Diesen Monat habe ich Barbara Weidle vom Weidle Verlag in Bonn interviewt, die nicht nur etwas über den Verlag erzählt, sondern auch über die Litprom, und erklärt, was es mit dem Forum „Die Unabhängigen“ auf der Leipziger Buchmesse und was mit „Shared Reading – sich durch Lesen verbinden“ auf sich hat.
Doris Hermanns: Barbara, du bist Verlegerin beim Weidle Verlag. Was für ein Verlag ist das, was macht ihr für Bücher?
Barbara Weidle: Wir sind ein kleiner, konzernunabhängiger Verlag in Bonn und Berlin und arbeiten seit 26 Jahren an Büchern. Wir, das sind Stefan Weidle, unsere Lektorin Kim Lüftner und ich. Und natürlich unser Typograf Friedrich Forssman. Er gestaltet alles. Schon von Anfang an. Eigentlich verlegen wir nur Bücher, die wir selbst auch kaufen würden. Wir haben mit der Literatur des deutsch-jüdischen Exils in den USA begonnen, und das war und ist uns eine Herzensangelegenheit. Wir haben Manuskripte vergessener Autoren und Autorinnen der 1920er-Jahre publiziert (darunter Hermann Borchardt, Heinrich Hauser, Max Mohr, Helen Wolff) und auch deutsche Gegenwartsliteratur, wie zum Beispiel von Hanne Kulessa, Jörg Gronius und Johannes Muggenthaler. Natürlich schärft sich ein Verlagsprofil mit den Jahren immer weiter. Heute publizieren wir neben den Entdeckungen der 1920er- und 1930er-Jahre vor allem Übersetzungen zeitgenössischer Romane. Literatur aus zumeist kleineren Sprache wie Georgisch, Isländisch, Norwegisch, Finnisch, Niederländisch, Portugiesisch und Indonesisch zum Beispiel. Allerdings auch aus dem Englischen und Französischen. Das heißt, international sind wir ganz gegenwärtig. Und auch die ältere Literatur verliert ihre Kraft und Frische ja nicht zwangsläufig.
DH: Du bist Kunsthistorikerin, wie kamst du da zu einem Verlag? Warst du von Anfang an dabei?
BW: Der Verlag kam tatsächlich zu mir bzw. zu uns. Er ist uns zugewachsen. Stefan ist Germanist, ich bin Kunsthistorikerin und Journalistin. Das hat sich von der Kompetenz her gut gefügt.
Nach Studium und Journalistenausbildung wollte ich eine Biografie über die Bildhauerin Anna Mahler (1904–1988) schreiben. Impulsgeber war Das Augenspiel von Elias Canetti, ein autobiografischer Roman, der Anna Mahler als eine der Hauptfiguren präsentiert. Die Verbindung von Kunst, Musik und Literatur im Leben Anna Mahlers hat uns fasziniert. Ich arbeitete dabei zusammen mit meiner Freundin Helga Brüx. Sie musste dann aber leider aussteigen, weil sie voll berufstätig war als Lehrerin und das nebenbei einfach nicht stemmen konnte. Für dieses Projekt sammelten wir Materialien in Wien, London, Spoleto und Los Angeles. Denn an all diesen Orten hatte Anna Mahler gelebt. So kamen wir auch erstmals mit dem Thema Exil in Kontakt. Das war um 1988, durchzog die 1990er-Jahre. Ab 1990 arbeitete ich als Kunstredakteurin für den Bonner General-Anzeiger. Unser Buch über Anna Mahler (herausgegeben mit Ursula Seeber) erschien erst 2004, zu ihrem hundertsten Geburtstag, als Begleitband der Anna-Mahler-Ausstellung im Literaturhaus Wien. Die meisten Recherchereisen machten Stefan und ich gemeinsam. In Los Angeles lernten wir den letzten Ehemann Anna Mahlers, Albrecht Joseph, kennen. Er war Theaterregisseur und Filmcutter gewesen, ein jüdischer Frankfurter, 1939 in die USA emigriert. Ein Freund und Partner von Carl Zuckmayer. Zeitweiliger Sekretär Thomas Manns und Franz Werfels. Er beantwortete nicht nur bereitwillig viele Fragen zu Anna Mahler und ihrer Familie, sondern er erzählte auch von seiner eigenen Arbeit. Von der Emigrantenszene in Los Angeles. Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Wir besuchten ihn täglich und erfuhren so auch von seinem Manuskript Ein Tisch bei Romanoff’s, das er uns so ganz nebenbei mitgab. Seine Autobiografie wurde unser erstes Buchprojekt, damals noch im Juni-Verlag. Wir arbeiteten danach noch mit dem Alano-Verlag zusammen. Bald aber wurde uns klar, dass wir, wenn wir weiter Bücher machen wollten, selbst einen Verlag gründen müssten. Der Verleger Thedel von Wallmoden ermutigte und unterstützte uns am Anfang sehr, und er ist immer noch ein treuer Freund des Verlages.
