In diesem Monat stellt uns die Verlegerin Barbara Weidle ihre Auswahl vor, in der diesmal auch Musik durchklingt. Und das nicht nur bei Patti Smith, die Literatin und eine großartige Musikerin ist.
Barbara Weidle ist Kunsthistorikerin und Journalistin. Als Kunstredakteurin war sie lange für den Bonner General-Anzeiger tätig. Seit den 1990er Jahren hat sie Ausstellungen kuratiert, u. a. zu Künstlerinnen im Exil wie Erna Pinner und Anna Mahler. 2011 hat sie das Literaturhaus Bonn mitgegründet und drei Jahre geleitet. Ab 2015 hat sie für die Leipziger Buchmesse und die Kurt Wolff Stiftung das Forum »Die Unabhängigen« aufgebaut und das Programm bis 2019 betreut. Gemeinsam mit Stefan Weidle führt sie den Bonner Weidle Verlag.
Drei Autorinnen
Ré Soupault (1901–1996)
Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt heißt der erste Band der Erinnerungen Ré Soupaults (2018), Motto für ihr ganzes Leben. Bauhausschülerin, Fotografin, Modedesignerin, Journalistin und Übersetzerin war die 1901 als Meta Erna Niemeyer geborene Vielbegabte. Für mich sind ihre Texte und die in ihnen zum Ausdruck gebrachte Haltung zu sich und der Welt immer wieder eine Inspiration. Schnörkellos, neugierig, weltoffen, hochaktuell. Ob sie über Flüchtlinge aus den Ostgebieten in deutschen Lagern nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb (2017) oder Rundfunkessays zu Dada und Surrealismus (2019): Ihre Arbeit profitiert von ihrer Zeitgenossenschaft, ihrem wachen Verstand und ihrer Leidenschaft für alles, mit dem sie sich beschäftigte. Gleichgültig, wie wenig Mittel sie zur Verfügung hatte, immer gestaltete sie ihre Umgebung. Mit großer Disziplin meisterte sie die schwierigsten Lebenssituationen, zum Beispiel die fast dreißig Jahre währende Trennung von Philippe Soupault, den sie 1933 geheiratet hatte. Nach dem Krieg arbeitete sie als Übersetzerin aus dem Französischen. U. a. erschienen wichtige Werke von Lautréamont, Romain Rolland, André Breton, Tristan Tzara mit ihrer Stimme auf Deutsch. Auch das gesamte Werk von Philippe Soupault übertrug sie ins Deutsche. Als bemerkenswerte Fotografin wurde sie seit den 1990er Jahren durch zahlreiche Ausstellungen und Bildbände (Verlag Das Wunderhorn) einem größeren Publikum bekannt.
Pragmatismus und Stil verband Ré Soupault, die 1996 in Paris starb, in Kunst und Leben auf nahezu perfekte Weise.
Patti Smith rezitierte 2002 im Kölner E-Werk ungerührt Gedichte von William Blake auf der Bühne, während das Publikum auf ihren nächsten Song wartete. Da war sie 55, und ich dachte: So möchte ich auch altern. Mir gefällt die Kompromisslosigkeit dieser Punk-und Rock-Ikone, ihre Liebe zur Literatur, die sie immer wieder offenbart. Als junges Mädchen reiste sie auf den Spuren von Baudelaire nach Paris. Ihre Songtexte sind oft vertonte eigene Gedichte. Spätestens nach der Lektüre von Just Kids (2010), ihrem lange erwarteten autobiographischen Bericht über die Zeit mit Robert Mapplethorpe, hat die Ausnahmekünstlerin mich auch als Prosa-Autorin überzeugt. Sie erzählt vom New York der späten 1960er Jahre, wie sie dort mit sehr wenig Geld ankam und nur eines wollte: Künstlerin werden. Sie hatte sehr viel gelesen, vor allem Literatur des 19. Jahrhunderts, aber nach der Highschool keinerlei Berufsausbildung gemacht. Sie schrieb Gedichte und zeichnete. Ihren Job als Kellnerin in New York verlor sie gleich am ersten Tag wieder. Sie hungerte und sie war zäh. In der Buchhandlung, in der sie dann arbeitete, übernachtete sie heimlich, ein Schlafplatz war unbezahlbar. Sie beschreibt das alles literarisch, poetisch, kraftvoll. Mit präzisem Gefühl für die Dramaturgie. Als sie Jim Morrison auf der Bühne sah, spürte sie plötzlich: Ich kann das. Es ist ihr vor sich selbst peinlich, wie sie schreibt. Aber sie weiß es einfach. Die Sicherheit, mit der sie ihren Weg als Künstlerin findet, ist atemberaubend. In den 1980er Jahren widmete sich Patti Smith vor allem ihren Kindern und schaffte es dann ab Mitte der 1990er Jahre, an ihre frühen Erfolge anzuknüpfen. Etwa zwanzig Bücher hat sie veröffentlicht, vor allem Gedichtbände. Sie ist nicht nur eine großartige Musikerin, sondern rezitiert auch eigene Texte sehr eindrücklich. Ich habe Patti Smith oft auf der Bühne gesehen, das erste Mal 1979 in München, zuletzt im Sommer 2018 vor dem Kölner Dom: Die Poetin mit dem Mondhaar ergreift mich jedes Mal.
