„Mission for the Children“, so überschrieb Jella Lepman ihren Bericht über die 1948 auf Einladung der Rockefeller Foundation unternommene Werbe-Reise durch die USA zur ideellen, fachlichen und finanziellen Unterstützung einer geplanten internationalen Jugendbibliothek. „Mission“ kann in vielen Sprachen sowohl „Auftrag“ als auch „Sendung“, also ebenso Pflicht wie Vision bedeuten – und genau in diesem Doppelsinn verstand sie ihre Lebensaufgabe. Wer Jella Lepman folgt, dem erschließen sich in dieser doppelten Betrachtungsweise Zusammenhänge, die angesichts der politischen Lage besonders aktuell erscheinen.
Am 4. Mai 2017 wurde im Goethe-Institut Madrid die neue im Creotz-Verlag erschienene spanische Übersetzung der Lebenserinnerungen von Jella Lepman „Die Kinderbuchbrücke“ (1964) vorgestellt. Prof. Birgit Dankert übernahm auf Einladung des Goethe-Institutes die Einführung. Der Vortrag wird hier mit kleinen Änderungen wiedergegeben.
Jella Lepmans Leben vor der Emigration 1936
Rückblickend sind die biografischen und weltanschaulichen Hintergründe der „mission“ klar erkennbar. Jella Lepman war Tochter aus großbürgerlichem Haus einer liberal-jüdischen Unternehmer-Familie in Stuttgart. Noch im 19. Jahrhundert geboren, erfuhr sie prägende Kinderjahre mit bester Erziehung vor dem Ersten Weltkrieg. Das familiäre Rüstzeug wie Disziplin, Leistungsethik und gesellschaftliche Eloquenz – auf ein sozial verantwortungsvolles, aber sorgenfreies Leben ausgerichtet – wurde zum Überlebensprogramm in Situationen, die sie wohl nie für möglich gehalten hätte. Ihr Ehemann Gustav Horace Lepman war Deutschamerikaner. Er starb 1922 an den Einwirkungen des Weltkrieges, an dem er als Offizier der deutschen Armee teilgenommen hatte. Früh verwitwet und Mutter von zwei Kindern wurde sie Redakteurin der liberalen Tageszeitung „Stuttgarter Neues Tagblatt“. Zur Reichstagswahl 1929 kandidierte sie neben Theodor Heuss für die Deutsche Demokratische Partei. Es fröstelt einem, wenn man sich klar macht, welche Angriffsflächen sie mit diesem aufgeklärten, selbstständigen, gebildeten, sozial engagierten Frauenleben, das schon damals international und nicht national ausgerichtet war, den Schergen der nationalsozialistischen Diktatur bot.
Sie emigrierte 1936 mit den Kindern nach London und fand dort über mühsame Jahre kleinteiliger Gelegenheitsbeschäftigungen Zugang zum britischen Rundfunk, zu Propaganda-Aktionen der Britischen Regierung und 1941 zur American Broadcasting Station in London.
Emanzipation weiblicher Medientätigkeit
Vor allem aber lernte sie Vorgehen und Ethik britischer und US-Journalistinnen kennen, deren Kriegs- und Nachkriegsberichterstattung der Emanzipation weiblicher Medientätigkeit zuarbeitete, gleichzeitig aber auch einen ganz eigenen, weiblich orientierten Blick auf das politische Geschehen warf. Ein Schlüsseltext hierfür war Anne O’Hare McCormicks Artikel „Bulldozer and the woman with a broom“ in der TIMES vom 28.03.1945, auf den Jella Lepman in der „Kinderbuchbrücke“ eingeht. O’Hare Mc Cormick hatte als erste Frau den Pulitzer-Preis erhalten. Der Artikel berichtet vom Aufräumen der Kriegstrümmer, die Männer angerichtet haben und Frauen nun wegräumen, um Platz für eine friedliche Welt zu schaffen.
