Als ihre Eltern sterben, muss Adriana die 40 Jahre bewohnte Wohnung leer räumen. Ein chaotisches Durcheinander, durch das sich die Autorin ihren Weg bahnt und ihre Eltern auf diese Weise endlich richtig kennenlernt.
„Adriana! Adria, meine Tochter, du solltest wie unser Meer heißen! Unser schönes Meer!“ So kam Adriana Altaras nach dem Willen ihres Vaters zu ihrem schönen Namen.
Ihrem Vater, einem erfolgreichen Arzt, der immer ein Held sein wollte und jede Menge Geschichten auf Lager hatte, und ihrer Mutter, eher streng, Architektin, die ihre letzten Lebensjahre der Dokumentation von Synagogen in Deutschland widmete, kommt die Autorin eigentlich erst nach deren Tod wirklich nahe. Sie steht nämlich plötzlich vor der fast unlösbaren Aufgabe, die elterliche Wohnung zu räumen, in der 40 Jahre lang alles aufbewahrt wurde. Diese Arbeit wird für sie zu einer strapaziösen Wanderung in die Vergangenheit, denn in den Dokumenten, Briefen und Unterlagen, die sie in zwei Lederkoffern findet, durchlebt sie in zwei Tagen und Nächten zwölf Jahre Naziregime, 25 Jahre jugoslawischen Sozialismus und 20 Jahre BRD. Es ist die Geschichte einer Flucht quer durch Europa, bis die Eltern am Ende in Gießen ankamen.
Zum Glück ist Adriana Altaras Mann ein stoischer Westfale mit enorm viel Sinn für Humor, der ihr die nötige Erdung und den erforderlichen Halt gibt, wobei der Humor in ihrem Fall wohl das Allerwichtigste ist, denn ohne den wäre das Riesengepäck an Familie, Erinnerungen, Entscheidungsnot, Hypochondrie, chaotischen Synagogenbesuchen, endlosen Pessachfeiern und vor allem die ‚missglückten‘ Beerdigungen nicht zu verkraften, davon ist die Autorin überzeugt.
Man kann die Geschichte nicht wirklich nacherzählen, sie ist viel zu turbulent, manchmal ungeheuer komisch, aber auch ebenso traurig. Ein Buch zum Lachen und Weinen, voller Leben, Anteilnahme und Liebe, temporeich und mit viel Humor erzählt. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt und das doch nie enden sollte.
Adriana Altaras: Titos Brille: Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Fischer Taschenbuch, 272 S., 9,99 Euro
Dieser Buchtipp erschien erstmals in der Zeitschrift EMOTION, in der jeden Monat Rezensionen von BücherFrauen veröffentlicht werden.