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Verlegerinnen unabhängiger Verlage: Britta Jürgs

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Weiter geht es in der diesjährigen Reihe zu Verlegerinnen unabhängiger Verlage in diesem Monat mit einem Interview mit Britta Jürgs vom AvivA Verlag, der BücherFrau des Jahres 2011.

Doris Hermanns: Britta, du hast deinen Verlag 1997 gegründet. Was war die Idee dahinter? Was für Bücher wolltest du verlegen?

Auf der Leipziger Buchmesse © Katrin Bietz

Britta Jürgs: Ich wollte die Bücher verlegen, die ich anderswo vermisst habe: Bücher über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen und Werke vergessener Autorinnen. Es fing an mit Porträtbänden zu Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Moderne, über Surrealistinnen, Dadaistinnen, Expressionistinnen oder Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit, die ich auch selbst herausgegeben habe – mit solch schönen Titeln wie Leider hab ich’s Fliegen ganz verlernt, Etwas Wasser in der Seife oder Wie eine Nilbraut, die man in die Wellen wirft.

In der Belletristik lag der Schwerpunkt zunächst auf deutschsprachigen jüdischen Autorinnen der Weimarer Republik. Der erste Roman war Die Bräutigame der Babette Bomberling von Alice Berend, einer Erfolgsautorin im Hause S. Fischer, 1875 geboren und 1938 im italienischen Exil gestorben – ein wunderbar witziger Roman über eine Sargfabrikantentochter in Berlin. Es folgten weitere Bücher von Alice Berend und anderen jüdischen Autorinnen, nicht nur Neuauflagen, sondern auch zunehmend Erstausgaben aus dem Nachlass, beispielsweise von Ruth Landshoff-Yorck, von der mittlerweile sechs Bücher bei AvivA erschienen – nur eins davon als Neuauflage, alle anderen als Erstausgaben oder Erstübersetzung.

DH: Woher kommt der Name des Verlages und warum hast du ihn ausgewählt?

BJ: AvivA kommt aus dem Hebräischen und ist die weibliche Form von Frühling. Ausgewählt habe ich ihn wegen des weiblichen Verlagsprogramms und aufgrund des jüdischen Schwerpunkts, aber ich mag auch das Palindrom und die Symmetrie mit dem großen A am Ende.

DH: Wie hat sich dein Programm im Laufe der Jahre verändert und erweitert? Und wodurch?

© Britta Jürgs

BJ: Am Anfang war eine Idee – Autorinnen und interessante Frauen sichtbarer zu machen – und das persönliche Interesse an einer ganz bestimmten Zeit, an den 1920er- und 1930er-Jahren und an jüdischen Autorinnen. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder Ausflüge in andere Epochen unternommen. Nach wie vor verlege ich Bücher zu Themen, die es so noch nicht gab oder gibt. Nach den Büchern über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen kamen Bücher über Architektinnen, Designerinnen, Tänzerinnen, Zirkusartistinnen oder Kunstsammlerinnen hinzu, oft von mir angeregt, aber auch zunehmend Biografien interessanter Frauen, die entweder über die Autorinnen oder durch Literaturagentinnen zu mir kamen. Neben den Büchern deutschsprachiger Autorinnen der 1920er- und 1930er-Jahre wie Vicki Baum, Lili Grün, Maria Leitner, Alice Rühle-Gerstel, Christa Winsloe oder Victoria Wolff – und zuletzt die sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch schreibende Margaret Goldsmith mit ihrem Roman Patience geht vorüber – kamen auch Ausflüge in die 1960er- und 1970er-Jahre bis hin zur Gegenwart dazu.

Inzwischen erscheinen zunehmend auch Übersetzungen im AvivA-Programm, über Lektüreempfehlungen wie bei dem wunderbaren Roman Rachel, die Frau des Rabbis von Silvia Tennenbaum, den die BücherFrau Claudia Campisi übersetzt hat, aber oft auch über die HerausgeberInnen und ÜbersetzerInnen, wie Die gestohlene Unschuld mit Texten der Widerstandskämpferin und Ethnologin Germaine Tillion, herausgegeben und übersetzt von Mechthild Gilzmer, oder die bis dahin nie ins Deutsche übersetzten Bücher der mittlerweile auch hierzulande bekannten Nellie Bly. Im Jahr 2011 erschien ihre Undercover-Reportage aus der Psychiatrie von 1887, Zehn Tage im Irrenhaus, herausgegeben und übersetzt von Martin Wagner, 2013 folgte Around the World in 72 Days über ihre 72-tägige Weltreise von 1889/90 in der Übersetzung von Josefine Haubold. Zuletzt war A Taste of Honey, die von Tobias Schwartz übersetzten Erzählungen und Stücke der britischen Autorin Shelagh Delaney ein Überraschungserfolg. Das Buch war sogar auf der HOTLIST 2020, der jeweils zehn Bücher aus unabhängigen Verlagen kürenden „Bestenliste“.

