In diesem Monat gibt es ganz besondere Lesetipps: Die Lektorin und Übersetzerin Carola Köhler, die von 2012 bis 2016 Regionalsprecherin der Berliner Gruppe der BücherFrauen war, stellt uns Comics und Graphic Novels vor. Sehr spannend!
Carola Köhler ist freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Italienischen. Für ihre Übersetzungen der Graphic Novel Kobane Calling von Zerocalcare und Die Tage der Amsel von Manuele Fior wurde sie im Juni mit dem Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises
ausgezeichnet. Alles Weitere unter www.ck-lektorat.de
Ich liebe Comics, seit ich denken kann. Zu meiner Kindheit (in der DDR) gehörten sie ganz selbstverständlich dazu. Und da meine Großeltern regelmäßig in den „Westen“ fahren durften, waren das nicht nur die Abrafaxe, Fix & Fax und Lolek & Bolek, sondern auch Donald Duck, Fix & Foxi und die Peanuts. Erst später wurde mir bewusst, dass Comics erstens eher so ein „Jungsding“ waren und zweitens als minderwertige Lektüre auf dem Weg zum Bildungserfolg galten. Werch ein Illtum! In meinen Augen sind dies lediglich Zuschreibungen eines traditionell geprägten bürgerlichen Rollen- und Bildungsverständnisses. Leider sehr wirkmächtig, wir arbeiten uns immer noch daran ab. Oder sollte ich sagen wieder? Denn ich meine, dass die Türen in den Siebzigern und Achtzigern schon mal weiter geöffnet waren. Aber irgendwie hat sich die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten dreißig Jahren im Kreis gedreht. Übers generische Maskulinum wird zum Teil in einer Weise erbittert gestritten, als ob es all die klugen Interventionen von Luise F. Pusch, Senta Trömel-Plötz und Co. nie gegeben hätte (Ausnahmen bestätigen die Regel). Auch im Comicbereich wird manches gehypt, als ob es aus dem Nichts käme. Hier hin und wieder mal das kulturelle Gedächtnis zu befragen, könnte zu erstaunlichen Erkenntnissen führen …
Drei Autorinnen
Julie Doucet (geb. 1965)
Mitte der Neunziger waren Comicläden noch ein rares Gut, Comics von Frauen ein noch viel rareres. In Berlin stieß ich auf Anke Feuchtenberger, L.G.X. Lillian Mousli und Julie Doucet. Letztere will ich als Pionierin hier vorstellen, weil sie mich damals mit ihrer Radikalität, ihrer Ausdruckskraft und ihrer schonungslosen Offenheit in ihren Bann gezogen hat und das auch heute noch tut. Ihre überwiegend schwarz-weißen Comics umweht der Ruch des Undergrounds, ihre übervollen Panels, mit viel Text und Liebe zum Detail gezeichnet, sind fürs lineare Lesen eine Zumutung. Zwischen Berlin, New York und Montreal verhandelt Doucet die prekäre Existenz als Frau und Künstlerin, oft in Form von (Alb-)Träumen. Das Blut, das hier zur Genüge spritzt, ist Menstruationsblut, und der Kampf, der hier geführt wird, ist der mit sich selbst. Teile ihrer Heftreihe Dirty Plotte aus den Neunzigern erschienen in Deutschland als Wahre Haushaltscomics (übersetzt von Anne Berling, leider nicht mehr neu lieferbar) und New Yorker Tagebuch (übersetzt von Jutta Harms). Zur Jahrtausendwende zog sich Doucet aus dem Comicgeschäft zurück, unter anderem, weil ihr die Szene zu männerlastig war. Zwanzig Jahre später gibt es eine Gesamtausgabe von ihr und auch auf Deutsch einen Band Julie Doucets allerschönste Comicstrips (übersetzt von Jutta Harms und Cornelia Röser). Julie Doucet zu lesen wird nie langweilig, es gibt immer noch etwas Neues zu entdecken, ein weiteres Detail, einen anderen Blickwinkel. Und die Energie, die einer aus diesen Comics entgegenschlägt, ist im wahrsten Sinne des Wortes ansteckend.
