Heute geht es ins Münsterland. Nicht nur lebt und arbeitet Marita Böggemann, die einige Jahre Finanzfrau der Regionalgruppe Münsterland war, dort, sondern sie empfiehlt unter anderem auch Bücher von und über die Droste, die bekanntlich dort gelebt hat.
Marita Böggemann (geb. 1961), Studium Anglistik, Germanistik, Kunstgeschichte mit Abschluss M.A. an der WWU Münster, Arbeit im Antiquariats-, Verlags- und Sortimentsbuchhandel sowie beim Theater. Zwischendurch IHK-Buchhändlerprüfung, Marketing- und Vertriebs- sowie diverse IT-Fortbildungen. Seit 2007 selbstständig tätig im Bereich Büro- und Verlagsdienstleistungen mit Schwerpunkt Lektorat. Bücherfrau seit 1998.
3 Autorinnen
Annette von Droste-Hülshoff (1797– 1848)
Die berühmteste deutsche Dichterin soll hier auch einmal gewürdigt werden. Wer hat nicht in der Schule ihre Judenbuche lesen müssen, eine auf den ersten Blick schwer zu erfassende Kriminalgeschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht? Wenn man die Novelle später noch einmal oder mehrmals liest, etwas über den historischen und sozialen Hintergrund erfahren hat und die bissige Ironie der Autorin darin erkennt, macht die Lektüre deutlich mehr Freude. Über Leben und Werk der Droste ist viel geforscht und geschrieben worden, seit sie „nach 100 Jahren berühmt” geworden ist, wie sie es sich gewünscht hatte. Die Wasserburg Hülshoff in der Nähe von Münster, seit Generationen der Sitz ihrer ritterbürtigen Familie, wo sie die ersten 26 Jahre ihres Lebens verbrachte, ist mittlerweile in eine Stiftung eingegangen, die den schönen Namen „Center for Literature” trägt. Der passende Name für ein Unternehmen, das der größten Dichterin deutscher Sprache gewidmet ist!
Nach dem Tod ihres Vaters lebte die Droste mit Mutter und Schwester im Rüschhaus, dem ehemaligen Landsitz des Barockbaumeisters Schlaun, das der Vater gerade noch rechtzeitig vor seinem Tod für die Hinterbliebenen gekauft hatte, denn die Burg erbte traditionsgemäß der älteste Sohn. Wenn Nette nicht gerade häusliche Pflichten zu erfüllen hatte, Familienbriefe verfassen musste, kranke Verwandte pflegte oder junge Nichten unterrichtete, dichtete sie, machte einsame Wanderungen und pflegte ihre Freundschaften. In ihrer Jugend war die hochbegabte Annette sehr gesellig, spielte brillant Klavier, komponierte Opern, stand selbst auf der Bühne, tanzte gerne, versprühte in Gesellschaft Geistes- und Witzesfunken, verliebte sich in den falschen Mann, fiel einer Familienintrige zum Opfer, von der sie sich nie wieder erholte und machte einige Reisen. In späteren Jahren verbrachte sie viel Zeit bei ihrer verheirateten Schwester Jenny und deren Familie auf der Meersburg am Bodensee. Vom Erlös ihres zweiten Gedichtbandes hatte sie dort ein eigenes kleines Haus mit Weinberg erworben, wo sie aber nicht mehr wohnen konnte. Im Mai 1848 starb Annette von Droste-Hülshoff auf der Meersburg an Tuberkulose.
Ihre Freundschaft mit dem 16 Jahre jüngeren Levin Schücking, der als Jurist im falschen Land seinen Beruf nicht ausüben durfte und stattdessen die Schriftstellerei als Broterwerb wählte, führte zu Kontakt mit dem Literaturbetrieb, zur Mitarbeit am „Malerischen und romantischen Westphalen” und bei verschiedenen Zeitungen sowie zur Publikation eigener Gedichtbände. Die Droste lebte in einer Zeit des krassen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Umbruchs. Obwohl äußerlich konservativ, katholisch und den adligen Traditionen verhaftet, begehrte sie zeitlebens zumindest innerlich auf. Ihre Gedichte sind unübertrefflich, ihr Umgang mit der Sprache meisterhaft und schöpferisch. Zu ihren Lebzeiten waren ihre Veröffentlichungen für die Zeitgenossen, besonders die Verwandten, bestenfalls unverständlich, schlimmstenfalls peinlich bis skandalös. Tatsächlich ist die Bedeutung ihres literarischen Werks erst lange nach ihrem Tode erkannt worden.
