Noch sind die meisten Buchhandlungen in Deutschland geschlossen, aber ihr könnt dort natürlich auch weiterhin eure Bücher bestellen. Heute gibt es Tipps von der Buchdesignerin Annalena Weber. Seit 2017 kümmert sie sich um die überregionale Pressearbeit für die BücherFrauen.
Annalena Weber studierte Book-Design in Reading, UK, und arbeitet seitdem freischaffend in Hamburg als Buchdesignerin für unterschiedliche Verlage, dabei kümmert sie sich um alle Elemente des Buches – vom Cover bis zum Innenlayout.
Ende 2018 erschien ihr Buch Kleine Sammlung fränkischer Dörfer in Zusammenarbeit mit Helmut Haberkamm bei ars vivendi. Im Jahr 2019 wurde es zum schönsten deutschen Regionalbuch gekürt.
Die drei Bücher, die ich ausgewählt habe, sind zwischen 1932 und 1968 erschienen: Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen, Josepha Mendels‘ Rolien & Ralien und Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. Bei allen drei Büchern wurde in den Rezensionen betont, dass es sehr persönliche Werke seien, und man wies, wo immer möglich, auf die Parallelen zum Leben der Autorinnen hin. Der Grat zwischen Fiktion und Realität, der von der (oftmals männlichen) Kritik als gerade richtig angesehen wurde, war und ist sehr schmal. Von Autorinnen wurde lange erwartet, dass sie nicht zu viel erfinden, sondern authentisch und echt schreiben.
Autofiktionales Schreiben, wie es in den letzten 30 Jahren aufkam, ist eine Art Reaktion darauf. Eine Antwort auf die ständige Frage nach Wahrheitsgehalt und Authentizität in fiktionalen Texten. In diesen Werken werden die Grenzen zwischen Roman, Memoire und Autobiografie ganz bewusst aufgebrochen. Mit drei aktuellen Beispielen solcher autofiktional schreibender Autorinnen will ich beginnen.
3 Autorinnen
Delphine de Vigan (geb. 1966)
Delphine de Vigan ist eine französische Schriftstellerin, die lange nur nach Feierabend und Erledigung all ihrer Pflichten schreiben konnte. Erst seit dem Erfolg ihres Romans No & ich (Übersetzung: Doris Heinemann) konnte sie vom Schreiben leben.
Ich habe zwei Romane von ihr gelesen und erst später erfahren, dass der eine die direkte Reaktion auf den anderen war. Zuerst erschien Das Lächeln meiner Mutter (Übersetzung: Doris Heinemann). Ein autobiografischer Roman, in dem sich die Autorin an das Leben mit ihrer bipolaren Mutter erinnert und deren Selbstmord verarbeitet. Dabei wechselt sie immer wieder zwischen intimen Erinnerungen und beschreibendem Erfahrungsbericht. In die Erzählung verwoben sind ihre Überlegungen über Verantwortung und Folgen ihres eigenen Schreibens. Wie verhält man sich richtig: als Mutter, als Schwester, als Tochter und vor allem als Autorin?
Delphine de Vigan sagte in einem Interview, das alles Schreiben schon nach wenigen Zeilen Autofiktion sei. Dessen ungeachtet fragte man sie aber immer wieder nach dem Wahrheitsgehalt ihres Romans. Sie konnte nicht verstehen, wieso ihre Leser*innen so fixiert darauf waren zu erfahren, ob etwas wahr oder erfunden sei.
Nach einer wahren Geschichte (2015, Übersetzung: Doris Heinemann) ist ihr Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Delphine de Vigan nennt ihre Protagonistin nach sich selbst. Die Delphine im Roman ist Schriftstellerin und hat gerade ein Buch herausgebracht, das von dem Leben ihrer Mutter handelt. Alle Eckdaten stimmen mit der Autorin überein, und doch müssen wir uns damit abfinden, dass es sich hier um eine frei erfundene Geschichte handelt.