DH: Ein Schwerpunkt des Verlags ist die Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre. Wichtig für mich waren zum Beispiel die Memoiren von Anita Lasker-Wallfisch und die Biografie von Alma Rosé, die ihr verlegt habt. Was ist es, das dich an dieser Zeit, an dieser Literatur besonders interessiert?
BW: Das sind im Grunde zwei Fragen. Zunächst einmal haben mich die 1920er-Jahre, die großartigen unabhängigen modernen Frauen dieser Zeit, immer schon fasziniert, schon während des Studiums. Die Künstlerinnen. Diese Welt, diese Ästhetik sprach mich an. Die Malerei der Neuen Sachlichkeit, die Fotografie. Da ist es zur Literatur nicht weit. Diese Fülle von Talenten. Diese radikale Modernität, das Bauhaus, der Surrealismus, Konstruktivismus etc. Der Stummfilm. Es ist eine kreative, reiche Zeit gewesen. Diese Freiheit, dieses Unkonventionelle, das mochte ich. Stefan war bei uns die Spürnase für die Literatur der 1920er-Jahre. Da war einfach manches zu Unrecht vergessen. Viele Autoren, wie zum Beispiel Hans Sahl, Artur Landsberger, Hans Janowitz oder Jan Lustig, mussten später ins Exil gehen. Auch Curt Siodmak, dessen Autobiografie wir veröffentlichten. Aber natürlich erhielten wir immer wieder auch Anregungen von anderen. Max Mohr, den wir in den 1990er-Jahren erstmals verlegten, war übrigens ein Freund Albrecht Josephs. Dieser machte uns auf ihn aufmerksam. In diesem Jahr ist die Aktion „Würzburg liest ein Buch“ einem Roman von Max Mohr gewidmet, Frau ohne Reue. Eine großartige Geschichte über eine moderne, unangepasste Frauenfigur. Auch Max Mohr ging ins Exil, nach Shanghai.
Anita Lasker-Wallfisch kam durch unsere damalige Kollegin Rosemarie Paus-Daniel zu uns. Sie war mit Klaus Harpprecht und Renate Lasker-Harpprecht, der kürzlich verstorbenen Schwester Anitas, befreundet. Anita Lasker-Wallfischs Buch Inherit the Truth war in England schon erschienen. Wir haben sie in London kennengelernt und uns auf Anhieb gut mit ihr verstanden. Sie ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich je getroffen habe. Scharfer Verstand, Nüchternheit, Kraft und Ausstrahlung. Ihre Memoiren Ihr sollt die Wahrheit erben (Übersetzung der Dokumente im Anhang: Stefan Weidle) durften wir 1996 publizieren. Sie waren auch für uns ein großer Erfolg. Es war wichtig, die Geschichte ihrer Familie und die des Frauenorchesters von Auschwitz, in dem sie Cello spielen musste, aus ihrer Perspektive zu erzählen. Die Begegnung mit Anita Lasker-Wallfisch war für uns beide extrem bedeutsam. Ihr Vertrauen in uns. Ihr Vorbild.