Clara Ratzka (1872–1928)
Clara Ratzka, geborene Ernst, war das dritte von fünf Kindern einer wohlhabenden Familie. Ihre Eltern entstammten alteingesessenen westfälischen Familien. Der Vater war Ingenieur und Generaldirektor der „Westfälischen Union”, einem Eisenwerk in Hamm, bis er aufgrund einer schweren Nervenlähmung arbeitsunfähig wurde und die Familie 1877 nach Münster übersiedelte. Hier verbrachten Clara und ihre Geschwister eine glückliche Kindheit und konnten die ihnen gemäße Schulbildung genießen. Clara legte 1889 in Koblenz das Lehrerinnenexamen ab, eine Berufstätigkeit wurde ihr von den Eltern aber nicht erlaubt. Im Jahr 1894 heiratete sie den Industriellen Clemens Linzen aus Unna, die Ehe scheiterte, wohl weil sich weder die künstlerischen Interessen noch die Idealvorstellung einer Partnerschaft der jungen Frau verwirklichen ließen, geschieden wurden sie aber – mit Rücksicht auf die Eltern – erst 1906. Clara zog 1900 mit ihrer fünfjährigen Tocher nach Berlin. Sie setzte sich für Frauenrechte ein, schrieb für Frauenzeitschriften und war Herausgeberin des Blattes Korrespondenz Frauenfrage. Sie behandelte Themen wie „Hilfe für Prostituierte”, „Der Versicherungsschutz der arbeitenden Frau” oder „Die Arbeiterin und die Arbeitskammern”.
Ab 1906 studierte sie Nationalökonomie, Literatur und Philosophie in Berlin. Im Jahr 1910 begann sie in Tübingen das Studium der Staats- und Volkswirtschaft sowie der Finanzwissenschaft und promovierte 1912 mit einer Doktorarbeit über Welthandelsartikel und ihre Preise.
Clara heiratete 1911 den ungarischen Kunstmaler Arthur Ludwig Ratzka. Das Paar lebte ab 1912 in Berlin-Wilmersdorf, die Ehe war glücklich und man führte ein interessantes Leben mit vielen Kontakten zu anderen Malern, Musikern und Literaten. Clara Ratzka bekam so viele neue und anregende Eindrücke, wozu auch Reisen gehörten, dass sie vieles davon aufschrieb. Mit über 40 Jahren wurde sie hauptberuflich Schriftstellerin. Ihr Mann unterstützte sie dabei nach Kräften als kompetenter Gesprächspartner, Korrekturleser und Agent. Ihr erstes Buch Blaue Adria erschien 1916. Sie schrieb innerhalb von 12 Jahren 16 Romane über starke Frauenfiguren, in denen sie ihre Erlebnisse und Gedanken „verarbeitete” und war sehr erfolgreich. Im Jahr 1919 veröffentlichte sie den Roman Familie Brake, der mehrere Auflagen erlebte (zuletzt 2010) und den viele für den Münster-Roman halten. Es handelt sich dabei um die Geschichte einer aus dem Sauerland stammenden, teils in Münster lebenden Familie über vier Generationen (1870 bis 1914), die ein Bild des „alten Münster” vermittelt und auch heute noch lesenswert ist.
Auch ihre zweite Ehe beendete die inzwischen arrivierte Autorin, als sie sich in ihren ehemaligen Studienfreund Dr. Ernst Wendler verliebte, 20 Jahre jünger als sie und wohl die ganz große Liebe. Der tief getroffene Ratzka verhielt sich sehr generös, gab seine Frau frei, blieb ihr freundschaftlich verbunden und ihr literarischer Agent, auch noch, als er zwei Jahre später nach New York übersiedelte. Im Jahr 1920 heirateten Clara und Wendler. Er war Gesandtschaftsrat im diplomatischen Dienst, man lebte, wenn man nicht im Ausland war, in einer luxuriösen Villa am Grunewald und sammelte Kunst. Aber auch diese Ehe ging nicht lange gut. Vermutlich brachte Wendler nicht so viel Verständnis für Claras Tätigkeit auf wie Ratzka. Im Jahr 1928 unternahm die 56-jährige Autorin ohne ihren Mann eine lange Weltreise (auf einem Luxusdampfer), die ihr Verlag spendierte, damit sie als Reiseschriftstellerin Material sammeln konnte. Nach ihrer Rückkehr bezog sie in Berlin eine eigene Wohnung, wo sie sich im November 1928 das Leben nahm.