Mission statt Mythos Trümmerfrau
Dieses Bild meinte etwas anderes als der deutsche Mythos von den Trümmerfrauen. Und nur diese angelsächsische Interpretation von der Situation 1945 bot Jella Lepman einen Zugang, eben eine Brücke, als Jüdin und Emigrantin, als Journalistin, britische Staatsbürgerin und in der US-Uniform mit einer Mission, einer Aufgabe und Botschaft nach Deutschland zu reisen. Klaus Mann hat etwas Ähnliches versucht. Jella Lepman aber kehrte nicht wirklich zurück in eine deutsche Heimat. Sie kam nicht, um zu bleiben, kehrte nicht zurück. Während ihrer gesamten folgenden Arbeit in Gremien, Veranstaltungen und Einrichtungen zur Völkerverständigung mithilfe von Kinderliteratur und Kinderkunst blieb sie dem Ethos des weiblichen Journalismus treu. Ihr erster Arbeitsplatz in München war die Redaktion der US-Besatzungszeitung „Heute“. Auch der Ton ihrer Erinnerungen in der „Kinderbuchbrücke“ zeigt sie als Journalistin.
Rückkehr als Adviser für Jugendfragen der US-Armee
Mrs. Lepman, wie sie folgerichtig in Deutschland angesprochen werden wollte, landete am 29. Oktober 1945 in Frankfurt als „Adviser für Jugendfragen“ im Range eines Majors der US-Armee. Ihren Auftrag definierte man militärisch korrekt als Teil eines Erziehungs- und Kulturprogrammes, zu dem Institutionen wie die Amerika-Häuser, die britische Einrichtung „Die Brücke“, die Vorläufer der „Institutes Francaise“ und die sowjetischen „Häuser der Freundschaft“ gehörten. Namentlich die angelsächsische „Re-education“ bot der deutschen Bevölkerung nach zwölf Jahren selbst verschuldeter Isolation Einblick in und Teilhabe an internationaler Musik, Kunst, Literatur, aber auch demokratisch-parlamentarischen Spielregeln. Integraler Bestandteil waren öffentliche Bibliotheken. Natürlich handelte es sich um Einrichtungen politischer Propaganda und Einflussnahme der Siegernationen. Gleichzeitig gehört es aber zur Würde und Ehre der Mitarbeiter, dass ihre engagierte Arbeit und ihre durchweg liberalen Angebote ihnen immer wieder Kritik von besorgten Politikern und Finanziers ihrer Herkunftsländer eintrug. Hier passt Jella Lepman genau ins Bild.
Re-Education für Kinder und Jugendliche
Sie konzipierte ein Re-Education-Projekt für Kinder und Jugendliche – weil die ihr als Frau ihrer Generation auch beruflich nahestanden, weil Kinder und Jugendliche als einsichtige Zielgruppe der Erziehung zu Friedensfähigkeit und Demokratie erschienen und weil sie in ihnen keine Schuldigen an Diktatur, Holocaust, Krieg und Barbarei argwöhnen musste. Die Kriegskinder, auf die sie in München, Stuttgart und Berlin traf, waren allerdings keine harmlosen, „unbeschriebenen Blätter“, auch keine Analphabeten. Der Ausdruck „Re-“Education traf die Aufgabe schon sehr präzise.
Zur Durchsetzung ihrer Pläne hielt sie den militärischen Dienstweg von der Information Control Division im US-Hauptquartier in Bad Homburg bis ins Pentagon in Washington durch. Gleichzeitig aber setzte sie auf inoffizielle Kontakte ihres gesellschaftlichen Netzwerkes von der Zeit vor ihrer Emigration, auf Institutionen und Personen des „guten Amerika“, wie sie mit General John Jay McCloy (1895–1989), dem Hochkommissar der Alliierten, mit Ikonen wie Eleonore Roosevelt (1884–1962), mit Hilfsorganisationen wie CARE und humanitären Stiftungen wie der Rockefeller Foundation jene Epoche geprägt haben.