In der Figur der Alma Rosé (1906–1944) verbinden sich zwei Sachen: Anita Lasker-Wallfisch hat die Leiterin des Frauenorchesters von Auschwitz-Birkenau ja gut gekannt und sagte oft, dass die Frauen im Orchester ihr sehr viel verdankten, eigentlich die Kraft zu überleben. Gleichzeitig war Alma Rosé die Cousine von Anna Mahler, der Bildhauerin, über die ich forschte. Die Mahler-Familie ist eine der wichtigen Säulen in unserem Verlag. Die Übersetzung der Biografie über Alma Rosé von Richard Newman mit Karen Kirtley (Übersetzung: Wolfgang Schlüter) habe ich lektoriert. Alma kommt in ihren vielen Briefen an ihren emigrierten Bruder Alfred Rosé in Kanada sehr ausführlich und direkt zu Wort. Ich habe dieses Buch immer als Denkmal für sie betrachtet, es war und ist eines der allerwichtigsten Projekte für mich.
DH: Welche Serien, Reihen oder Schwerpunkte gibt es? Und wie ist in etwa das Verhältnis zwischen Sachbuch und Belletristik?
BW: Schwerpunkte sind neben der schon erwähnten Mahler-Familie – Briefe von Gustav Mahler an seine Schwester Justine haben wir auch veröffentlicht – der bedeutende Verleger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Kurt Wolff. Über seinen Verlag sowie sein und Helen Wolffs Wirken habe ich 2007 eine große Ausstellung gemacht, die in Bonn, Wien und Frankfurt gezeigt wurde. Auch ein Begleitbuch habe ich herausgegeben. 2005 erhielten wir den Kurt-Wolff-Preis, und da Kurt Wolff in Bonn geboren wurde, begannen wir, uns ab 2006 intensiv für ihn zu interessieren. Das Buch Hintergrund für Liebe seiner zweiten Frau, Helen Wolff, die eine ebenso bedeutende Verlegerin war, ist bei uns 2020 erschienen. Der heitere und gleichzeitig tiefgründige Sommerroman von 1933 – erstmals publiziert nach so vielen Jahren, herausgegeben von Helen Wolffs Großnichte Marion Detjen – hat uns sehr gut durch die Pandemiezeit getragen, wir konnten vier Auflagen drucken.
Eine kontinuierliche Linie ist für uns die Zusammenarbeit mit den Gastländern der Frankfurter Buchmesse. Die begann 2011 mit Island und hält bis heute an. Wir suchen interessante Autorinnen und Autoren aus dem jeweiligen Gastland und haben auf diese Weise einen spannenden internationalen Autoren- und Autorinnenstamm aufgebaut, darunter Leila Chudori (Indonesien), Fiona Kidman (Neuseeland), Helga Flatland (Norwegen), Edem Awumey (Togo/Kanada), Aka Morchiladze (Georgien), Zurab Karumidze (Georgien), Shenaz Patel (Mauritius), Joost Zwagerman (Niederlande), Isabela Figueiredo (Portugal). Im letzten Falle, Portugal, geht es um das aktuelle Gastland der Leipziger Buchmesse.
Es haben sich weitere mögliche neue Schwerpunkte durch aktuelle politische Entwicklungen ergeben. Im Zuge der Flucht aus Syrien haben wir 2015 begonnen, uns für das Schicksal des syrischen Volks zu interessieren und uns zu engagieren. Für uns war das eine logische Konsequenz der Beschäftigung mit den Schicksalen der Emigranten aus Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs. Der Spaziergänger von Aleppo von Niroz Malek ist das Resultat dieser Beschäftigung mit Syrien. Die großartige Übersetzerin Larissa Bender hat diesen Text 2017 aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt und uns auch in Kontakt mit Mustafa Khalifa gebracht. Sein Roman Das Schneckenhaus, in dem er die 13-jährige Gefangenschaft des Protagonisten in syrischen Gefängnissen eindrücklich schildert, erschien ebenfalls in ihrer Übersetzung bei uns.
DH: Auf eurer Website steht: „Unsere Bücher erscheinen in unreformierter Rechtschreibung, und daran wird sich nie etwas ändern.“ Warum habt ihr euch dafür entschieden, daran festzuhalten?
BW: Wir sind immer bei der alten Rechtschreibung geblieben, weil wir viele Bücher im Programm haben, die Neuauflagen aus den 1920er- und 1930er-Jahren sind. Und zwei Rechtschreibsysteme in unserem kleinen Verlag? Das hätte uns überfordert. Im Übrigen ist ja von der Reform fast nichts übrig außer der ss/ß-Schreibung.