Von Alma M. Karlin hörte ich zum ersten Mal in einer Radiosendung vor etwa zwei Jahren. Damals wurde aus ihrem Buch Einsame Weltreise vorgelesen, das gerade in einer Neuauflage im AvivA-Verlag erschienen war. Die damals 30-jährige Autorin aus Cilli/Celje (heute Slowenien) brach im November 1919 zu einer Weltreise auf, die insgesamt 8 Jahre dauern sollte und die sie nach Süd- und Mittelamerika, Kalifornien, Hawaii, Japan und China, auf die Philippinen, nach Australien und Neuseeland, auf zahlreiche Südseeinseln, nach Indien und schließlich durch den Suez-Kanal zurück nach Hause führte. Einzige Begleiterin war ihre Schreibmaschine „Erika”. Ihren Lebensunterhalt verdiente Karlin unterwegs als Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie sprach 12 und hatte Übersetzerdiplome in 8 Sprachen. Sie reiste auf Schiffen und Booten, meist in der 3. Klasse bzw. unter abenteuerlichsten und primitivsten Umständen, war stets in Geldnot, häufig in Lebensgefahr oder krank und hielt trotzdem an ihrem straffen Arbeitspensum fest. Dazu gehörten immer das Erforschen von Land (zu Fuß) und Leuten, das Malen sowie das fleißige Verfassen von Artikeln für ihren deutschen Verlag. Dass die schmächtige, chronisch unterernährte Karlin, die stark unter Einsamkeit litt, ständig an ihre Grenzen kam und ihre Gesundheit ruinierte, das aber alles überlebte, ist ein Phänomen.
Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte sie zahlreiche Bücher und wurde zu einer der berühmtesten europäischen Reiseschriftstellerinnen. Ihre Autobiografie Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Welteisenden über die ersten 30 Jahre ihres Lebens erschien 2018 ebenfalls im AvivA-Verlag. Hier erzählt sie mit Witz und Selbstironie von ihrer mühsamen Kindheit und Jugend im habsburgischen Österreich und ihrer Sprachausbildung in London vor dem 1. Weltkrieg. Alma Maximiliana Karlin war das einzige Kind alter Eltern, besonders der Mutter unwillkommen, hatte mit einer körperlichen Behinderung zu kämpfen, die sie durch hartes Training überwand, galt eine Zeitlang auch als geistig minderbemittelt, war aber doch wohl eher ein Fall von gesteigerter Hochbegabung. Für ihre Bildung sorgte sie selbst. Ab 1934 lebte sie mit ihrer Freundin Thea Schreiber-Gammelin in Celje zusammen, die sie als Sekretärin, Literaturagentin und Illustratorin ihrer Werke (Karlin schrieb noch etliche Romane und Erzählungen) unterstützte. Eine faszinierende Kämpferin!
3 Bücher
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman
In diesem 2018 erschienenen Roman erzählt die Bestsellerautorin Karen Duve, wie Annette von Droste-Hülshoff ihre zahlreiche Bökendorfer Verwandtschaft und deren Freunde durch ihre Intelligenz, Streitlust bzw. Diskussionsfreude und unweibliches Verhalten konstant überfordert und provoziert. Als sich der verarmte Göttinger Student Heinrich Straube, der bei seinen Kommilitonen als Dichtergenie gilt, in die Nichte seines besten Freundes verliebt und Annette seine Gefühle erwidert, kommt es zum Eklat. Die junge Frau fällt einer Intrige zum Opfer. Die Hauptbeteiligten daran sind gerade die, denen sie besonders vertraut hat. Zum Personal gehören August, Anna und Ludowine von Haxthausen, Jenny von Droste-Hülshoff, Jakob und Wilhelm Grimm, ihre Schwester Lotte, August von Arnswaldt, Amalie Hassenpflug und ihr Bruder sowie zahlreiche andere Verwandte. Annette reist mit der Großmutter zur Kur nach Bad Driburg und schließlich fahren die Schwestern Droste-Hülshoff mit dem Vater zu einem Besuch nach Kassel, wo einiges an Aufklärung stattfindet. Kenntnisreich, sehr lebendig und nachvollziehbar, gnadenlos realistisch und mit trockenem Witz berichtet Karen Duve von der „Jugendkatastrophe” der Droste, die immerhin dazu führte, dass die Dichterin zehn Jahre lang nichts schreiben konnte und sich zwanzig Jahre lang nicht mehr in Bökendorf blicken ließ.
