Drei Tage nach dem Indiebookday geht es mit den Interviews mit unabhängigen Verlegerinnen weiter. Heute erklärt Kristine Listau, was es mit dem Verbrecher Verlag auf sich hat. Denn Bücher aus Indie-Verlagen gibt es schließlich immer und nicht nur an einem Tag im Jahr.
Doris Hermanns: Kristine, du bist Verlegerin beim Verbrecher Verlag. Was für ein Verlag ist dies, was macht ihr für Bücher?
Kristine Listau: Der Verbrecher Verlag steht in der Tradition linker Literaturverlage mit dem Schwerpunkt auf der Belletristik. Zunehmend hat aber auch das politische Sachbuch an Bedeutung in unserem Programm gewonnen. Es ist für uns sehr wichtig, unsere Gesellschaft mitzugestalten, da sind Bücher, die Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen sichtbar machen, sehr hilfreich und notwendig.
Neben der Veröffentlichung von guter Gegenwartsliteratur, sei es von Anke Stelling, Jovana Reisinger, Enno Stahl oder Dietmar Dath, und den Werkschauen wichtiger, aber fast vergessener Autor:innen wie Gisela Elsner und der Edition der Tagebücher Erich Mühsams setzt sich der Verlag für Debütant:innen wie Manja Präkels, Bettina Wilpert, Esther Becker oder Philipp Böhm ein.
DH: Der Verlag wurde 1995 gegründet, du bist aber erst 2016 dazugekommen. Wie war es für dich, in einen bestehenden Verlag einzusteigen? Wie konntest du dich dort einbringen, mit welchen Ideen und/oder Vorstellungen?
KL: Seit 2016 bin ich Mitinhaberin des Verlags. Genaugenommen bin ich allerdings seit Mai 2014 dabei. Da bin ich als Geschäftsführerin eingestiegen, habe mich aber gleich in die Programmgestaltung eingebracht. Nach und nach habe ich mich auch in andere Bereiche eingearbeitet, so bilde ich mittlerweile im Presse- und Veranstaltungsbereich aus, lektoriere, versuche, mich als Vertrieblerin zu gerieren, was für mich – aus Kulturförderung stammend – sehr schwer ist. Ich will nicht verkaufen, ich würde am liebsten alles verschenken. Furchtbar. Andererseits könnten wir nicht existieren und unsere Autor:innen nix verdienen. Also verhandle ich und verkaufe … Das alles mache ich aber auch mit meinem Mann und Mitverleger Jörg Sundermeier zusammen. Wir sind ein sehr gutes Team. Daher war der Einstieg nicht so schwer, und ich habe vorher im Frankfurter Kulturamt auch viel gestemmt und sehr vielseitig gearbeitet. Nun konnte ich meine Erfahrungen in ein Unternehmen überführen. Schwer war die finanzielle Situation. Es ist der Wahnsinn, was ein Verlag an Geldern verschlingt. Das kann schon Angst machen. Die Verantwortung wiegt schwer. Was aber auch großartig war und ist – die Kolleg:innen in anderen Verlagen. Ob groß oder unabhängig. Ich liebe die Buchbranche. Die Menschen sind offen und hilfsbereit. Ich habe sehr viel lernen dürfen.
Welche Ideen und Vorstellungen ich eingebracht habe? Wir machen jetzt mehr Bücher von Frauen. Wir warten nicht mehr, dass welche uns anschreiben, sondern suchen explizit. Dieses Mimimi, von wegen Frauen würden sich nicht melden, ärgert mich. Try harder, suche!, antworte ich darauf.
Und wir machen weniger belletristische Bücher pro Programm, um erstens den Autor:innen, die wir veröffentlichen, gerecht zu werden und ihnen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, zu ermöglichen, und zweitens, um sich selbst nicht absolut fertigzumachen. Ich bin zu alt, um 7 Tage die Woche 24 Stunden zu arbeiten.
DH: Hast du den Eindruck, dass sich das Verlagsprogramm dadurch geändert hat, dass du jetzt mitentscheidest? Mein Eindruck ist, dass es seither mehr Bücher von Frauen gibt.
KL: Ja, genau. Wie in der letzten Antwort gesagt, ist es tatsächlich so. Wir machen mehr Frauen und achten darauf, dass das Verhältnis von Frauen und Männern im Programm mindestens ausgeglichen ist. Darauf achten jedoch mittlerweile alle im Verlag. Ich verstehe auch gar nicht, wie es dazu kommt, dass heutzutage Verlage rein männliche Programme aufstellen können. Wie geht das?