Lina Atfah (geb. 1989)
Auch Lina Atfah ist eine Dichterin. Eine Naturgewalt. Auf der Leipziger Buchmesse 2019 trug sie ihre Texte in arabischer Sprache vor. Das war bewegend, musikalisch und sehr stark, eine großartige Performance. Sie war in ihrem Element, der Sprache, ihrer eigenen Sprache, die ihr so viel bedeutet. In ihren Versen, die wir in Übersetzungen lesen können, schreibt sie über das Leid der SyrerInnen, den Schrecken, den Krieg und Gewalt über ihr Land gebracht haben, und sie schreibt gegen die Diktatur an. Sie wurzelt in der arabischen Dichtung, und auch das kommt zum Ausdruck. Körperlichkeit, Schönheit, Begehren sind Teil ihrer lebendigen Lyrik. Lina Atfah vermittelt mit ihren komplexen Gedichten ein Gefühl für ihre Kultur, für die Dunkelheit der Kriegszeit, aber auch für die Gerüche, das Licht und die Schönheit. Bewegend und zugleich künstlerisch schreibt sie über ihre fünfjährigen Cousinen, die von einer Miliz des Assad-Regimes getötet wurden. Die Flucht und der Weg nach Europa finden sich in ihren Texten, die schmerzen.
Es wird erfahrbar, wie schwer es ist, in einem fremden Land eine neue Sprache zu lernen, weil man dazu gezwungen ist. Die knapp Dreißigjährige kam 1989 in Salamiyah, Syrien, zur Welt. Als junges Mädchen begann sie zu schreiben. Schon 2006 wurde ihr verboten, öffentlich aufzutreten, weil sie den Staat beleidigt und Gott gelästert habe, da war sie 17 Jahre alt. 2014 konnte sie über den Libanon nach Deutschland ausreisen. Das Buch von der fehlenden Ankunft heißt ihr erster Gedichtband, der in diesem Frühjahr erschien. Es ist ein Buch, das nichts beschönigt und ans Herz geht. Aber es ist keine Betroffenheitslyrik. Ihre Texte sind dicht und fordern eine intensive, mehrfache Lektüre. Acht Jahre hat Lina Atfah gebraucht, um nach ihrem Auftrittsverbot wieder schreiben zu können. Nun steht sie vor uns. Eine warmherzige Künstlerin, die beginnt, den Platz einzunehmen, der ihr zusteht. Beeindruckend.
Drei Bücher
Angela Krauß: Der Dienst
Ein Freund empfahl mir kürzlich das schmale Bändchen Der Dienst (2016) von Angela Krauß. Nach der Lektüre der 47 Seiten sah ich, was für eine großartige Autorin mir bisher entgangen war. Wie sie geologische Naturbeschreibung und die Erinnerungen der Ich-Erzählerin an ihren Vater und seinen Suizid zu einem Schwarzweißfilm ostdeutscher Lebensgeschichte der 1950er und 1960er Jahre komponiert, ist meisterhaft. Sprachliche Genauigkeit verbindet sich mit der Weisheit einer Erzählerin, die das Geschehen im Rückblick deutet, aber in der Schwebe bleibt. Dieses Schwebende hat auch ihr neuer Text Der Strom (2019). Ein funkelnd kluges schmales Werk, das mit großer Leichtigkeit (Ost)-Geschichte und Gegenwart einer imaginierten Dichterin umkreist. Verblüffende Erkenntnisse bietet die Ich-Erzählerin, die die Welt mit geschlossenen Augen wahrzunehmen scheint und dabei viel sieht. Man beobachtet eine Künstlerin am Werk, die ihren poetischen Blick auf alles mit der gleichen Aufmerksamkeit richtet, sei es der Alltag, die Speisefolge in einem Restaurant, die persönliche Befindlichkeit der Ich-Erzählerin – und mit Eleganz tiefe Einsichten formuliert. Alles scheint in einem poetischen Raum, der »keine Begrenzung im Dreidimensionalen« hat, erfahren und betrachtet zu werden. Wir sehen eine Dichterin bei der Arbeit und einen Menschen. Ein Vergnügen, ihr zuzuschauen und zuzuhören. Für mich ist die vielfach Ausgezeichnete eine Entdeckung. Ihre unaufgeregte Haltung vorbildhaft.