DH: Wie unterscheidet sich für dich dein Verlag als einer der unabhängigen von den Konzernverlagen? Warum sind die Indie-Verlage für dich wichtig?

Bei der Preisverleihung des Deutschen Verlagspreises 2019. Von links: Claudia Gehrke (konkursbuch Verlag), Kulturstaatsministerin Monika Grütters, Britta Jürgs. © Bundesregierung: Reimold

BJ: „Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl“ meinte der (unabhängige) Verleger Kurt Wolff. Als unabhängiger Verlag mache ich Bücher aus Überzeugung und mit Leidenschaft, und nicht, weil ich meine, dass sich bestimmte Themen oder Titel gut verkaufen. Wenn dann beides zusammengeht, also die Lieblingsbücher und -projekte auch erfolgreich sind: umso schöner! Doch am Anfang steht immer die Begeisterung für meist unbekannte Autorinnen und der Wunsch, diese bekannter zu machen.

DH: Du bist ja nicht nur Verlegerin eines Independent-Verlags, sondern auch seit 2015 Vorsitzende der Kurt Wolff Stiftung. Was hat es damit auf sich?

BJ: Ich bin eine überzeugte Netzwerkerin und war ja auch vier Jahre lang 1. Vorsitzende der BücherFrauen, bevor ich vor sechs Jahren den ehrenamtlichen Vorsitz der Kurt Wolff Stiftung übernahm. Die Stiftung engagiert sich für die unabhängigen Verlage und für die Vielfalt der Verlags- und Literaturszene. Wir machen Lobbyarbeit für die „Unabhängigen“, ob sie nun im Freundeskreis der Stiftung sind oder nicht, und versuchen, die Wahrnehmung für das, was unabhängige Verlage leisten, zu vergrößern und deren Sichtbarkeit zu erhöhen.

DH: Wie arbeitest du? Allein, mit Festangestellten oder beispielsweise mit Honorarkräften für das Lektorat oder die Übersetzungen?

#Verlagebesuchen im Büro des AvivA Verlags © Doris Hermanns

BJ: Ich arbeite allein mit einer freien Mitarbeiterin im Lektorat, mit einem externen Pressebüro, das einzelne Titel betreut, und mit freien Verlagsvertreterinnen in Deutschland und Österreich. Und natürlich mit Übersetzerinnen und Übersetzern, die mich oft auch erst auf Bücher aufmerksam machen, die ich sonst übersehen hätte, die ich aber wichtig finde und gerne in meinem Verlag veröffentliche, sofern das finanziell möglich ist.

DH: Wie sieht dein Programm heute aus? Was hat sich geändert? Was zeichnet es aus?

BJ: Ich will mit meinem Programm den Kanon um weibliche Stimmen und Perspektiven erweitern und pflege auch zahlreiche Genres jenseits des Romans – Feuilletons, Reiseberichte, Reportagen, Lyrik, Theaterstücke und Erzählungen. Auch die bei AvivA erscheinenden Biografien und Porträtbände leisten Pionierarbeit und tragen dazu bei, die Werke und Leistungen von Frauen sichtbar zu machen.

DH: Was sind die Kriterien, nach denen du entscheidest, ob du ein Buch machst? Wie kommen die Bücher zu dir?

BJ: Die Bücher kommen auf unterschiedlichen Wegen zu mir – mal entdecke ich sie selbst, aber oft bekomme ich sie auch vorgeschlagen, von Herausgeberinnen und Herausgebern, Übersetzerinnen und Übersetzern – und auch gelegentlich von Literaturagenturen oder natürlich von den Autorinnen selbst. Entscheidend ist, dass mich das Buch oder die Buchidee interessiert und begeistert. Es gibt Themen, die ich selbst anrege und für die ich Autorinnen finde, ebenso wie Bücher und Biografien, auf die ich aufmerksam gemacht werde und die dadurch im Verlagsprogramm landen.

DH: Wie wichtig ist Feminismus für dich in deinem Verlag?

BJ: Feminismus ist die Basis für den Verlag und der rote Faden von der Gründung bis heute.

