Für diesen Beitrag im Hochsommer tauscht die Lektorin und Schlussredakteurin Dörte Kanis die Seiten: Wo sie sonst die Blogbeiträge im Zweierteam Korrektur liest, verrät sie uns heute ihre Büchertipps. Sie war Städtesprecherin in Hamburg und organisiert den jährlichen Hamburger LiteraturBrunch der BücherFrauen mit.

© Andreas Hornoff
Dörte Kanis ist in der Lausitz aufgewachsen, den Tagebau immer in Sicht-, Hör- und Riechweite. Die Kulturwissenschaftlerin zog für die große Liebe nach Hamburg und arbeitet nach einem Ausflug in die Musik- und Veranstaltungsbranche seit zehn Jahren als Lektorin und Schlussredakteurin. Seitdem ist sie auch Mitglied bei den BücherFrauen. Seit einigen Jahren erwandert sie Hamburg (Hamburgerwandern.de) und ist beim NABU aktiv.
Zurzeit lese ich in Vorbereitung für den Hamburger LiteraturBrunch aktuelle Veröffentlichungen deutschsprachiger Autorinnen. Ansonsten habe ich bei der Wahl meines Lesestoffs keine besonderen Ansprüche, Hauptsache, mir gefällt die Haltung und der Humor.
3 Autorinnen
Miranda July (geb. 1974)
Eine Zeitlang habe ich sehr gerne Kurzgeschichten gelesen. Das Buch Zehn Wahrheiten von Miranda July schenkte mir ein Freund, weil ich ihren Film Ich und Du und Alle, die wir kennen für einen der schönsten Filme halte, den ich bisher gesehen habe. Der trotzige Lebensmut und der melancholische Witz ergeben so ein irgendwie poetisches Lebensgefühl, das mich beeindruckt hat. Auch aus den Kurzgeschichten der Filmemacherin, Künstlerin und Schriftstellerin spricht diese Eigenwilligkeit, die ich sehr mag, die Lust am Abseitigen, Absurden, an den Tabus, am kindlichen Denken ohne Moralgrenzen. Klingt als Beschreibung schlimm, kommt bei ihr aber gut raus.
Zu ihrem Film The Future habe ich sie im Abaton-Kino mal live erlebt und keine versponnene, schüchterne Kreative erlebt, die sie als Charakter in ihren Filmen verkörpert hatte, sondern eine stilbewusste Künstlerin mit einer klaren gesellschaftskritischen Agenda. Dieses Jahr erschien bei Prestel eine Retrospektive von ihr.
Mela Hartwig (1893–1967)
Das Buch Bin ich ein überflüssiger Mensch? habe ich irgendwann mal aus Neugier wegen des Titels gekauft. Dann lag es ganz lange rum, und irgendwann nahm ich es in einen Leseurlaub mit. Dort wirkte seine Lektüre lange in mir nach. Elegant geschrieben, ganz klar und uneitel, fast schon erforschend beschreibt die Ich-Erzählerin Aloisia Schmidt ihre „lächerlich alltägliche“ Lebensgeschichte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, in kleinbürgerlichen Verhältnissen, mit mittelmäßiger Schulkarriere, die sich für ihren Ehrgeiz schämt und ihre großen Gefühle als eitel verurteilt.
Ich finde es in seiner Hellsichtigkeit der Systemkritik und gleichzeitig als psychologisches Porträt berührend genau und entlarvend. Und genau darin noch immer aktuell.
Im Nachwort las ich, dass dieses Buch erst 70 Jahre nach der Fertigstellung und damit nicht mehr zu Lebzeiten der Autorin veröffentlicht wurde. Nach preisgekrönten und später Skandal erzeugenden Veröffentlichungen verschwand Hartwig nach ihrer Emigration 1938 nach London aus der literarischen Öffentlichkeit und widmete sich daraufhin der Malerei. In den 1970er-Jahren entdeckte die österreichische Frauenliteratur-Forschung die Autorin, und Anfang der 1990er-Jahre wurden ihre bereits veröffentlichten Bücher Ekstasen und Das Weib ist ein Nichts sowie später dieser Titel bei Droschl wiederaufgelegt.