Der dritte Faktor ihres außerordentlichen Erfolges in schwieriger Zeit war ihre mit unglaublicher Energie betriebene Eigeninitiative – Briefaktionen, Besuche, Bettel-Adressen, kleine Erpressungen, Charme-Offensiven einer eleganten erfahrenen Frau Mitte fünfzig.
Jella Lepman benutzte ihre privilegierte Situation zur Verwirklichung eines humanitären Programmes, das aus den Bausteinen
- Kinder- und Jugendbücher internationaler Produktion,
- Ausstellungen internationaler Kinder- und Jugendbücher;
- Bibliotheksarbeit für Kinder und Jugendliche;
- Kunst für Kinder;
- internationale, d. h. übernationale, nicht staatliche Gremien als Lenkungsinstrumente
bestand.
Neuer Geist in der deutschen Kinderliteratur
Dass Produktion und Verteilung von Kinderbüchern sowohl etwas mit Lizenzen und Ankurbelung des Buchmarktes als auch mit der Implementierung eines neuen Geistes in der Kinderliteratur und in den jungen Köpfen ihrer Leserschaft zu tun hatten, war ihr sehr wohl bewusst. Sie setzte dabei auf die Gesetze des freien Marktes und auf institutionelle Erziehung – die ihr als Delegierte einer Besatzungsmacht freilich nur in bestimmter Auswahl zur Verfügung stand. Als Vehikel des internationalen Kulturaustausches mit dem Kinder- und Jugendbuch wählte sie Buchausstellungen, Bibliotheken und ein besonders kreatives, aber auch entwicklungspsychologisch sehr aussagekräftiges Moment, die künstlerische Betätigung von Kindern unter dem Dach der Kinderbibliothek. Die so erfolgreich angelaufene Münchner Aktion wurde von den Besatzern als Anschub deutscher demokratischer Eigeninitiative, von Jella Lepman aber als der Beginn einer weltweiten Friedensinitiative interpretiert – und daran glaubte sie wirklich.
Wirkungsstätte München
Zwei Archiv-Fotos sind vielleicht die aussagekräftigsten Bilder zur Lebensleistung von Jella Lepman. Sie dokumentieren die Eröffnung der Internationalen Jugendbuchausstellung am 3. Juli 1946 im Haus der Kunst in München, jenem Gebäude, das Hitler neun Jahre vorher (18. Juli 1937) als nationalsozialistischen Kunsttempel einweihte und in dessen unmittelbarer Nähe Propagandaminister Goebbels einen Tag später im Hofgarten die beschämende Ausstellung „Entartete Kunst“ eröffnete. Teile des kaum beschädigten Hauses der Kunst dienten der US-Besatzung als Kasino, Speise- und Sozialräume. Jella Lepman ließ sie als ansprechende Ausstellungsräume für 4.000 Bücher aus 20 Nationen – alles Spenden der ehemaligen Kriegsgegner und Verbündete der Nazis – herrichten. Was für ein Coup, was für ein Triumph!
Eine etwa Fünfjährige, also 1941 geboren, mit dem handgestrickten bayerischen Trachtenjäckchen nach den Möglichkeiten der Zeit „fein“ gemacht, bestaunt Bücher in einer Glasvitrine. Vielleicht staunt sie am meisten über die hohe Wertschätzung, mit der hier Kinderbücher als Ausstellungsstücke, als Kunstwerke präsentiert werden. Auch diese Gleichwertigkeit der Literatur für Kinder gehörte ja zu Programm und Taktik Jella Lepmans.
Gleichzeitig schaut sich eine gut gekleidete offizielle Besuchergruppe vorsichtig und etwas ratlos um. Der tiefere humanitäre und politische Sinn der Aktion musste in der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“, deren Innenstadt zu 90 Prozent zerstört war, erst einmal begriffen werden. Die Ausstellung wurde in mehreren deutschen Großstädten wie Berlin, Hamburg, Hannover, Braunschweig, Frankfurt und Stuttgart gezeigt.