DH: Wie unterscheidet sich euer Verlag als einer der unabhängigen von den Konzernverlagen? Warum sind die Indie-Verlage für dich wichtig?
BW: Wir sind klein, überschaubar und arbeiten selbstbestimmt. Wir machen keine Titel, von denen wir nicht wirklich überzeugt sind, weil sie vielleicht einen großen Gewinn versprechen. So können Konzernverlage nicht arbeiten. Wir halten unseren Aufwand relativ gering, können sehr viel Sorgfalt in das einzelne Buch legen, weil wir wenig publizieren. Vier Titel im Jahr sind es jetzt. Diese können wir dann in aller Ruhe auch bewerben. Dabei unterstützt uns die auf Literatur spezialisierte PR-Agentur Kirchner Kommunikation hervorragend. Wir können Entdeckungen machen und uns auch mal leisten, dass sich davon dann eben nicht so viele Exemplare verkaufen, obwohl wir natürlich gern auch wirtschaftlich Erfolg haben. Damit ich nicht missverstanden werde. Unser Produkt unterscheidet sich aber nicht von denen großer Verlage, das wird oft so merkwürdig falsch gesehen. Es sind Bücher, es ist Literatur. Wie groß der Verlag ist, der dieses Produkt herstellt, spielt zwar eine Rolle beim Marketing, aber nicht beim Inhalt. Deshalb nervt mich der Ausdruck „Kleinverlag“ in der Öffentlichkeit auch ziemlich. Wir können vielleicht mehr riskieren.
Wir haben über die Jahre in der Kurt Wolff Stiftung für unabhängige Verlage ein wunderbares Netzwerk der Nicht-Konzernverlage aufgebaut. Es gibt so viele großartige Kolleginnen, mit denen wir in einem intensiven Austausch sind. Wir organisieren Veranstaltungen und nehmen an vielen Buchmärkten für unabhängige Verlage teil, um unsere Bücher, gerade auch die Backlist, einem breiten Publikum zu präsentieren. Unsere Zusammenarbeit mit den Buchhandlungen, vor allem den unabhängigen, inhabergeführten, ist immer besser geworden. Ihrem Einsatz, ihrem Mut, ihrer Aufmerksamkeit verdanken wir viel.
Es ist wichtig, dass es unabhängige Verlage gibt, weil sie mehr wagen können. Eine größere Vielfalt ermöglichen und eine lebendige Kulturlandschaft mitgestalten. Denkanstöße geben. Die Arbeit der Kurt Wolff Stiftung, deren Vorstand Stefan viele Jahre lang war, hat die Sichtbarkeit der unabhängigen Verlage enorm erhöht. Sie vertritt unsere Interessen auch bei Politik und Institutionen, bei den Buchmessen etc. Sie ist oftmals Ideengeberin für neue Projekte, zum Beispiel dem Deutschen Buchhandlungspreis oder dem Deutschen Verlagspreis.
DH: Du hast 2015 für die Leipziger Buchmesse und die Kurt Wolff Stiftung das Forum „Die Unabhängigen“ kuratiert und das Programm bis 2019 betreut. Wie kam es dazu? Was war euer Anliegen dabei?
BW: Das „Berliner Zimmer“, als Veranstaltungsort eine Institution auf der Leipziger Buchmesse, die vom Börsenverein Berlin-Brandenburg betreut wurde, war ein wenig in die Jahre gekommen, und die Kolleginnen wollten es nicht mehr weiterführen. So wurde dieser Platz frei, die Leipziger Buchmesse trat daraufhin an die Kurt Wolff Stiftung heran und fragte, ob wir ein neues Konzept für diesen Ort erstellen wollten. Etwas neu aufzubauen, ist ja immer eine Herausforderung und eine großartige Aufgabe. Durch meine Erfahrung beim Aufbau und der Leitung des Bonner Literaturhauses sowie mein Netzwerk brachte ich die organisatorischen und inhaltlichen Voraussetzungen mit, am Konzept zu arbeiten und das Programm der „Unabhängigen“ auf der Leipziger Buchmesse zu kuratieren. Gemeinsam mit dem damaligen Vorstand der Kurt Wolff Stiftung, Britta Jürgs, Jörg Sundermeier und Leif Greinus, dazu Büroleiter Karsten Dehler und dem Buchmessechef Oliver Zille sowie Projektmanagerin Gritt Philipp erarbeiteten wir ein Konzept, daraus wurden „Die Unabhängigen“. Die frische und ausgesprochen kluge farbige Gestaltung von Jakob Kirch aus Leipzig war entscheidend, um den großzügigen Stand zu einem echten Hingucker zu machen, und schuf eine Corporate Identity für die Zukunft. Unser Anliegen, auf der Messe mehr Aufmerksamkeit für die „Unabhängigen“ zu generieren, hat sich dabei hervorragend verwirklichen lassen. Dieser knallbunte, aber klare Stand, wo man auch noch gemütlich Kaffee trinken kann, serviert von den Verlegern und Verlegerinnen, kommt sehr gut an beim Publikum.