Rita Kuczynski (geb. 1944)
Ich lese sehr gerne Sachbücher, und in meinem Regal gibt es unter anderem eine Ecke mit Büchern über die deutsche Wende- und Nachwendezeit. Exemplarisch dafür greife ich hier die Autorin Rita Kuczynski heraus. Ihr Interviewband Ostdeutschland war nie etwas Natürliches mit Stimmen von Historikern und Intellektuellen aus Ost- und Mitteleuropa auf die Wende- und Nachwendezeit der Bundesrepublik Deutschland hat meinen Horizont erweitert und mir andere (durchaus auch streitbare) Narrative gezeigt, diese historische Zeit einzuordnen – eben nicht nur als Verlusterzählung. Ich fand diesen Band beim Stöbern in einem Bücherflohmarkt der evangelischen Kulturkirche bei mir um die Ecke und war danach auf ihren davor erschienenen Interviewband Im Westen was Neues? Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität neugierig. Ihre dortigen Interviews porträtieren Menschen aus den neuen Bundesländern im Jahr 2002, die gemeinsam haben, sich als „angekommen“ in der Bundesrepublik zu betrachten. Damit – fand ich zu dem Zeitpunkt, das erinnere ich noch – hat sie dem Klischee des „Jammer-Ossis“ gezielt ein konstruktives, kraftvolles Lebensgefühl entgegengesetzt, das ich ermächtigend fand.
3 Bücher
Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten
Hier fällt mir als Erstes Judith Zander ein, die mir beim Lesen für den LiteraturBrunch begegnet ist. Ihr Buch Dinge, die wir heute sagten hat mich tief in seinem Sound und mit seinen echten Dialogen berührt – das war meine erste bewusste Begegnung mit zeitgenössischer Literatur und Sprache aus den neuen Bundesländern. Die Geschichte spielt im Dorf Bresekow in Vorpommern, zu Wort kommen drei Generationen, es geht um eine Frau, die hier zur Beerdigung ihrer Mutter nach 20 Jahren noch einmal in das Dorf zurückkehrt und dabei gleich noch einige andere Dinge klärt. Judith Zander gibt jeder Person überzeugend ihre eigene Stimme und Sprache. Hat mich einfach tief berührt und großartig unterhalten und empfehle ich heute noch ab und zu gerne weiter, wenn es passt.
Lilian Loke: Auster und Klinge
Dann fällt mir Lilian Lokes Auster und Klinge ein, auch für den Literaturbrunch gelesen, großartiges Buch! Figuren, Dialoge, Sujet, Humor, Haltung – der Plot ein perfektes Drehbuch. Victor, Hotelfachmann und heimlich Einbrecher. Georg, Künstler und heimlich Erbe eines milliardenschweren Schlachtkonzerns. Das sind die beiden Hauptfiguren der Geschichte, sie „begegnen“ sich, als Victor nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt zufällig bei Georg unterkommt, und die beiden schließen einen Deal: Victor bringt Georg das Einbrechen bei, dafür erhält er das Kapital für sein ersehntes Restaurant, um seine Familie zurückzugewinnen.
Ein stilleres, aber nicht weniger großartiges Buch, weil lebensnah, präzise, klug, humorvoll und für mich augenöffnend. Der Text auf der U4 bringt es auf den Punkt: „Mit klarem Blick und bestechender Offenheit beschreibt Dilek Güngör in ihrem Roman Ich bin Özlem, welche Kraft es kostet, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, die besessen ist von der Frage nach Zugehörigkeit, Identität und der ,wahren‘ Herkunft.“ Özlem hat studiert, spricht mehrere Sprachen, lebt als Sprachlehrerin mit Mann und zwei Kindern in Berlin. Ein normales, glückliches Leben, davon erzählt sie – und auch von ihrer Wahrnehmung des unbewussten Alltagsrassismus, gegen den sich Özlem zunehmend wehrt, erst leise, dann deutlicher. Ihrer Suche nach einem guten persönlichen Umgang damit bin ich von Herzen gefolgt.
11. August 2020 um 16:54
Vielen Dank für die Empfehlungen! Ich habe große Lust in eine Buchhandlung zu gehen und mindestens fünf der Bücher zu bestellen!