DH: Du verlegst aber nicht nur Bücher, sondern inzwischen auch Zeitschriften – und führst damit die Traditionen zweier feministischer Zeitschriften, die in den 1970er- bzw. 1980er-Jahren gegründet wurden, fort. So wird in der letzten Zeit ja wieder verstärkt kritisiert, wie wenige Bücher von Frauen rezensiert werden – und auch wie diese besprochen werden. Nun gibst du seit 2012 auch die Virginia Frauenbuchkritik heraus, die es bereits seit 1986 gibt, die einzige Rezensionszeitung im deutschsprachigen Raum, in der ausschließlich Frauen Bücher von Frauen rezensieren, und in deren Redaktion du auch bist. Was hat es damit auf sich?

© Britta Jürgs

BJ: Die Virginia Frauenbuchkritik erscheint zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, mit ausführlichen Rezensionen über Bücher von Autorinnen: über Belletristik wie über Sachbücher, nicht nur, aber immer auch zu feministischen Themen, mit Krimi- wie auch Mädchenbuchtipps sowie einer Liste mit unserer Auswahl an Neuerscheinungen und in der Herbstausgabe jeweils mit einem Schwerpunktartikel über Autorinnen aus dem Gastland der Frankfurter Buchmesse – in diesem wie auch im letzten Jahr ist das Kanada. Seit 2000 war ich in der Redaktion der Virginia und als Christel Göttert die Zeitschrift nicht mehr in ihrem Verlag veröffentlichen konnte, fragte sie mich, ob ich sie auch verlegen würde – was ich seit 2012 tue. Die Virginia wird von Buchhandlungen abonniert, die sie ihren Kundinnen kostenlos zur Verfügung stellen, kann aber auch im Einzelabonnement im Verlag bezogen werden.

DH: Die andere Zeitschrift, die du seit diesem Frühjahr verlegst, ist Frauen und Film, die einzige deutschsprachige feministische Filmzeitschrift, die bereits seit 1974 erscheint. Wie kam es dazu?

BJ: Die Herausgeberinnen suchten nach der Stroemfeld-Insolvenz einen neuen Verlag für ihre Zeitschrift – und vor einem Jahr trafen wir uns erstmals, um über die Fortsetzung bei AvivA zu sprechen. Durch die schwierige Situation im letzten Jahr hat alles etwas länger gedauert, aber ich finde die Zeitschrift total wichtig und freue mich sehr über diese Bereicherung meines Programms – und natürlich auch darüber, dass es mit Frauen und Film weitergeht. Das neue, der Filmpraxis gewidmete Heft heißt „Frauen Film Arbeit“ und soll im Mai erscheinen.

 

 

DH: Vor vier Jahren hast du dein 20-jähriges Verlagsjubiläum mit „AvivA auf Tour“ gefeiert. Was hatte es damit auf sich?

Verlagsvorstellung an idyllischem Ort: Kleine Verlage am Großen Wannsee 2019. © Doris Hermanns

Ich habe die 20 Jahre AvivA Verlag mit 20 Verlagsvorstellungen in 20 unabhängigen Buchhandlungen an 20 verschiedenen Orten gefeiert, von Dresden bis Duisburg, von Meldorf in Schleswig-Holstein bis nach Tübingen. Das war toll, einen persönlichen Ausschnitt aus 20 Jahren Verlagsgeschichte zum Besten zu geben, begleitet von meiner Tochter, die alles in einem Tour-Blog dokumentierte.

DH: Die Werke welcher Autorinnen waren und sind dir wichtig?

BJ: In meinem kleinen Verlag mit überschaubarem Programm gibt es nur Lieblingsbücher. Ganz besonders wichtig sind mir allerdings aufgrund ihrer versuchten Verdrängung und Auslöschung die der jüdischen Autorinnen wie Lili Grün, die verfolgt, vertrieben oder gar ermordet wurden.

DH: Was war für dich dein wichtigstes Buch? Welches hat sich am besten verkauft?