Hinzu kommt, dass die Veröffentlichungen der unabhängigen Verlage die politischen Fragen, die soziale Situation und aktuelle Strömungen hervorragend aufgreifen, sodass es wirklich ein Vergnügen ist, daraus ein Veranstaltungsprogramm zu entwickeln.
DH: Du hast dieses Jahr im April die Literaturtage der Litprom (die übrigens ganz großartig waren) zusammen mit Zoë Beck kuratiert. Nun ist das Anliegen der Litprom, Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der Arabischen Welt im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen. Diese ist bei euch im Verlag bislang kaum vertreten. Gibt es Pläne bei euch, dies auf Dauer zu ändern, also diese Literaturen stärker im Programm zu berücksichtigen?
BW: Die Litprom-Literaturtage digital zu organisieren, gemeinsam mit der Schriftstellerin und Verlegerin Zoë Beck, war eine großartige Erfahrung und eine Herausforderung. Übrigens hatten wir ein hervorragendes Team vor Ort in Frankfurt: Litprom-Projektleiterin Marcella Melien, Lara Herz und Lea Herlitz.
Stefan und ich sind beide als Privatpersonen Mitglied bei Litprom e. V, und ich empfehle eine solche Mitgliedschaft für Interessierte, weil die Litprom eine wichtige und gerade jetzt unverzichtbare Arbeit leistet, indem sie dafür sorgt, dass wir die Literatur des Globalen Südens aufmerksam betrachten und uns mit den Fragen, die jetzt global virulent sind, befassen. Das ist politisch und gesellschaftlich sehr bedeutsam. Deshalb freue ich mich auch, dass ich kürzlich in den Vorstand der Litprom gewählt wurde. Ich hoffe, ich kann in dieser Funktion diese Vermittlungsarbeit noch öffentlicher machen.
Die von der Litprom unterstützte Literatur ist in unserem Verlag durchaus vertreten: Leila Chudori mit ihrem Roman Pulang. Heimkehr nach Jakarta (Übersetzung: Sabine Müller), der die indonesische Diktatur der 1960er- und 1990er-Jahre vor Augen führt; Niroz Malek und Mustafa Khalifa aus Syrien, Bei Dao aus China, Carl Nixon und Fiona Kidman aus Neuseeland. Kidmans Roman Jean Batten. Pilotin habe ich selbst übersetzt. Stefan hat zuletzt zum Gastland Kanada zwei Romane des aus Togo gebürtigen, nach Kanada übergesiedelten Edem Awumey aus dem Französischen übersetzt: Nächtliche Erklärungen und Die schmutzigen Füße (erscheint im August). Da kommt sicher noch mehr.
DH: Bei den Literaturtagen hast du auch eine Veranstaltung „Shared Reading – sich durch Lesen verbinden“ angeboten. Was hat es damit auf sich?