Mein Buchhändler Alfred Böttger hat Angela Krauß für den 21. November 2019 in seine Buchhandlung in der Bonner Thomas-Mann-Straße eingeladen. Ich freue mich jetzt schon darauf.
Marion Poschmann: Die Kieferninseln
Zugegeben: Die Kieferninseln (2017) von Marion Poschmann hatte ich noch nicht gelesen. Obwohl sie mit diesem Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landete. Ich habe sie vor Jahren als Lyrikerin und Essayistin erlebt. Kürzlich wurde sie nun für den Man Booker International Prize nominiert. Wow, dachte ich. Jetzt aber schnell. Ja, und dann habe ich diesen Roman gelesen. Die Geschichte ist so aberwitzig wie berührend: Ein nur mäßig erfolgreicher Kulturwissenschaftler (Bartforscher!) verlässt fluchtartig seine Frau, weil er geträumt hat, dass sie ihn betrüge. Er reist nach Japan und trifft in Tokio einen jungen, todessehnsüchtigen Japaner. Mit ihm ist er unterwegs auf den Spuren des großen Haiku-Dichters Basho zu den Schauplätzen seiner Texte, unter anderem den Kieferninseln. Das klingt sehr kulturlastig. Aber auf ihren Streifzügen durch Tokio und auf dem Weg zu den Kieferninseln erleben die beiden das moderne Japan, seine Hässlichkeit, seine Widersprüche und Absurditäten. Die Schauplätze der Gedichte sind meistens das Gegenteil von idyllisch, weil sich die Landschaft eben seit dem 17. Jahrhundert sehr verändert hat. Gilbert schreibt Haikus und verhält sich vollkommen irrational. Manchmal weiß er nicht, was wahr ist und was er geträumt hat. Sein Begleiter kommt ihm irgendwann einfach abhanden. Natürlich ist seine Reise auch eine intensive Begegnung mit sich selbst und der Sehnsucht nach Liebe. Das alles ist in einer wunderbaren Sprache beschrieben, so leicht, so heiter, so nachdenklich. Die Kieferninseln ist ein Roman über Dichtung und Wahrheit, über das Reisen und über Japan, staunend, klug und fesselnd.
Aline Valangin: Tessiner Erzählungen
Durch Zufall stieß ich auf die Schweizer Schriftstellerin, Musikerin und Psychoanalytikerin Aline Valangin (1889–1986). Beim Büchermarkt im Stuttgarter Literaturhaus im vergangenen Sommer schaute ich mir das Programm des von mir sehr geschätzten Limmat-Verlages (Zürich) an. Auf der Suche nach Erzählungen, die ich in meinen »Shared Reading«-Veranstaltungen, die ich alle zwei Monate mache, verwenden könnte. Shared Reading ist ein in Liverpool entwickeltes faszinierend neuartiges Format der Literaturvermittlung, das ich in einem Workshop im Berliner LCB kennengelernt habe.
Aline Valangins Tessiner Erzählungen (2018 wieder erschienen) entstanden in den 1930er und 1940er Jahren. Sie beschreiben das Leben in einem abgelegenen Dorf im Tessin. Gehässigkeiten, Freuden, Schicksalsschläge, Dramen, die so ein Leben in einem fernen Bergtal mit sich bringt. Ein Leben, das sich vor den aufmerksamen Augen der Dorfgemeinschaft mit all ihren menschlichen Schwächen wie Missgunst, Neid, Schadenfreude, Fremdenfeindlichkeit, Bigotterie usw. abspielt. Dabei richtet die Autorin ihr Augenmerk besonders auf die schwierige Lage der Frauen in so einer Gesellschaft. »Stella« zum Beispiel erzählt von einer jungen Frau, die sich nicht aus dem Zusammenleben mit ihrem verwitweten, herrischen Vater befreien kann. Ihr bleibt nur der Suizid. Die Erzählungen sind lose verknüpft durch immer wieder auftauchende Protagonistinnen des Dorfes. Ein grandioses Sittengemälde mit feinen Beobachtungen, das den Dorfkosmos schonungslos, aber nicht ohne Humor schildert. Fesselnd geschrieben und zeitlos gültig. In dem schmalen Band Mutter (2001 von Liliane Studer herausgegeben) verarbeitet Aline Valangin das eigene schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter. Die ungesund enge Verbindung und die großen Konflikte bei der Suche nach ihrem eigenen Lebensweg, die Ambivalenz in ihrem Verhältnis und den Schmerz, der für beide daraus entsteht. Raum ohne Kehrreim (Espace sans refrain, 2003) ist ein zweisprachiger Band mit im Original französisch geschriebenen Gedichten, der die große Bandbreite der Ausdrucksformen Aline Valangins, ihre Sprachmächtigkeit, eindrucksvoll vor Augen führt. Diese Schriftstellerin ist für mich eine echte Entdeckung.
Fotos: © Barbara Weidle