BJ: Wichtig sind für mich alle von mir verlegten Bücher, und ich versuche, für alle die größtmögliche Aufmerksamkeit zu bekommen – auch wenn das leider nicht immer so funktioniert, wie ich es mir wünschen würde. Am besten verkauft hat sich Hanna Gagels Buch So viel Energie. Künstlerinnen in der 3. Lebensphase – ein Buch, das 2005, als die 1. Auflage erschien, für mein Gefühl nicht hinreichend wahrgenommen wurde, das aber nachhaltig wirkt und sich in den letzten 15 Jahren zum Dauerbrenner entwickelt hat. Im Frühjahr 2020 ist die 5. überarbeitete Auflage erschienen, das war für mich ein ganz großes Highlight. Und die Tatsache, dass dieses Buch auch ohne große Presseresonanz immer wieder weiterempfohlen wird und immer neue Leserinnen begeistert und ermutigt, ist für mich wie auch für die Autorin Hanna Gagel ein großartiger Erfolg. Das einzige Buch aus meinem Programm, das es auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft hat, war vor vielen Jahren der Roman Das weiße Abendkleid über vier Frauen und ein Kleid von Victoria Wolff, einer bis dahin vergessenen jüdischen Autorin aus Heilbronn, die über die Schweiz in die USA emigrierte. Der große Erfolg eines Buches einer zu diesem Zeitpunkt recht unbekannten, bereits verstorbenen Autorin war für mich Ansporn und Bestätigung, diesen Weg weiterzuverfolgen. Im Herbst wird nun endlich ihr Roman Gast in der Heimat in einer Neuauflage erscheinen, wieder herausgegeben von Anke Heimberg.

DH: Welches Buch hättest du gerne gemacht? Das kann ein existierendes sein oder eins, das du zu einer bestimmten Zeit gerne gemacht hättest, was aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ging.

BJ: Da gibt es einige. Ich hätte beispielsweise sehr gerne die Werke von Gabriele Tergit verlegt, die ich als Autorin sehr schätze, hatte aber leider beim Rechteerwerb keinen Erfolg.

2020 waren nur wenige Veranstaltungen möglich – und wenn dann meist draußen. Hier die Verlegerin anläßlich der Aktionswoche Frankfurter Buchmesse in Berlin vor der Buchhandlung Moby Dick. © Lilian Aly

DH: Und von welchem Buch findest du, dass es endlich mal eine schreiben sollte? Worüber würdest du gerne lesen?

BJ: Ich liebe Zufallsbegegnungen und lasse mich immer gerne von Büchern anregen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie eigentlich lesen wollte.

DH: Welche Themen liegen dir heute am Herzen, zu denen du dir Bücher wünschst?

BJ: Ich kann eher sagen, worüber ich mir keine Bücher (mehr) wünsche. Die zigste Variante eines Bestsellers brauche ich nicht. Ich lasse mich gerne überraschen.

DH: Du hast 2019 den Deutschen Verlagspreis bekommen und 2020 den Großen Berliner Verlagspreis. Was würdest du dir für die Zukunft wünschen? Für deinen Verlag? Für unabhängige Verlage insgesamt?

© Britta Jürgs

BJ: Ich wünsche mir weiterhin viele (und noch viel mehr) interessierte und entdeckungsfreudige Leserinnen und Leser, die sich auch an Bücher unbekannter Autorinnen wagen und nicht nur am Indiebookday Bücher aus unabhängigen Verlagen kaufen und lesen. Ich wünsche mir nicht weniger Sendungen und Seiten über Bücher und Literatur, sondern viel mehr davon: Gespräche über Bücher, Interviews mit Autorinnen, Buchbesprechungen. Ich wünsche mir viel mehr Berichte und Rezensionen über Bücher von Autorinnen. Und ich wünsche mir, in und mit meinem Verlag noch lange dazu beitragen zu können, den Kanon um weibliche Stimmen und Perspektiven zu erweitern.

 

Links:

AvivA Verlag

Virginia Frauenbuchkritik

 

Zum Weiterlesen: das Januar-Interview mit einer Verlegerin eines unabhängigen Verlags

… und im März folgt das nächste …

Autor: Doris Hermanns

Doris Hermanns lebt nach 25 Jahren als Antiquarin in Utrecht/Niederlande seit 2015 in Berlin, wo sie als Redakteurin, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin tätig ist. Seit 2000 ist sie in der Redaktion der Virginia Frauenbuchkritik, seit 2012 in der Redaktion des Online-Magazins AVIVA-Berlin. Zahlreiche Porträts von Frauen auf www.FemBio.org. Sie veröffentlichte u. a. die Biografie der Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe sowie deren Feuilletons. 2021 gab sie den Roman "Christian Voß und die Sterne" von Hertha von Gebhardt heraus, an deren Biografie sie arbeitet. Neueste Veröffentlichung: »Und alles ist hier fremd«. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil. Von 2016 bis 2020 war sie Städtesprecherin der BücherFrauen in Berlin. BücherFrau des Jahres 2021.

Ein Kommentar

  1. Liebe Doris, liebe Britta,

    danke für das schöne Interview! Ich freue mich immer, von und über Euch zu lesen. Und ich wünsche Euch beiden weiter viel Freude an dem, was Ihr tut, und natürlich den Erfolg, den Ihr verdient.

    Seid sehr herzlich gegrüßt von

    Susanne (inzwischen aus Oldenburg)

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