BW: Literaturvermittlung und damit verbunden auch Literaturgenuss interessiert mich sehr. „Shared Reading“ wurde vor 15 Jahren in Liverpool von Dr. Jane Davis entwickelt. Ein einfaches, aber sehr wirkungsvolles Konzept, das literarische Teilhabe über den üblichen Kreis von Interessierten hinaus ermöglicht: Man liest in einer Gruppe von etwa zehn Personen gemeinsam eine Erzählung, abwechselnd und laut. Man spricht darüber. Danach liest man noch ein Gedicht. Im Gegensatz zu einem Lesekreis muss man nichts vorbereiten, sondern geht einfach hin und hat eineinhalb intensive Stunden Literatur im Austausch mit anderen. Im Idealfall trifft man sich als Gruppe einmal wöchentlich. „Shared Reading“ lernte ich durch Thomas Böhm und Carsten Sommerfeldt kennen. 2016 habe ich bei ihnen und Jane Davis in Berlin eine Fortbildung zum Facilitator gemacht, wie übrigens auch zwei Kollegen vom Frankfurter Literaturhaus. Seitdem veranstalte ich „Shared Reading“ regelmäßig in einer Bonner Buchhandlung. Für die Litprom-Literaturtage eignete sich dieses partizipatorische Konzept als Angebot für Besucherinnen hervorragend, zumal sie traditionell auch im Frankfurter Literaturhaus stattfinden.
DH: Wie sieht euer Programm aktuell aus? Was hat sich im Laufe der Jahre geändert? Was zeichnet es aus?
BW: Aktuell bereiten wir die Herbstneuerscheinungen vor: Den Roman Die Schwimmerin von Theodor Wolff, eine Wiederentdeckung von 1937, mit einem wunderbaren Cover von Kat Menschik, und Edem Awumeys erwähnten Roman Die schmutzigen Füße. Im Frühjahr 2022 erscheint der neue Roman unseres finnischen Autors Mooses Mentula, auch der neue Roman von Helga Flatland, eine Übersetzung aus dem Norwegischen, ist in Vorbereitung. Zum Thema Exil machen wir nicht mehr so viel, das liegt in der Natur der Sache. Es gibt nicht mehr viele unentdeckte Texte. Allerdings werden wir im kommenden Jahr Erna Pinners Curious Creatures neu auflegen – das 1951 in England erschienene Buch über Seltsame Geschöpfe der Tierwelt der Tierzeichnerin und Autorin, die aus Frankfurt stammte und als Jüdin nach England emigrieren musste. Übrigens war sie eine Cousine Albrecht Josephs und eine Freundin Anna Mahlers. So entdeckte ich sie und ihre künstlerische Arbeit auch.
Was sich verändert hat? In früheren Jahren haben wir auch deutsche Gegenwartsliteratur publiziert. Wir mussten aber feststellen, dass wir das nicht so erfolgreich tun konnten, wie es größere Verlage können. Deshalb haben wir damit aufgehört. Auch haben wir früher eine ganze Reihe von Kunstkatalogen gemacht, viel mit Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet, zum Beispiel mit den New Yorker Malerinnen Eve Aschheim, Andrea Belag, Pat Steir oder Katharina Hinsberg und Leiko Ikemura, die in Deutschland leben. Mit Martin Noël und John Yau haben wir ein wunderbares Künstlerbuch gemacht, New York Islands. Im Laufe der Jahre hat einfach eine Konzentration stattgefunden. Und jetzt veröffentlichen wir vier Titel im Jahr, zumeist Belletristik. Ab und zu, sehr selten, ein Sachbuch, wenn es wirklich in unser Programm passt. Ich glaube, Klarheit, Entdeckungen, internationale zeitgenössische Literatur und hier und da eine Überraschung, wie zum Beispiel Helen Wolff (Hintergrund für Liebe), Theodor Wolff (Die Schwimmerin) oder Joost Zwagerman (Duell, Übersetzung: Gregor Seferens), das zeichnet unser Programm aus.
DH: Was sind die Kriterien, nach denen ihr entscheidet, ob ihr ein Buch macht? Wie kommen die Bücher zu euch?
BW: Ein Buch muss zu uns passen, zu unserem sehr speziellen Verlagsprofil. Wir müssen das Manuskript natürlich mögen und auch schauen, ob eine Veröffentlichung sinnvoll ist. Da wir viele Übersetzungen publizieren, müssen wir uns immer um Übersetzungsförderungen kümmern, Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Ein Buchprojekt muss natürlich finanzierbar sein.
Die Bücher kommen auf ganz unterschiedlichen Wegen zu uns. Durch Literaturagenturen, durch Übersetzerinnen, durch persönliche Recherchen, durch Empfehlungen von Menschen aus dem Literaturbetrieb.