Dazu kommt meine migrantische Perspektive. Es war für mich beispielsweise sehr wichtig, Ich bin Özlem von Dilek Güngör zu veröffentlichen. Die Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder irgendwelcher idiotischer Zuordnung als Nicht-Deutsche bzw. als „anders“ macht mich rasend. Aber auch hier sind wir uns einig im Verlag. So ist das, wenn man in einem linken, auf solidarische Gesellschaft hin arbeitenden Verlag tätig ist. Da ist es leicht, Gedanken um Teilhabe und Sichtbarkeit zu platzieren.
DH: Wie hat sich das Programm im Laufe der Jahre geändert und erweitert? Und wodurch? Welche Serien oder Reihen gibt es? Und wie ist in etwa das Verhältnis zwischen Sachbuch und Belletristik?
KL: Bei ca. 12 bis 15 Büchern pro Programm sind es bis zu vier belletristische Werke von lebenden Autor:innen, dann kommt vielleicht eine Neuausgabe dazu und/oder ein Titel in einer Werkausgabe plus sechs bis acht Titel im Sachbuchbereich und in der Wissenschaft. Wir verhindern aber auch keine Titel, falls diese Proportion nicht stimmt. Wir orientieren uns daran, weil es so recht gut funktioniert hat in den letzten Jahren.
Wir versuchen möglichst alle Werke von Gisela Elsner, Rudolf Lorenzen, Giwi Margwelaschwili und Christian Geissler herauszubringen. Und auch von Ronald M. Schernikau. Bald kommt auch eine Frau dazu, da ist aber noch nicht alles in trockenen Tüchern. Daher verrate ich nicht, wer das ist.
Dann bringen wir die Golden Books des Theaters NTGent heraus, dessen Intendant Milo Rau ist.
Sehr stolz bin ich auf die von mir initiierte Reihe „kurze form“, die wir den Erzählungen widmen. Angeblich seien diese unverkäuflich, also machen wir das jetzt und gestalten die Bücher besonders wertvoll. Am 8. März 2021 erschien der zweite Band: Asja Bakićs Erzählungen unter dem Titel Mars, übersetzt von Alida Bremer. Die Erzählungen sind nicht nur feministisch und sprachlich herausragend, begeistert hat mich die Methode, Elemente aus der Genre-Literatur in die Texte zu integrieren: Phantastik, Erotik, Krimi, Science-Fiction. Den ersten Band Grundlagenforschung von Anke Stelling haben wir übrigens in die 2. Auflage gebracht. Es folgen die Erzählungen von David Wagner, Philipp Böhm und Jovana Reisinger. Ein Band pro Programm.
DH: Wie unterscheidet sich euer Verlag als einer der unabhängigen von den Konzernverlagen? Warum sind die Indie-Verlage für dich wichtig?
KL: Zunächst einmal sind wir, die unabhängigen Verlage, wendiger und brauchen weniger Geld. Das ist gerade in Krisenzeiten wie den derzeitigen von Vorteil. Wir zahlen weniger Miete und haben weniger Personalkosten. Und wir sind es gewöhnt, mit wenig Geld auskommen zu müssen, arbeiten leider jedoch selbstausbeuterischer.
Diese Selbstausbeutung kommt aber meist aus idealistischer Einstellung. Wir machen Bücher, um die Welt besser zu machen oder schöner oder phantastischer oder gerechter. Feministischer, queerer, toleranter. Und nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Wir – die unabhängigen Verlage – sehen erst die Notwendigkeit eines Buches, und dann schauen wir, wie wir es finanzieren. Klingt naiv? Nein, ist es nicht. Wir nehmen die Sache ernst, die Kunst, für uns ist es nicht Content oder ein Produkt. Was entsteht, ist die Bibliodiversität, dafür stehen wir, die unabhängigen Verlage, ein. Ohne uns wäre die Buchwelt um ein Vielfaches ärmer. Stünde das wirtschaftliche Prinzip an erster Stelle, wären viele unserer Bücher niemals erschienen. Ich will damit nicht die Leistung unserer Kolleg:innen in Konzern-Verlagen schmälern. Auch da erscheinen großartige Bücher, wird feministisch und identitätspolitisch sich eingesetzt, aber bei weitem nicht so vielfältig, wie es die unabhängige Verlagslandschaft kann.