Sheila Heti (geb. 1976)
Auch Sheila Heti nennt ihre Protagonistin nach sich selbst: Sheila. In Wie sollten wir sein? Ein Roman aus dem Leben (Übersetzung: Thomas Überhoff) ist die Protagonistin, wie die Autorin, eine Schriftstellerin, die in Toronto lebt und arbeitet. Im Roman beobachtet die Hauptfigur Sheila die Welt um sich herum. Die anderen scheinen zu wissen, wo es hingeht; sie scheinen verstanden zu haben, was es bedeutet, authentisch zu leben – nur Sheila nicht. Sie sucht daher in ihren Freundschaften, in ihrer Arbeit und ihren Beziehungen nach Antworten. Fortwährend fragt sie sich und uns, um was es im Kern eigentlich geht.
Der Text ist eine Mischung aus Selbstporträt, Roman, Essay und Ratgeber. Er endet mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um ein literarisches Werk handle. Alles, was darin beschrieben sei, sei ein Produkt ihrer Fantasie.
Auch Mutterschaft (Übersetzung: Thomas Überhoff) ist ein fiktionaler Text, der die Grenzen zwischen Autobiografie und Roman bewusst verwischt. Das Buch widmet sich fast ausschließlich der Frage, ob die Erzählerin Sheila Mutter werden will. Eine sehr persönliche und individuelle Frage. Doch ist der Text eben ein Roman. Sheila ist nicht Sheila – die Ich-Erzählerin und die Autorin sind nicht miteinander gleichzusetzen. Wo die Grenze zur Realität verläuft, weiß nur die Autorin selbst. Sie hebt die Figur und ihre Frage so auf ein abstrakteres Level, eines, dass uns erlaubt, selbst Sheila zu sein und uns mit ihr einer Frage zu stellen, die gleichermaßen ganz persönlich ist und uns doch alle betrifft.
Chris Kraus (geb. 1955)
Chris Kraus ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin. Hierzulande bekannt wurde sie hauptsächlich über ihr Buch I Love Dick (Übersetzung: Kevin Vennemann), das erst viele Jahre nach seinem Erscheinen von der feministischen Bewegung entdeckt und daraufhin in zahlreichen Ländern neu aufgelegt wurde.
In I Love Dick geht es um eine erfolglose Künstlerin namens Chris Kraus. Der Roman beginnt mit dem Abend, an dem sie Dick, einen Freund ihres Ehemannes, kennenlernt und sich in ihn verknallt. Was harmlos beginnt, endet in einer Art Obsession, die an Stalking grenzt. Denn Dick entzieht sich von Anfang an Chris’ Versuchen ihm näherzukommen.
Chris’ Ehemann ist anfangs Teil dieser Obsession. Gemeinsam schreiben sie Dick Briefe, die mehr an sie selbst als tatsächlich an Dick gerichtet sind. In einem dieser Briefe fragt Chris: „Wie konnte ich dir nur begreiflich machen, dass meine Briefe an dich das Echteste waren, was ich je getan hatte?“ Wieder geht es um das vermeintlich Echte und Unverfälschte.
Obwohl sich die Autorin über viele Seiten hinweg selbst zerfleischt, ist I Love Dick der Roman einer starken Frau – einer Frau, die die patriarchalen Mechanismen und Erwartungen umdreht und sich (im Schreiben über sich selbst) aneignet. Hier wird der Mann objektifiziert und nicht die Frau. In beiden Richtungen ist entlarvend, wie wenig es um den Mensch dahinter geht.
Chris Kraus hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie autobiografisch I Love Dick ist. Auch gibt sie offen zu, dass die Person, die für Dick Vorbild stand, nichts mit dem Buch zu tun haben wollte. Verständlich, finde ich.
3 Bücher
Josepha Mendels: Rolien & Ralien
Josepha Mendels (1902–1995) wuchs in einer jüdisch-orthodoxen Familien auf. Ihr Roman Rolien & Ralien erschien 1947 im niederländischen Original und 2020 erstmals auf Deutsch (Übersetzung: Marlene Müller-Haas). Er handelt von einem eigensinnigen Mädchen, das am liebsten in ihren eigenen Fantasiewelten lebt. Wir lernen sie kennen, als sie aufhört an die Seele ihrer Puppen zu glauben. Jetzt verbringt sie ihre Freizeit mit zwei Freundinnen. Zwar ist nur eine von beiden real, doch sind beide gleichermaßen anspruchsvoll.