DH: Gibt es ein Vetorecht bei euch, wenn eine oder einer ein Buch nicht machen möchte, wenn andere es wollen?
BW: Stefan und ich entscheiden gemeinsam. Aber wenn eine/r von uns beiden ein Buch unbedingt machen möchte, dann machen wir es auch. Das war bisher nie schwierig.
DH: Auf eurem Verlagsprofil sind in der Mehrzahl männliche Autoren zu finden. Wie wichtig ist es dir, auch Autorinnen im Verlag unterzubringen?
BW: Das stimmt, wenn man das gesamte Programm der letzten 26 Jahre anschaut. Es sind meistens Titel, die sich logisch ergeben haben. Es ist mir allerdings sehr wichtig, Autorinnen zu veröffentlichen, und das tun wir ja auch. Mit Helga Flatland etwa haben wir eine großartige junge Autorin aus Norwegen gefunden. Leila Chudori, Shenaz Patel, Fiona Kidman, Dagny Juel, Isabela Figueiredo, Nathalie Kuperman, Marina Colasanti, Anna Radlowa, Anne-Marie Ljungberg, Zhai Yongming, Ana Nobre di Gusmao, Pippa Goldschmidt, June Jordan, Christiane Grautoff, Zdenka Fantlová haben wir veröffentlicht. So schlecht ist die Bilanz also nicht.
DH: Wie wichtig ist Feminismus für dich im Verlag?
BW: Leben und Arbeiten kann ich da nicht trennen. Feminismus ist sehr wichtig für mich. Ich bin in den 1970er-Jahren durch die Frauenbewegung sozialisiert worden. Las die Courage, Simone de Beauvoir, Kate Millet, Verena Stefan usw. Das hat auch dazu geführt, dass ich meine Magisterarbeit über die Malerin Marianne Werefkin geschrieben habe, Ausstellungen zu Anna Mahler und Erna Pinner gemacht habe. Texte u. a. über Leiko Ikemura, Georgia O’Keeffe, Rebecca Horn und Susan Rothenberg geschrieben habe. Interviews u. a. mit Yoko Ono, Pat Steir, Katharina Hinsberg und Ellen Auerbach gemacht habe. Mich haben immer Künstlerinnen und Autorinnen interessiert. Von daher freue ich mich über jede Autorin, die wir veröffentlichen. Bei den BücherFrauen arbeite ich mit großer Begeisterung in der AG für den in diesem Jahr erstmals zu vergebenden BücherFrauen-Literaturpreis Christine mit. Es bedeutet mir viel, Frauen in der Literatur noch sichtbarer zu machen.
DH: Die Werke welcher Autorinnen waren und sind dir wichtig?
BW: Simone de Beauvoir habe ich mit 18 gelesen. Eine Inspiration und ein großes Vorbild. Immer noch. Mir sagt Annie Ernaux und ihr autofiktionales Schreiben sehr zu. Ihre Familienarchäologie, die gleichzeitig Gesellschaftsanalyse ist. Nino Haratischwili hat sich mit ihrem Roman Das achte Leben in mein Herz geschrieben. Ein Meisterwerk. Ich schätze Patti Smith nicht nur als Musikerin, sondern auch als Schriftstellerin. Just Kids ist großartige Literatur, gleichzeitig erzählt das Buch viel darüber, was eine Künstlerpersönlichkeit ausmacht. Das Thema hat mich schon immer interessiert. Ich mag die Texte von Friederike Mayröcker, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler sehr. Die Malerin, Philosophin und Dichterin Etel Adnan habe ich vor einigen Jahren für mich entdeckt. Ihre künstlerische Kraft und Klugheit beindrucken mich.
DH: Was war für dich dein wichtigstes Buch im Verlag? Und warum?
BW: Die wichtigsten Bücher sind für mich tatsächlich das über Alma Rosé und das von Anita Lasker-Wallfisch. Beide beschäftigen sich mit unserer Vergangenheit und zeigen exemplarisch, wohin Diktatur, Faschismus, Rechtsextremismus und die Missachtung von Menschenrechten führen. Damit sind sie leider viel aktueller, als mir lieb sein könnte.
DH: Welches Buch hat sich am besten verkauft?