DH: Wie viele seid ihr im Verlag? Gibt es bei euch Festangestellte und/oder Honorarkräfte, zum Beispiel für das Lektorat oder Übersetzungen?
KL: Wir haben einen festangestellten Setzer, Christian Walter. Ab und zu beschäftigen wir auch freie Setzerinnen.
Übersetzungen machen wir sehr wenig, da sie riskanter in der Refinanzierung sind. Aber dieses Jahr hat Alida Bremer für uns eben den Erzählungsband Mars aus dem Kroatischen übersetzt, und im Herbst erscheint ein Roman von Nataša Kramberger übersetzt von Liza Linde aus dem Slowenischen. Einen zu übersetzenden Titel nehmen wir aber eigentlich nur ins Programm, wenn wir eine Übersetzungsförderung bekommen. Eigentlich. Das Buch Bibliodiversität. Manifest für unabhängiges Publizieren haben wir dennoch gemacht und damit auch einiges Geld verloren. Schade, aber weinen werden wir deswegen nicht. Zum Heulen sind vielmehr die schlimmen buchwirtschaftlichen Verhältnisse, die Susan Hawthorne darin beschreibt (Hoffnung gibt es aber auch, durch die Solidarität der unabhängigen Verlage).
DH: Aber gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass es nicht nur um finanziellen Erfolg geht. Der Begriff Bibliodiversität wird seit Erscheinen des Buches inzwischen immer häufiger benutzt, das würde ich auch als Erfolg sehen, denn es wird darüber gesprochen, wie wichtig sie ist. Aber weiter zum Verlag …
KL: Seit Jahren arbeiten wir mit drei Vertreter:innen (Christiane Krause, Michel Theis und Regina Vogel) für den Buchhandel in Deutschland und seit zwei Jahren mit Anna Güll in Österreich zusammen. Ohne sie wären wir aufgeschmissen.
Wir beschäftigen zudem zurzeit drei Honorarkräfte. Sara Trapp ist verantwortlich für unsere Pressearbeit. Theresa Meschede akquiriert Lesungen, Johanna Seyfried hilft mir bei der Geschäftsführung. Dazu kommen ein bis zwei Praktikant:innen. Lektorat ist die schönste Arbeit, daher teilen Jörg und ich diese unter uns auf. Und ja, wir sparen damit auch Kosten. Aber vor allem will ich selbst mit Autor:innen, die ich ausgewählt habe und die mich inspirieren, zusammenarbeiten.
DH: Der Verbrecher Verlag ist Mitglied in der Kurt Wolff Stiftung. Was bedeutet das für euch?
KL: Es bedeutet vor allem, nicht allein zu agieren. Unser Netzwerk ist groß, stark und einander sehr zugetan. Ich rufe nicht selten Kolleg:innen an, um über gemeinsame Probleme zu sprechen oder Know-how zu holen. Woher soll ich zum Beispiel wissen, wie ich eine Lagerbewertung vornehme. Das klingt schon so schrecklich. Jedenfalls rief ich einen Kollegen an, et voilá: Ist ja total einfach. Will ich Bücher nach Frankfurt transportieren, weil die Spedition das Jahr davor versagt hat, maile ich ein paar Kolleg:innen und habe gleich drei Mitfahrgelegenheiten für die Bücher. Und wir machen gegenseitig für uns Werbung und tauschen Bücher und sprechen begeistert miteinander über diese. Ich liebe es, Teil dieses Netzwerks zu sein.
DH: Was hat es mit den „Verbrecher Versammlungen“ auf sich?
KL: Vor Corona waren es die von uns organisierten Veranstaltungen. Einmal pro Monat präsentierten wir in der Fahimi Bar in Berlin-Kreuzberg unsere Novitäten. Es wurde vorgelesen, diskutiert, geraucht und getrunken. Hoffentlich können wir es bald wieder alle gemeinsam tun.
DH: Euer Motto lautet „Verbrecher Verlag – gute Bücher!“ Was verstehst du, versteht ihr unter guten Büchern?
KL: Gute Literatur und gute Sachbücher auf gutem Papier, das länger hält und nicht vergilbt. Es sind auch Bücher, die nicht nur im Jetzt und Hier aktuell sind. Bücher, die wir verehren und lieben und nie missen wollen.
DH: Wie sieht euer Programm aktuell aus? Was hat sich geändert? Was zeichnet es aus?