Von der Wanderausstellung zur Internationalen Jugendbibliothek
Der erfolgreiche Start des Projekts in Form einer Wanderausstellung machte aber gleichzeitig klar: Ein fester Ort, ein Haus für Bücher, also eine Bibliothek war unumgänglich. Als Jella Lepman nach der erwähnten Rundreise durch die USA erfolgreiches Verhandeln, viele Kontakte und Unterstützer vorweisen konnte, sagte die Rockefeller Foundation Projektgelder zu. Die Stadt München stellte eine Villa in der Kaulbachstraße zur Verfügung, das Land Bayern bezuschusste die Arbeit. Am 15. Dezember 1948 wurden mit der Gründung des eingetragenen Vereins „Freunde der Internationalen Jugendbibliothek“ Institution und Trägerverband Realität. Am 14. September 1949 eröffnete sie die Internationale Jugendbibliothek. Das hier beschriebene Programm – in den folgenden Jahren weitgehend durchgeführt – liest sich zunächst wie der seinerzeitige Wunschkatalog einer modernen Kinder- und Jugendbibliothek in den USA:
- Bücher;
- Ausstellungen;
- Bibliotheken für alle
- Kunst;
- demokratische Governance.
Lepmans Kinderbibliothekskonzept
Wesentlich war die Durchdringung von Literaturpädagogik, Staatsbürgerkunde und Selbstverantwortung, freier Zugang zu Räumen und Büchern, Mitwirkung an den Regeln des Hauses. Sehr empfindlich traf diese Konzeption, die neben skandinavischen Vorbildern zum Leitbild westdeutscher Kinderbibliotheken wurde, die Regeln der Kinderbibliotheken des Nationalsozialismus. In ihnen hatte es an Professionalität ja nicht gemangelt. Aber das Prinzip Bibliothek ist nicht „unschuldig“, es kann missbraucht werden. Jella Lepmans Kinderbibliothekskonzept zeigte, wie man sich aus ideologischer Umklammerung löst. Die Internationale Jugendbibliothek in München wurde ihr wider Willen zur Heimat. Sie liebte dieses Haus und löste sich nach acht Jahren nur schwer.
Jella Lepman als Kinderbuchautorin
Über das Engagement für die Völkerverständigung mit den Mitteln der Kinderliteratur soll nicht vergessen werden, dass Jella Lepman selbst Kinderbücher schrieb oder publizierte, zunächst ein Bilderbuch, ein Theaterstück, eine Kindergeschichte zum Erlernen der deutschen Sprache. 1950 veröffentlichte sie den Kinderkrimi „Wer ist Lux?“ – er enthält herzzerreißende Reminiszenzen an ihre Heimatstadt Stuttgart und für einen Augenblick hebt sich der Schleier des Schweigens über ihr Emigrantenleid.
Vier Bände mit „Gute-Nacht-Geschichten“ aus den Jahren 1951 bis 1968 enthalten Texte, die sie sammelte wie Kinderzeichnungen und persönlich vornehmlich unter sozialpsychologischen Aspekten las und beurteilte. Die Bände sind – auch mit einigen Auslandslizenzen – über Jahrzehnte erschienen. Jella Lepman hat damit ein bisschen Geld verdient.
Kindheit und Literatur wurden für sie ein wichtiges Thema. Davon zeugt die 1961 erschienene Anthologie „Kindheit. Kindergestalten aus der Weltliteratur“. Sie selbst wurde zur Protagonistin einer Biografie für Kinder und Jugendliche in dem Buch „Books for children of the world“ (2007) von Sydelle Pearl.