Wir Leser*innen sind die ganze Zeit über im Kopf der kleinen Rolien und wundern uns mit ihr über die Welt. Das Wundern geht weiter, als Rolien volljährig ist und sich ihren Wunsch erfüllt, später mal als Mann nach Paris zu ziehen. Und in der Tat lebt sie dort als Mann und Gouvernante, Nacktmodell, Hilfsfotografin und vor allem als Leserin. Doch die Welt bleibt ihr weiterhin ein Rätsel.
Bei diesem Buch habe ich erst im Nachwort von den Parallelen gelesen, die es zwischen dem Leben der Hauptfigur und seiner Erzählerin gibt. Roos van Rijswijk schreibt, dass sie diese aber nicht weiterverfolgen wolle: „Nicht weil es eine Schande wäre, Schriftsteller und Werk miteinander in Verbindung zu bringen […], sondern weil es eine Schande wäre ein Buch wie dieses, mit einem solch großen universalen und literarischen Wert, so eindimensional zu betrachten, als wäre es der autobiografische Bericht über das Leben einer Person, wie interessant diese Person auch immer sein mag.“
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
Irmgard Keuns (1905–1982) „Kunstseidenes Mädchen“ ist erstmals 1932 in Berlin erschienen, wo auch ein großer Teil der Geschichte spielt. Doris, die Hauptfigur, ist jung, schön, arm und nicht sonderlich gebildet. Dafür versteht sie viel von den Menschen, denen sie begegnet. Sie redet, wie ihr der Mund steht, und so kommt es auch aufs Papier: wie ein langer, kurioser Tagebucheintrag. Sie will eine Berühmtheit werden, aber so nennt sie es nicht, bei ihr heißt es „Glanz“: „Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris.“ Sie gibt ihr Bestes, um dem drögen Alltag zu entfliehen, und doch scheint sie vom Pech verfolgt.
Keun war schon durch ihren Roman Gilgi – eine eine von uns bekannt geworden. Doch noch bevor dieser verfilmt wurde, erschien Das kunstseidene Mädchen, mit dem Keun ein echter „Glanz“ wurde. Leider wurde ihr Aufstieg abrupt durch die Machtergreifung der Nazis gestoppt. Sie musste fliehen und verbrachte den Krieg im Exil. Obwohl sie später mit gefälschten Papieren zurück nach Deutschland kehrte, konnte sie an ihren früheren Erfolg nie wieder anknüpfen. Erst die Feministinnen riefen sie erneut ins kollektive Gedächtnis zurück.
Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.
Christa Wolf (1929–2011) beendete ihren Roman Nachdenken über Christa T. im Jahr 1967. Aber erst nach einem langen Zensurprozess durfte er in kleiner Auflage in der DDR publiziert werden.
Die eigentliche Hauptfigur des Romans, Christa T., ist schon lange tot, als wir sie kennenlernen. Die Ich-Erzählerin rekonstruiert ihr Leben anhand ihrer eigenen Erinnerungen und den schriftlichen Hinterlassenschaften ihrer Freundin. Sie erzählt von der Schulzeit mit ihr, ihren gemeinsamen Studienjahren, von ihrer Heirat und ihren Kindern. Ein ganz normales Leben, wie es scheint, und doch blitzt durch jede Zeile hindurch, dass Christa T. anders war, dass sie nirgendwo richtig hingepasst hat, dass sie trotz Familie und Freund*innen immer alleine geblieben war. Wir spüren ihre Enttäuschung über die Realität des real gelebten Sozialismus. Christa Wolf zeigt so die Missstände in der DDR an einem Einzelschicksal auf. Der Fachbegriff für diese Art des Erzählens passt, finde ich, wunderbar in diese Reihe: „authentische Subjektivität“.
Nach Erscheinen des Buches stellte Christa Wolf übrigens fest: „Später merkte ich, dass das Objekt meiner Erzählung gar nicht so eindeutig sie, Christa T., war oder blieb. Ich stand auf einmal mir selbst gegenüber.“
© der Fotos: privat