BW: Das sind Joost Zwagerman mit Duell, einem großartig geschriebenen Roman zum Thema zeitgenössische Kunst, Helen Wolffs Hintergrund für Liebe und Wsewolod Petrow, Die Manon Lescaut von Turdej (Übersetzung: Daniel Jurjew).
DH: Welches Buch hättest du gerne gemacht? Das kann ein existierendes sein oder eins, das du zu einer bestimmten Zeit gerne gemacht hättest, was aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ging.
BW: Ich hätte gerne Leila Chudoris letzten Roman verlegt, Laut Bercerita. Ein wichtiges, politisches und großartiges Buch. Aber das Interesse an indonesischer Literatur ist in Deutschland nach wie vor viel zu gering. Das finde ich sehr schade.
DH: Welche Themen liegen dir heute am Herzen, zu denen du dir Bücher wünschst?
BW: Eine richtig gut geschriebene und ausführliche Biografie zu Yoko Ono. Einer für mich prägenden und unglaublich vielseitigen Künstlerin. Mutig in ihren frühen Performances und radikal in ihren Texten und ihrer Musik, weit weit mehr als nur die Frau von John Lennon. Vermutlich hat sie ihn viel mehr beeinflusst, als er sie inspiriert hat.
Aber an sich glaube ich nicht, dass ich mir wünschen müsste, dass über etwas geschrieben wird. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, es wird bereits über wirklich alles geschrieben. Es gibt eine große Zahl von interessanten und wichtigen Romanen und Sachbüchern, national und international betrachtet, es erscheint ständig Neues. Literatur aus den Ländern Afrikas interessiert mich besonders. Ansonsten zeitgeschichtliche Stoffe, das Thema Feminismus, aber auch alles, was das Leben als Mensch ausmacht. Die literarische Qualität natürlich. Künstlerinnen, Briefwechsel, Nature Writing, eigentlich ganz viel.
DH: Was würdest du dir für die Zukunft wünschen? Für euren Verlag? Für unabhängige Verlage insgesamt?
BW: Für uns wünsche ich mir, dass wir unsere Spürnase und unser Glück, Verleger und Verlegerin zu sein, noch ein wenig behalten dürfen. Es ist ein Traumberuf, in dem man mit so vielen wunderbaren Menschen zusammenkommt, an guten Projekten sehr vielseitig arbeiten darf. Ein Geschenk.
Für unabhängige Verlage insgesamt: Dass sie ihre Unabhängigkeit behalten, dass sie überleben. Dass sie noch sichtbarer werden. Dass sie das Wilde, Schräge, Leidenschaftliche, Wunderbare, das die Literatur ausmacht, noch viel tiefer in unsere Gesellschaft hineintragen können. Dass ihre Unverzichtbarkeit verstanden wird.
DH: Vielen Dank für deine ausführlichen Antworten, Barbara!
Die Bücher des Weidle Verlags erscheinen als eBooks bei CulturBooks.
Das Jahresthema der BücherFrauen ist 2021 „Unabhängige Verlage“. Dazu wird es monatlich ein Interview mit einer Verlegerin eines Indie-Verlags geben:
Januar: Ulrike Helmer vom Ulrike Helmer Verlag
Februar: Britta Jürgs vom AvivA Verlag
März: Kristine Listau vom Verbrecher Verlag
April: Silke Weniger von der edition fünf
Mai: Andrea Krug vom Verlag Krug & Schadenberg
23. Juni 2021 um 08:34
Ein interessantes Interview mit vielen wichtigen Informationen über diesen Verlag, den ich zunehmend zu schätzen weiß, weil er literarische Schätze verlegt. Jedes Buch ist auf seine Art ein Juwel.
Danke dafür
24. Juni 2021 um 18:33
Danke für das hochinteressante Interview, Doris! Ein spannendes, organisch gewachsenes Verlagsprogramm und eine tolle engagierte Verlegerin, die wichtige Weichen in der Kurt-Wolff-Stiftung, u.a. für das Forum DIE UNABHÄNGIGEN auf der Leipziger Buchmesse, sowie seit kurzem bei LitProm gestellt hat. Wir sind froh, sie in der AG für den BücherFrauen Literaturpreis “Christine” zu haben.