KL: Mehr Frauen. So besteht die Belletristik im aktuellen Programm aus vier Frauen und einem Mann: Asja Bakić (Mars. Erzählungen, übersetzt von Alida Bremer), Esther Becker (Wie die Gorillas, Debütroman), Jovana Reisinger (Spitzenreiterinnen, Roman), Wendy Law-Yone (Dürrenmatt and Me. Die Passage einer Schriftstellerin von Burma nach Bern. Essay), Milo Rau (Grundsätzlich unvorbereitet. 99 Texte über Kunst und Gesellschaft. Kurze Prosa).
Wir haben zudem das Glück, von großartigen Autor:innen und Herausgeber:innen angesprochen zu werden, die uns sehr wichtige Sachbücher anbieten, sei es über den Münchner NSU-Prozess, über Frauen:rechte und Frauen:hass, identitätspolitische Diskurse, Dekolonialisierungsdiskurs. Diese Felder sind von großer Bedeutung für uns und unsere Leser:innen. Ich freue mich z. B. schon sehr auf das Buch Gojnormativität von Judith Coffey und Vivien Laumann, das im Herbst erscheint. Allein der Titel!!!
DH: Ihr habt ja in den letzten Jahren immer wieder zahlreiche Bücher verlegt, die ausgezeichnet wurden. Kannst du einige Beispiele nennen und wie sich das ausgewirkt hat.
KL: Ich nenne hier drei Romane, die gleich mehrere Preise abgeräumt haben:
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Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert, ZDF-aspekte-Literaturpreis 2018, Kranichsteiner Literaturstipendium 2019, Förderpreis des Lessing-Literaturpreises 2019. Wir haben über 6000 Hardcover verkauft, btb verkauft das Taschenbuch, zahlreiche Theateraufführungen, Filmoption, Übersetzungen ins Niederländische, Griechische und Slowenische. Sehr viele Lesungen.
2. Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2018, Deutscher Jugendliteraturpreis 2018, Anna Seghers-Preis 2018. Wir haben über 15.000 Hardcover verkauft, btb verkauft das Taschenbuch. Es wird in Schulen gelesen, Theateraufführungen, Filmoption, Übersetzungen ins Griechische und Italienische. Unfassbar viele Lesungen.
3. Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen: Preis der Leipziger Buchmesse 2019, Friedrich-Hölderlin-Preis 2019 der Stadt Bad Homburg. Hier haben wir weit über 30.000 Hardcover verkauft, btb verkauft das Taschenbuch, Filmrechte, Theateraufführungen, Übersetzungen ins Englische, Russische, Dänische. Lesungen en masse.
Preise bringen zumeist mehr Aufmerksamkeit für die Autor:innen. Das heißt, dass sie häufiger zu gut bezahlten Buchvorstellungen und Diskussionen eingeladen werden. Wir verkaufen mehr Bücher und Lizenzen. Denn für Verlage außerhalb Deutschlands sind vor allem die Verkäufe innerhalb Deutschlands relevant. Was wir gut verstehen können, wenn das Buch die eigene Community bereits überzeugt hat, kann es eher eine weitere erobern. Muss aber nicht sein. Das Big-in-Japan-Prinzip funktioniert auch in der Literatur.
DH: Was sind die Kriterien, nach denen du bzw. ihr entscheide(s)t, ob du ein Buch machst? Wie kommen die Bücher zu euch?
KL: Bei der Belletristik ist es die Sprache. Das ist das Wichtigste. Gefällt sie mir, macht sie mich neugierig, ist sie besonders, dann lese ich überhaupt weiter. Bei der Belletristik geht es uns um die Kunst. Die Geschichte und die Aussage sind eher zweitrangig. Natürlich gefällt es uns sehr, wenn wertvolle politische Aussagen verarbeitet werden. Wie gesagt, wir wollen unsere Gesellschaft gestalten, hin zu einer besseren, also solidarischen, wollen den Blick der Öffentlichkeit schärfen, denn wir verfolgen einen selbstauferlegten Kultur- und Bildungsauftrag. Nicht selten liefern Romane, Erzählungen und Essays hierzu wertvolle Erkenntnisse. Allerdings ist das Wie entscheidend. Anke Stelling hat mal bei einem Interview formuliert, ihr Roman sei „kein ARD-Brennpunkt“. Ich musste so sehr lachen. Dabei ist es empörend, dass die Kunst, die literarische Methode, die gewählte Ansprache der Leser:innen hinter die Aussage des Textes treten, wenn Kritiker:innen oder Leser:innen das ganze Buch auf diese reduzieren. Und das ist zumeist der Fall, wenn der Nerv der Zeit getroffen wird. Das ist auch sehr schön, doch nicht das Kriterium, wonach wir unsere Belletristik auswählen. Bei unseren Sachbüchern hingegen legen wir natürlich sehr viel Wert auf Gegenwärtigkeit. Und auch in der Wissenschaft geht es uns um Relevanz. Aber die Wissenschaft steht dabei selbstverständlich im Vordergrund.