https://drawnandquarterly.com/dirty-plotte-complete-julie-doucet
Spring (Künstlerinnengruppe, seit 2004)
Jedes Jahr im Spätsommer erscheint der Frühling wieder, und zwar in Form eines monothematischen Comicbandes, der die Crème de la Crème der deutschsprachigen Zeichnerinnen versammelt. Die Künstlerinnengruppe Spring versteht sich als loser Zusammenschluss, als kollektives Netzwerk Gleichgesinnter. Hier einzelne Namen herauszugreifen, erschiene mir ungerecht, aber bei Spring vertreten sind wirklich alle, die zurzeit im deutschen Comic relevant sind. Seit siebzehn Jahren nun veröffentlichen sie kontinuierlich ihre „Leistungsschau“, und die Leistung ist umso bewundernswerter, wenn man bedenkt, dass es ein nichtkommerzielles, selbstverwaltetes Herzensprojekt ist. Einige sind von Anfang an dabei, mit arbeitsbedingten Pausen, andere kommen neu hinzu oder melden sich nach längerer Zeit zurück. Über die Jahre lässt sich so anhand der Spring-Bände auch die Entwicklung einzelner Künstlerinnen verfolgen. Jeder einzelne Band ist eine kleine Schatzkiste, voller Überraschungen und sowohl inhaltlich als auch formal immer wieder anders, immer von allerhöchster Qualität, teilweise sehr aufwendig gestaltet und mit einem Blickfang-Cover. Ganz frisch erschienen ist der diesjährige, in viel Lila gehaltene Band Gespenster, und der Clou ist das Gespenst auf dem Cover, das im Dunkeln leuchtet!
Birgit Weyhe (geb. 1969)
Okay, eine Ausnahme mache ich und nenne hier eine, die auch zu Spring gehört. Birgit Weyhes Arbeiten sind in meinen Augen einzigartig auf dem aktuellen Comicmarkt. Mit klarem Strich und viel Einfühlungsvermögen erzählt sie Alltagsgeschichten, oftmals Lebensgeschichten, und rückt dabei Menschen in den Fokus, über die normalerweise niemand berichtet. Häufig spielt ihre aus biografischen Gründen enge Verbindung zu Afrika eine Rolle (sie wuchs in Ostafrika auf), auch Migration, Sprache, Heimat sind wichtige Themen. Am bekanntesten ist sie mit Madgermanes geworden, worin sie auf berührende Weise über das Schicksal ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik berichtet. Auch in ihrem jüngst erschienenen Band Lebenslinien spürt sie Brüchen und Schicksalen ganz unterschiedlicher Menschen nach, die sie in knapper und unprätentiöser Weise auf wenigen Seiten porträtiert. Während viele Comicautor*innen manchmal ein bisschen zu sehr im eigenen Saft schmoren, gehört Birgit Weyhe zu denen, die in die Welt hinausgehen. Das Ergebnis sind wunderbare Comicreportagen der leiseren Art.
Drei Bücher
Claire Bretécher: Frustriert
(Übersetzt aus dem Französischen von Rita Lutrand und Wolfgang Mönninghoff)
Dieses Buch wurde mir 1989 gleich zweimal geschenkt, von einer Freundin und von einem Freund. Es war das Begleitbuch zu einer Bretécher-Ausstellung, die im Frühjahr 1989 im Ostberliner Centre culturel français stattfand. Seit Januar lebte ich damals schon in Westdeutschland, aber der Band ist ein Symbol für jene Zeit, in der jede und jeder von uns damals eine eigene Antwort auf die Frage „Gehen oder bleiben“ finden musste. Die wenigsten, mit denen ich zu tun hatte, stammten aus Ostberlin selbst, die meisten waren wie ich aus irgendeiner Provinz zugezogen. Das Unter den Linden gelegene französische Kulturzentrum mit seinen Sprachkursen, seiner Bibliothek, den Filmen und Ausstellungen stellte in der zweiten Hälfte der Achtziger zusammen mit der Bibliothek in der US-amerikanischen Botschaft und den Filmvorführungen in der britischen das Dreieck der Weltoffenheit für uns dar. Alles, was dort angeboten wurde, saugten wir auf, war eine Entdeckung für uns. Ich glaube, Bretécher war die Erste, bei der ich nicht nur die Comics, sondern auch die Autorin dahinter wahrnahm. Und dann diese Themen! Emanzipation der Frau, die bürgerlichen Konventionen mit all ihren Zwängen, die Unfähigkeit des Individuums, aus diesen gesellschaftlichen Strukturen ausbrechen zu können – das alles betraf ja auch uns im Osten, hinter dessen realsozialistischer Fassade sich derselbe patriarchale Scheiß verbarg. Nur dass man im Westen offener darüber reden konnte. Oder eben bissige, mit spitzer Feder gezeichnete Comics aus Frankreich dazu lesen konnte. Inzwischen ist dieses Buch zu einem dreifachen Requiem geworden: Das französische Kulturzentrum in Ostberlin verschwand gleich nach der Wende, die Elefanten Press Galerie, die das Buch damals verlegt hat, ging um die Jahrtausendwende sang- und klanglos ein, und in diesem Februar ist auch die große Claire Bretécher verstorben. RIP!