Kinderkunst auf Augenhöhe
Der Umgang mit Kinderliteratur, -bibliotheken und Kunstprogrammen in der Internationalen Jugendbibliothek in München, aber auch der Austausch mit Literaten, Philosophen und Kulturpolitikern in Diskussionsgruppen und auf Kongressen erweckte Jella Lepmans Interesse an Entwicklungspsychologie und dem Verhältnis von Kind und Kunst. Sie vermutete in diesem Verhältnis eine seelische Gestimmtheit, die der von ihr angestrebten anhaltenden Friedensfähigkeit des Kindes zuarbeitete. Gleichzeitig aber wollte sie damit Kinderkunst auf Augenhöhe mit dem allgemeinen Kunstbetrieb bringen. Das gelang ihr „auf Zeit“. Sie versandte 1950 wieder einmal Briefe an Institutionen und Personen in 57 Ländern mit der Bitte um Kinder-Selbstporträts. Das Ergebnis war eine klug selektierte Zusammenschau von 300 Porträts aus 30 Ländern, die ab 1951 in einer begehrten Wanderausstellung Einblick in Kinder-Persönlichkeiten und ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten boten. Die bildende Kunst befreite sie von den Fesseln der Vielsprachigkeit und das bedeutete auch für die notwendige Publikumswirksamkeit ihres Friedensprogramms einen Gewinn.
Finanzierung
Auftrag, Legitimierung und Finanzierung ihrer Arbeit kamen bis in die fünfziger Jahre hauptsächlich von der US-Militärregierung und der Rockefeller Foundation. Doch schon seit der Gründung der Internationalen Jugendbibliothek gehörten Teilfinanzierungen der Stadt München und des Landes Bayern dazu. Kontinuität der US-Gelder war fraglich, denn die allgemeine politische Planung zielte auf Eigenverantwortlichkeit der besiegten Nationen. Jella Lepman, für die eine deutliche Ausweitung ihres Programms, etwa mit Gründung weiterer internationaler Jugendbibliotheken, konsequent und ohne Alternative erschien, musste nach anderen Wegen suchen. Analog zu den großen Vereinigungen UNO (1945), UNESCO (1945) und UNICEF (1946) setzten sie und ihre Unterstützer auf eine internationale Organisation mit nationalen Vertretungen. Die Latte war hoch gelegt. 1951 konzipierte sie eine Konferenz „Internationale Verständigung durch das Kinder- und Jugendbuch“ und es gelang ihr tatsächlich, den spanischen Philosophen Ortega y Gasset (1883–1955) zur Mitwirkung und einem programmatischen Beitrag „Die pädagogische Paradoxie und die Idee einer mythenbildenden Erziehung“ zu bewegen.
Die IBBY entsteht – Internationalisierung der Mission
Zwei Jahre später wurde in Zürich die Weltorganisation der Kinder- und Jugendliteratur IBBY (deutsch: Internationales Kuratorium für das Jugendbuch) gegründet. Ortega y Gasset gab das angestrebte Niveau vor. Jella Lepman befreite ihre „mission“ von den Fesseln der Besatzungspolitik der Alliierten und der regionalen Verortung im prekären Deutschland. „The mission“ wurde nun kontinuierlich international. Die Arbeit für die IBBY, zu der noch einmal ein von der Rockefeller Foundation finanziertes Projekt zur Förderung der Kinderliteratur und ihrer Infrastruktur in den damals als „Entwicklungsländer“ bezeichneten Regionen gehörte, erfüllte ihre Tage nach ihrem Rückzug aus München.
Sie hatte so etwas wie eine Internationale der Kinder- und Jugendliteratur aufgebaut:
- Internationale Buchausstellung 1946
- Internationale Jugendbibliothek 1948
- IJB wird UNESCO-Projekt 1953
- IBBY 1952
- Hans Christian Andersen Preis 1956
- Bookbird (internationale Fachzeitschrift) 1957.
Jella Lepman starb am 4. Oktober 1970 allein in ihrer Zürcher Wohnung. Zwei Monate vorher hatte sie in Frankfurt die Goethe-Plakette des Hessischen Kultusministeriums verliehen bekommen. Ihr alter Mitstreiter Erich Kästner hielt die Laudatio. Die geplanten Ehrungen – u. a. die Ehrendoktorwürde der Universität Helsinki – zu ihrem 80. Geburtstag hat sie nicht mehr erlebt. Die Erinnerungskultur bemächtigte sich ihrer je nach Anlass und Nützlichkeit. Es war ihr Sohn, der sich die – unbeantwortete – Frage stellte, ob die Mutter angesichts ihrer Erfolge auch Glück habe empfinden können. Ich möchte diese Erwartung an eine Frau mit dem Schicksal Jella Lepmans nicht stellen.