Da wir bereits sehr viele Autor:innen unter unserem Verlagsdach haben, müssen wir neue Bücher nicht unbedingt suchen. Nächstes Frühjahr kommen die jeweils zweiten Romane von Manja Präkels und Bettina Wilpert. Andere schreiben gerade. Ich freue mich auch schon riesig auf den nächsten Band der Edition Bildungsstätte Anne Frank. Diesmal zum Antisemitismus und Rassismus. Es wird eine Neuausgabe des ersten Romans von Dietmar Dath im Herbst geben. Aber wir lassen uns natürlich auch von neuen Autor:innen begeistern, selbst wenn gerade nur sehr wenige Lücken im Programm aufscheinen.
DH: Gibt es ein Vetorecht bei euch, wenn eine oder einer ein Buch nicht machen möchte, wenn andere es wollen?
KL: Na ja, das ist schwierig, wenn die Entscheider:innen sich lieben. Es heißt nicht, dass wir uns gar nicht streiten. Natürlich streiten wir. Bloß wenn die/der andere das Buchprojekt unbedingt will, wird die bzw. der andere weich. Und ja, wir konsultieren auch unsere Kolleg:innen und lassen uns bestärken und/oder überzeugen. Der finanzielle Aspekt hat manchmal das Vetorecht. Aber da wir die Buchprojekte nicht als Profit-Center betrachten, gelingt uns manchmal trotzdem das eine oder andere. Jedenfalls zählt bei uns eher das unbedingte Wollen als das Nichtwollen für die Realisierung eines Buches.
DH: Wie wichtig ist Feminismus für dich im Verlag?
KL: Sehr wichtig, für uns alle. Die Annahme eines patriarchalen Weltbildes muss raus aus den Köpfen. Zudem ist es wichtig, gegen weitere Supremacy-Ansätze vorzugehen. Herkunft, Zugehörigkeit zu Klasse, Gender, Kultur, Aussehen dürfen niemanden diskriminieren. Daher ist der identitätspolitische Diskurs für mich auch sehr wichtig. Es ist unfassbar verletzend, als anders, als nicht zugehörig behandelt zu werden. In der Sowjetunion war ich Deutsche, hier in Deutschland Russin – ich wäre aber am allerliebsten einfach Kristine. Diese zermürbenden Diskussionen um Herkunft, was man sein soll – und ich bin ja weiß. Noch schrecklicher ist es für Personen of Color. Dass man sich rechtfertigen muss, welchen Pass man hat, wo man lebt, dass man sich schämt für den Akzent oder dafür, dass man eine andere Muttersprache hatte. Heute macht mich das wütend, früher unfassbar traurig. Insgesamt gilt aber auch für uns: Niemand hat zu hierarchisieren, was wen mehr verletzt. Das obliegt nur dem eigenen Selbst. Daher versuchen wir unser Tun feministisch, identitätspolitisch und intersektionalistisch zu reflektieren.
DH: Die Werke welcher Autorinnen waren und sind dir wichtig?
KL: Das feministische Aha-Erlebnis hatte ich bei Medea. Stimmen von Christa Wolf. Insgesamt sind es aber zu viele großartige Bücher. Ich nenne nur ein paar: alles von Irmgard Keun, Heilig Blut von Gisela Elsner, Der Geliebte von Angelika Schrobsdorff, Das Mädchen von Angelika Klüssendorf, Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky, Bodentiefe Fenster von Anke Stelling, Coming of Karlo von Lisa Kränzler, Spitzenreiterinnen von Jovana Reisinger und eh alle unsere Autorinnen. Sie sind mir ganz besonders wichtig. Denn ich habe mich in ihre Texte verliebt, bevor ich mich entschieden habe, sie ins Programm aufzunehmen. Und das ist keine flüchtige Liebe.