Vanna Vinci: Frida. Ein Leben zwischen Kunst und Liebe
(Übersetzt aus dem Italienischen von Christine Schnappinger)
Ein Comic über Frida Kahlo? Au weia, dachte ich am Anfang, das ist bestimmt Edelkitsch. Aber dann schlug ich das Buch auf und war begeistert. Vanna Vinci erzählt Frida Kahlos Leben aus deren Ich-Perspektive, wobei sie einen nüchternen, sachlichen Ton findet, der Annäherung zulässt, aber gleichzeitig auch Distanz wahrt. Die Künstlerin bekommt im Comic ihre eigene Stimme zurück, die ihr im Laufe ihrer kulturindustriellen Aneignung verloren gegangen ist. Die tragischen Episoden ihres Lebens werden genauso selbstverständlich erzählt wie ihre Versuche, sich dagegen zu behaupten und sich against all odds ihre Autonomie zu bewahren. Einen wunderbaren, teilweise atemberaubend schönen Kontrast dazu bilden die ausdrucksstarken Zeichnungen mit ihrer farbigen Pracht und Großzügigkeit. Während der Text in vielen einzelnen Sprechblasen sauber geordnet über die Seiten läuft, sprengen die Bilder jeglichen Rahmen, sind ausufernd und ohne feste Panelstruktur. Immer wieder taucht das ikonische Gesicht Frida Kahlos auf, und auch hier gelingt es Vanna Vinci, über die oft gesehenen, stereotyp gewordenen Bilder hinauszugehen und dieses mit einem glaubhaften eigenen Ausdruck zu versehen. Nachdem ich die italienische Ausgabe gelesen hatte, bekam ich die deutsche von einer Freundin geschenkt. Wie toll, Freundinnen zu haben, die den eigenen Geschmack so perfekt treffen!
Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster
(Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Torsten Hempelt)
Dieses Buch ist das, was es beschreibt, ein Monster. Oder auch ganz viele. Es ist schwer, es ist umfangreich, es ist beeindruckend, es ist verstörend, es ist unglaublich, es ist krass, es ist ein Meisterwerk! Nicht ohne Grund hat die Autorin mehr als sechs Jahre daran gearbeitet. Und debütiert damit in einem Alter, in dem andere schon beinahe für ihr Alterswerk gerühmt werden. Ha! Erwartungen unterlaufen, Kategorien aufbrechen! Allein das macht den Band schon sympathisch. Doch auch unabhängig von der Geschichte der Autorin, deren Name ja zunächst an einen Mann denken lässt, nimmt das Buch in seiner formalen Ausgestaltung eine Sonderstellung in der Comiclandschaft ein. Ich habe es mir angeschafft, weil mich das Cover magisch angezogen hat. Allerdings habe ich es bisher noch nicht gewagt, diesen Comic von vorn nach hinten durchzulesen. Zu viel geballte Energie, die mir da entgegenschlägt, sobald ich irgendeine Doppelseite aufschlage. Aber das tue ich regelmäßig und bin jedes Mal beeindruckt. Wow, wow, wow, denke ich dann und schlage noch ein, zwei weitere Seiten wahllos auf. Auf diese Weise werde ich irgendwann alle Seiten einmal gesehen haben. Und dann werde ich zur linearen Lektüre bereit sein …
Fotos: © Carola Köhler
8. September 2020 um 12:53
Schöne Anregungen! “Madgermanes” fand ich auch wirklich sehr gut. Birgit Weyhe war neulich auch bei SWR – Leute, die Sendung kann noch nachgehört werden : https://www.swr.de/swr1/bw/swr1leute/birgit-weyhe-illustratorin-und-comiczeichnerin-104.html
2. Oktober 2020 um 11:08
Ich lese seit meiner Jugend sehr gerne Comics – die empfohlenen Autorinnen kannte ich noch nicht. Werde ich mal stöbern 😉 danke!