Dieses Schicksal hatte sie unter anderem gelehrt, die Gunst der Stunde, den Erfolg versprechenden Augenblick zu ergreifen, den Zeitgeist gleichzeitig zu nutzen und zu prägen. Für die Grundpfeiler der „mission“ von Mrs. Lepman, der Erziehung zur Friedensfähigkeit durch den internationalen Austausch von Kinderbüchern und der Demokratie stiftenden Wirkung von Kinderbibliotheken, schlägt wieder einmal die Stunde. Doch die sieht ein bisschen anders aus als 1945.
Die verwöhnten Kulturnationen demokratischen Zuschnittes haben erfahren, dass auch eine gewachsene, gepflegte Infrastruktur der Kinder- und Jugendliteratur an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stößt. Fragen muss man, ob das zeitbezogene Lepman’sche Modell als integrativer Bestandteil westlicher Politik und Kultur nicht auch deren Konflikte transportiert. Die nicht von Jella Lepman, aber von vielen ihrer unkritischen Bewunderer und Nachfolger aufgestellte Kausalkette: internationaler Literaturaustausch – Kinderbibliotheken – Demokratie – Frieden funktioniert so monokausal eben nicht.
Es lohnt sich daher, Jella Lepmans Erinnerungen genau zu lesen, ihren Irrtümern nicht auszuweichen und hinter dem faszinierenden Zeitbild der Nachkriegszeit, des beginnenden „Kalten Krieges“ und dem eurozentrierten Bild von Entwicklungsländern den Appell an die harte Arbeit, die „mission“ mit ihren unveräußerlichen Werten der Humanität nicht zu übersehen.
Deshalb soll am Ende auch eine Aufforderung Jella Lepmans an die Spender, die Mäzene der ersten Kinderbuch-Ausstellung 1946 stehen, denn genau das ist unser aller Rolle, die uns Jella Lepman und die Politik zurzeit zuweisen.
„Die Kinder tragen keine Schuld an diesem Krieg, deshalb sollen Bücher die ersten Boten des Friedens sein.“
Benutzte Quellen:
Betten, Lioba (Hrsg.): Mrs. Lepman. Gebt uns Bücher. Gebt uns Flügel. (in deutscher und englischer Sprache). München 1992
Ferchl, Irene: Bücher für eine bessere Welt. In: Stuttgarter Zeitung. 12.01.2017
Ich selbst – myself – moi-même. Kinderselbstporträts aus aller Welt. Gesammelt und herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek mit Vorworten von Jella Lepman, Emil Preetorius und Erich Kästner. Reutlingen 1952
Johann Wolfgang Goethe Universität. Abteilung Erziehungswissenschaften (Hrsg.): Dank an Jella Lepman. Frankurt 1969
Lepman, Jella: A Bridge of Children’s Books. With a foreword by J.E. Morpurgo. Translated by Edith McCormick. Leicester/Chicago 1969
Lepman, Jella: A Bridge of Children’s Books. With a foreword by Mary Robinson and an introduction by Tayo Shima. Translated by Edith McCormick. Dublin/Newark 2002
Lepman, Jella: Die Kinderbuchbrücke. Frankfurt 1964
Lepman, Jella: Mission for the children. Winning friends for the International Youth Library in the U.S.A. Maschinenschriftliches Manuskript 1948
Lepman, Jella: Wer ist Lux? Eine Detektivgeschichte für die Jugend. Reutlingen 1950
McCormick, Anne O’Hare; Bulldozer and the woman with a broom. In: The New York Times. 28.03.1945