DH: Was war für dich dein wichtigstes Buch im Verlag? Und warum? Welches hat sich am besten verkauft?
Wichtigstes Buch? Wichtigste Bücher gibt es einige, es sind für mich vor allem diejenigen, die sich mit Faschismus, Nationalismus, Frauenhass, Antisemitismus und Rassismus beschäftigen. Ich nenne stellvertretend: Faschistische Ideologie. Eine Einführung des israelischen Historikers Zeev Sternhell. Dieser kurze Essay beschreibt die faschistischen Bewegungen Europas Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist unglaublich, dass die faschistische Denke sich heute von damals kaum unterscheidet bzw. wir lernen, wie die Betonung des Gefühls, der Natur und des Körpers sowie die damit einhergehende Intellektuellenfeindlichkeit bis heute sich in der Sprache der Faschist:innen wiederfinden. Am besten verkauft hat sich Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen mit ca. 35.000 gedruckten Exemplaren, 5.000 E-Books, über 10.000 Taschenbüchern.
DH: Welches Buch hättest du gerne gemacht? Das kann ein existierendes sein oder eins, das du zu einer bestimmten Zeit gerne gemacht hättest, was aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ging.
KL: Ich hätte sehr gerne die Werkausgabe von Irmgard Keun gemacht … Aber so hatten die Arbeit die Kolleg:innen von Wallstein und ich darf lesen. Auch gut.
DH: Und von welchem Buch findest du, dass es endlich mal eine schreiben sollte? Worüber würdest du gerne lesen?
KL: Vielleicht bin ich eine Romantikerin, was Buchproduktion angeht, denn ich glaube an die Autor:innen und deren Kunst. Ich mag nichts beauftragen, ich will mich verlieben bzw. erkennen: Dieses Buch muss in die Welt und ich es machen.
DH: Welche Themen liegen dir heute am Herzen, zu denen du dir Bücher wünschst?
KL: Wir brauchen mehr Analyse der ökonomischen Verhältnisse. Auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaft kann niemals nachhaltig sein in keiner Hinsicht. Das Problem kann auch nicht sein, dass eine Klasse diskriminiert wird, sondern dass es Klassen überhaupt gibt. Könnte aber auch sein, dass es da schon einiges gibt, nur ich weiß nichts davon. Dieser Themenkomplex beschäftigt mich zusehends. Als Unternehmerin sowie als Arbeiter:innenkind.
DH: Was würdest du dir für die Zukunft wünschen? Für euren Verlag? Für unabhängige Verlage insgesamt?
KL: Ich wünsche mir und der gesamten Buchbranche, dass die seit dem ersten Lockdown anhaltende Begeisterung für Bücher nicht schwindet. Dass die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten ihren Kultur- und Bildungsauftrag erfüllen.
Was ich dem Verbrecher Verlag wünsche: Dass wir fünf bis sechs angestellte Personen sind, die ein Gehalt bekommen, von dem wir angstlos leben können. Dass wir so viele Bücher verkaufen, dass unsere Autor:innen davon leben können, wenn sie es wollen. Dass wir weiterhin mit Freude tun, was wir tun. Das alles wünsche ich auch meinen Kolleg:innen in unabhängigen Verlagen. Denn zusammen stehen wir für die Bibliodiversität, die die Menschheit braucht.
Danke schön.
DH: Dir auch ganz herzlichen Dank für die ausführlichen Auskünfte!
Auszeichnungen:
2014: Kurt Wolff Preis
2016: Jörg Sundermeier: Karl-Heinz Zillmer Preis für verdienstvolles verlegerisches Handeln
2019: Berliner Verlagspreis (gemeinsam mit dem Berenberg Verlag)
2019 und 2020: Deutscher Verlagspreis
Zahlreiche Auszeichnungen veröffentlichter Bücher …
© der Fotos: Verbrecher Verlag
Das Jahresthema der BücherFrauen ist diesmal „unabhängige Verlage“. Dazu wird es monatlich ein Interview mit einer Verlegerin eines Indie-Verlags geben:
Januar: Ulrike Helmer vom Ulrike Helmer Verlag
Februar: Britta Jürgs vom AvivA Verlag
24. März 2021 um 08:02
Hervorragend! Wieder ein super interessantes Interview (wie die beiden zuvor), was (natürlich) auch an den reflektierten Fragen liegt. Ich bin schon gespannt auf die nächsten Ausgaben. Vivent les indépendantes!