Foto: © Jean Malek
Es war eine der ganz Großen, die am Sonntag in der Paulskirche in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihr „politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen“ ausgezeichnet wurde: die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood. Sie ist nicht nur eine der bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit, sondern ihr Werk umfasst auch eine enorme Bandbreite: Neben ihren Romanen, für die sie weltweit bekannt ist, schreibt sie seit Jahrzehnten auch Kurzgeschichten, Lyrik und Kinderbücher sowie Sachbücher und Essays.
Die Schriftstellerin Eva Menasse, die die Laudatio auf Margaret Atwood hielt, lobte gleich zu Anfang die „Präzision der Messerwerferin, mit der sie ihre Figuren mit drei, vier Sätzen nicht nur umreißt, sondern unvergesslich macht“, wies aber auch auf ihre politische Stimme hin, die nicht nur in ihren Interviews deutlich wird, sondern auch in ihren Sachtexten, wie z. B. dem literarischen Essay Payback. Schulden und die Schattenseiten des Wohlstands.
Das Buch, das in allen Reden an diesem Sonntagmorgen genannt wurde und auf das sich Eva Menasse auch weitgehend bezog – sie konnte sich nur schmerzhaft beschränken und nicht auf Atwoods Gesamtwerk eingehen –, ist ihr wohl wichtigstes Werk: The Handmaid’s Tale oder wie es im Deutschen heißt Der Report der Magd, geschrieben im Orwell-Jahr 1984 und inzwischen ein Klassiker. Dass es heute ihr bekanntestes Werk ist, ist nicht nur der “Serie mit Suchtfaktor” zu verdanken, die gerade auch im deutschen Fernsehen angelaufen ist, sondern vor allem der beängstigenden Aktualität, die diese Geschichte einer totalitären Gesellschaft hat, in der religiöse Fundamentalisten die Macht übernommen haben. Dass Frauen dabei entmündigt und als Gebärmaschinen missbraucht werden und Menschen überwacht werden, gehört bekanntlich zu den Grundlagen totalitärer Systeme.
Aber natürlich würdigte Menasse Atwood darüber hinaus als „eine immens kreative und produktive Autorin, ihr Werk ist von tropischer Vielfalt und reicht von wie hingetupften autobiographischen Erzählungen zu aufwendig gestalteten Zukunftsromanen“.

© Britta Jürgs
Und da Atwood eine Geschichtenerzählerin ist, die u. a. mit Grimms Märchen aufgewachsen ist, erzählte sie auch in ihrer Dankesrede mit ihrem wunderbar trockenen Humor eine Geschichte: nämlich die vom Wolf im Schafspelz (bzw. sogar im Wolfspelz), der den Kaninchen einredet, dass sie einen starken Anführer brauchen, und ihnen eine perfekte Welt verspricht – dafür aber erst einmal die Zivilgesellschaft abschaffen möchte und diese Leute. Dass es sich hierbei nicht nur um ein Märchen handelt, sondern auch um ein aktuelles politisches Statement, zeigte sich gerade auf der Buchmesse in Frankfurt, wo die Situation mit rechten Verlagen eskalierte.
Völlig zu Recht wies der Börsenverein in seiner Begründung darauf hin, dass Atwood die sich wandelnden Denk- und Verhaltensweisen ins Zentrum ihres Schaffens stellt und sie in ihren utopischen wie dystopischen Werken furchtlos auslotet: „Indem sie menschliche Widersprüchlichkeiten genau beobachtet, zeigt sie, wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann.“ Und genau hierin liegt Atwoods Stärke: In ihren Dystopien, wie z. B. in der MaddAddam-Trilogie, erfindet sie keine neuen Welten, sondern setzt sich mit der Frage auseinander, „was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher“? Ihren sprachgewaltigen, vielfältigen und literarisch eindringlichen Werken liegt vor allem ihre Neugierde zugrunde, durch die sie uns in die unterschiedlichsten Welten entführt. Neben ihren Zukunftsromanen sind dies u. a. auch historische Romane wie z. B. alias Grace und Der blinde Mörder, in denen die Geschichten von Frauen im Mittelpunkt stehen.
Bereits seit 1950 verleiht der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Berufsorganisation der Verlage und Buchhandlungen in der Bundesrepublik Deutschland, jährlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. “Im Friedenspreis wird die Verpflichtung des Buchhandels, mit seiner Arbeit der Völkerverständigung zu dienen, eindrucksvoll sichtbar.” Wie wenig selbstverständlich dies in den heutigen Zeiten ist, wurde leider auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse deutlich, an der rechte Verlage, die keineswegs der Völkerverständigung dienen, nicht nur teilnahmen, sondern auch Veranstaltungen durchführten.
Wie Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in seinem Grußwort über Margaret Atwood sagte: „Sie öffnet uns mit ihren Romanen aber auch die Augen dafür, wie düster eine Welt aussehen kann, wenn wir unseren Verpflichtungen für ein friedliches Zusammenleben nicht nachkommen.“ In diesem Sinne kann ich nur sagen: Lest die Bücher von Margaret Atwood!
Und da ich zu den Frauen gehöre, die sich durchaus gern mit Zahlen beschäftigen, hier noch ein paar Angaben: Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wurde bis heute 68-mal verliehen, davon ging er neunmal an eine Frau (davon einmal an ein Ehepaar) und einmal an eine Gruppe. Seit 2000 scheint sich das Verhältnis etwas gebessert zu haben: Von den 18 Auszeichnungen gingen fünf an Frauen. Bei den Laudationes sieht es noch schlechter aus: Nur sieben Frauen durften eine Lobrede halten – wo es doch sonst üblich ist, dass Frauen die Leistungen von Männer eher loben dürfen, als dass ihre eigenen gelobt werden, eher erstaunlich.
Vorschläge für das nächste Jahr können bis zum 1. März 2018 mit einer kurzen Begründung an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Geschäftsstelle Friedenspreis, z. Hd. Martin Schult, Schiffbauerdamm 5, 10117 Berlin, E-Mail: m.schult@boev.de, geschickt werden.
Mein Vorschlag für nächstes Jahr: die türkische Physikerin, Autorin und Journalistin Aslı Erdoğan.
18. Oktober 2017 um 13:23
sehr schön, nach diesem treffenden Bericht, gleich uns alle zur Beteiligung via Vorschlag vielleicht aufzufordern und damit dazu beizutragen, dass sich das genannte Zahlenverhältnis weiter verbessert. Ich bin ja noch ganz geblendet, von den Preisträgerinnen und deren Laudatorinnen von 2016 und 2017. Aber ich überlege mal, ob mir nochmals was einfällt. Schließlich möchte ich unter anderem auch mal wieder eingeladen werden, um wie schon zwei Mal zuvor, die Preisverleihung in der Paulskirche live zu erleben. Das war doch ein außerordentliches Erlebnis.
18. Oktober 2017 um 15:18
Liebe Doris, danke für diesen allumfassenden und inspirierenden Artikel 🙂