausgesprochene Regeln, und obgleich ich es niemals wagen würde, zu vergleichen, so kann ich nachvollziehen, warum das Festhalten am Eigenen in der Fremde so stark ist, so nötig.
„Umfragen ergeben: Das Bild von Amerika hat in der Öffentlichkeit stark nachgelassen, seit Trump im Amt ist“, meldet der Newskanal im Taxi zum Reagan-Flughafen, „Travel-ban etwas gelockert“ die Washington Post.
Alle Taxifahrer bisher die letzten Tage waren schon mal in Frankfurt oder Berlin. Wer denn nach Angela Merkel kommen soll, fragen sie.
Einer sagt: „We count on her!“
Der Reagan-Flughafen ist ruhig, tiefenentspannt. Ich stehe barfuß in dem Rundumröntgengerät, Hände über dem Kopf. Eine Pose, wie man sie einnimmt, wenn man Angst vor der Polizei hat.
Ich denke daran, dass Körperhaltung die Seele beeinflusst, und meine Seele duckt sich kurz, ich registriere eine mir fremde Unterwürfigkeit, ein „So gut so, Sir?“, ich halte das Gefühl fest, vielleicht ist Angst und Politik etwas zutiefst Körperliches.
Vielleicht bin ich auch nur übermüdet, manche Stunden durchwate ich wie im Traum, ich denke nicht, ich registriere nur, und ich fühle die Woge heranrollen, den Overflow.
Jeder 20ste Fluggast wird rausgeholt und streng durchleuchtet. Ich frage mich dennoch, warum es alles jene sind, die deutlich dunkler pigmentiert sind als zum Beispiel ich.
Zufall?
Bei „Hudsons Booksellers“ ist Dave Eggers „Circle“, die Google-Dystopie von der allzu smarten Diktatur, ein Dauer-Bestseller.
Militärveteranen dürfen noch vor allen anderen einsteigen, vor der First Class, ihr Name wird laut ausgerufen und man bedankt sich für ihren Einsatz für ihr Land, so geschmeidig, wie es sonst heißt „Gruppe A bitte boarden“.
Gruppe Leben beim Militär verbracht bitte boarden.
11:00 Uhr Ortszeit, über den Wolken. Noch 27 Minuten bis zur Landung. Bitte klappen Sie Ihre Tische hoch. Ab jetzt sieben Stunden hinter Europa.
Der Lake Michigan glitzert türkis. Bill Young wartet schon auf mich, er wohnte drei Häuser von Hemingways Kinderstube entfernt – aber das ist eine andere Geschichte.
Morgen. Später. Jetzt.
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23. November 2017 um 15:39
Hallo und danke für den tollen Blogbeitrag. Man kann süchtig danach werden !!!!! Weiterhin “Bonne Chance”.
23. November 2017 um 18:46
Merci, Hans!