Unda Hörner: 1929 – Frauen im Jahr Babylon
1929 war ein Jahr, in dem viel passierte, in dem sich die kommenden wirtschaftlichen und politischen Katastrophen schon deutlich abzeichneten und in dem zahlreiche begabte und tüchtige Frauen gerade in Berlin unterwegs waren. In zwölf Monatskapiteln erzählt die Autorin von der Schauspielerin, Autorin und Rennfahrerin Erika Mann, der Weltreisenden mit dem Auto Clärenore Stinnes, den Schauspielerinnen Marlene Dietrich, Louise Brooks, Lotte Lenya, Helene Weigel, Carola Neher und Asta Nielsen, den Schriftstellerinnen Vicki Baum, Marieluise Fleißer und Gabriele Tergit, sowie der Verlegerin Edith Jacobsohn, der Designerin Else Oppler-Legband, der Fotografin Lotte Jacobi, der Malerin Jeanne Mammen, der Architektin Marlene Poelzig, der Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert sowie einigen dazugehörigen Männern. Und sie stellt natürlich Zusammenhänge her, sodass sich ein Gesamtbild ergibt. Ein sehr informatives und gleichzeitig unterhaltsames Buch, kurzweilig und anschaulich.
Johanna Spyri: Kornelli wird erzogen
Um Johanna Spyri hatte ich mich lange nicht gekümmert. Natürlich habe ich als Kind Heidi gelesen und auch die eine oder andere Verfilmung gesehen, aber zu den Dori– und Gritlis-Kinder-Romanen, die auch in meinem Heidi-Buch waren, fand ich als Kind keinen Zugang. Im Rahmen einer Neuentdeckungstour las bzw. hörte ich etliche von Spyris Erzählungen und ihre Romane für Kinder und junge Mädchen. Auch eine Biografie der Autorin nahm ich mir vor. Wer meint, es handle sich bei Spyris Texten um Kitsch oder romantische Verklärung, greift deutlich zu kurz. Sie sind stark sozialkritisch. Obwohl die einzelnen Geschichten oft ein gutes Ende nehmen, gibt es jede Menge Armut und Elend in der von Materialismus und Erfolgsstreben geprägten Schweiz der Gründerzeit. Was die Autorin dem entgegensetzt, sind der Glaube an Gott und seine Vorsehung sowie an Wohltätigkeit und soziale Verantwortung durch den Menschen. Es finden sich zahlreiche Waisen und Halbwaisen in Johanna Spyris Erzählungen, kleine Kinder, die nach monetärem Ermessen verschoben (wie auch Heidi) oder im Zuge der Gemeindefürsorge an den Wenigstfordernden als Arbeitssklaven verdingt werden. Spyri war die Tochter eines Landarztes und wusste, wovon sie schrieb. Es gibt bei ihr auch Kinder wohlhabender Eltern, die ihre Probleme haben. Dazu gehört die zehnjährige mutterlose Kornelli, deren Vater ein Eisenwerk in schöner Schweizer Landschaft besitzt, wo das fröhliche, Tiere und Natur liebende Kind frei und unbefangen aufwächst.
Es scheint ihr materiell und psychisch gut zu gehen, obwohl die Mutter, Geschwister und gleichaltrigen Spielkameraden fehlen und der Vater sich wenig um sie kümmert. Die wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen des Kindes sind ihr Hauslehrer und die alte Kinderfrau, die sie täglich besucht. Als der Vater den Sommer über eine längere Geschäftsreise machen muss, holt er seine ledige Base und deren Freundin aus der Stadt ins Haus, die während seiner Abwesenheit den Haushalt überwachen und das Kind erziehen sollen. (Sie tun eigentlich nichts anderes als essen, schlafen und kritisieren.) Aufgrund von falscher und ungerechter Behandlung durch zwei Jungfern, die nichts von Kindern verstehen und sich in schwarzer Pädagogik üben, wird das Kind immer verstörter, wütender, verstummt schließlich ganz und entwickelt eine schwere Depression. Johanna Spyri berichtet hier, in der europäischen Kinderbuchliteratur wahrscheinlich zum ersten Mal und fast lehrbuchmäßig, über einen Fall von schwerer psychischer Kindesmisshandlung. Erst als sich Kornellis äußere Lebensumstände ändern – sie wird als Gast in die Familie ihres Ferienfreundes aufgenommen, der drei Geschwister und eine liebevolle Mutter hat –, kann sie gesund werden.