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Drei Autorinnen – drei Bücher: Gertrud Lehnert

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Heute stellt uns Gertrud Lehnert, die als Freiberuflerin um die Jahrhundertwende Vorsitzende der Bücherfrauen war, ihre Favoritinnen vor. Ihre Lesetipps führen uns wieder in verschiedene Länder und Zeiten, gemeinsam haben sie, dass sie alle ursprünglich auf Englisch geschrieben wurden.

© Christina Böder

Gertrud Lehnert ist seit 2002 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Sie arbeitet über Schnittstellen von Literatur und bildender Kunst, Geschichte und Theorie der Mode sowie Gender/Queer Studies.

 

 

 

 

 

Drei Autorinnen

 

Emily Dickinson (1830–1886)

Ob Emily Dickinson eine sympathische Person war? Ich weiß es nicht und will es gar nicht wissen. Mich interessieren ihre Texte. Emily Dickinson ist eine großartige Lyrikerin, deren oft rätselhafte Gedichte mit ihren Gedankenstrichen eine sprachliche Suggestionskraft besitzen, die weit über das semantische Verständnis hinausreicht. Dickinsons Dichtung beschäftigt viele Literaturwissenschaftler*innen, die die Rätsel der Texte zu lösen versuchen, was immer weitere Verständnis-Horizonte eröffnet. Man kann sich jedoch auch einfach der so fragmentarisch und stockend wirkenden und zugleich so geschmeidigen Sprache hingeben, den Bildern, die die Lyrikerin evoziert, den unerwarteten Verbindungen, die sie schafft, dem abrupten Rhythmus und auch der typografischen Anordnung der  Wörter und Sätze, die wie ein Bild auf der Buchseite wirken können. Ihre Gedichte sind rätselhaft in ihrer Verdichtung, und manchmal sind sie auch verblüffend deutlich und scheinen ganz direkt zu sagen, was gesagt werden will:

„One Need Not Be a Chamber – To be Haunted –“  (S. 362)

„Man muss kein Zimmer sein / damit es spukt …“

Emily Dickinson schreibt über Leben, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht und Tod, über Ängste und Fantasien, über Raum und Zeit, über Tiere (Fledermaus, Biene, Spinne …), Pflanzen, Landschaften und manchmal auch über Menschen. Nichts ist zu groß oder zu klein, zu traurig oder zu schön, um in der lyrischen Sprache eine andere, eigenständige Existenz zu finden, zum bewegten und inspirierenden Bild, auch zu Allegorie oder Symbol zu werden.

Emily Dickinson schrieb und schrieb, aber zu Lebzeiten veröffentlichte sie nur sieben Gedichte. Das mag falschem Rat ihres literarischen Freundes und Beraters Higginson zu verdanken sein, mit dem sie viele Jahre lang korrespondierte. Sie stilisierte sich selbst zu einer weltfremden, zerbrechlichen, feenhaften Gestalt ganz in Weiß, obgleich sie über das Alter hinaus war, in dem Frauen weiß trugen. Emily Dickinson lebte in ihrem Elternhaus, quasi unmündig, ohne viel Selbstbestimmungsrecht. Vielleicht war sie als junge Frau in ihre Schwägerin verliebt, vermutlich hatte sie eine späte Liebesbeziehung zu einem unbekannten Mann, aber darüber schrieb sie nicht direkt. Ihre Gedichte sind in ihrer Rätselhaftigkeit und Fragmentiertheit, in ihrer visuellen Direktheit und zugleich Intellektualität geradezu provokant modern.

Lesetipp: Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte. Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler, München: Hanser 2015.

Jeanette Winterson (geb.1959)  

Ich gehe selten zu Lesungen – ich lese lieber selbst –, aber einmal hatte ich das Glück, eine Lesung von Jeannette Winterson live zu hören. Es war großartig,  lebendig und inspirierend. Berühmt wurde Jeanette Winterson mit ihrem ersten Roman Oranges Are Not the Only Fruit (deutsch: Orangen sind nicht die einzige Frucht), der 1985 von Pandora Press veröffentlicht, rasch in viele Sprachen übersetzt und für die BBC adaptiert wurde. Sie orientierte sich darin an ihrer eigenen Geschichte als adoptierte Tochter eines frommen und strengen Pfingstler-Ehepaares, das sie mit 16 verließ, als sie ihre erste Beziehung zu einer Frau hatte. 2012 ergänzte sie diesen Roman durch ihre Autobiografie Why Be Happy When You Could Be Normal? (deutsch: Warum glücklich statt einfach nur normal?), die viel weiter ausgreift und unter anderem die Suche nach der biologischen Mutter und die erste Begegnung mit ihr und ihren anderen Kindern thematisiert. Es folgten The Passion (1996) (deutsch: Verlangen), The Powerbook (2001) (deutsch: Das Powerbook) und andere Romane, darunter auch Kinderbücher.

Mein liebster Roman von Jeanette Winterson ist Written on the Body (1993) (deutsch: Auf den Körper geschrieben). Auch nach dem x-ten Lesen finde ich ihn poetisch, inspirierend, intellektuell anregend, witzig … Er enthält so viele literarische Anspielungen auf Motive und Erzählweisen der europäischen Literatur, dass das Lesen einer Entdeckungsreise gleichkommt. Der Clou ist, dass mit dem Geschlecht der erzählenden Hauptfigur gespielt wird, sodass man nie herausbekommt, ob sie Frau oder Mann, Lesbe, Hetera, Trans oder was auch immer ist. Es gibt wenige andere Romane, die so verfahren, Anne Garrétas aufregender Erstling Sphinx gehört dazu (1986, in deutscher Übersetzung 2015 in der Edition Fünf) oder Krimis von Sarah Caudwell aus den 1980er-Jahren. Aber nur Winterson spielt dermaßen übermütig mit Gender-Stereotypen, mit Komödie und Tragödie, Witz und Verzweiflung, mit der gesamten Liebesliteratur seit Shakespeare. Der Roman ist längst zum Klassiker avanciert.

P. D. James (1920–2014)

Im Zusammenhang mit einem Projekt und einem Seminar lese ich derzeit viele, viele Kriminal- bzw. Detektivromane. Sehr viele davon kenne ich längst, aber ich vergesse die Details immer schnell wieder. Das größte Lesevergnügen bereiten mir die Romane von P. D. James (1920–2014). Gerade habe ich Im Saal der Mörder beendet (2003, deutsch 2004, übersetzt von Christa Seibicke). James’ Romane gehören zu den literarisch anspruchsvollsten Krimis, die ich kenne. Es geht in ihnen um Menschen und darum, wie Menschen funktionieren; es geht um menschliches Zusammenleben, gesellschaftliche Regeln, Normen und Normverstöße, und das alles kristallisiert sich um ein Kapitalverbrechen. James besitzt die seltene Fähigkeit, Menschen so zu schildern, dass sie unverwechselbar werden und man doch nicht alles von ihnen erfährt. Das ist nicht nur ein für Krimi-Plots wichtiger Trick, sondern es entspricht einem grundsätzlichen Verständnis von Menschen. Und hat außerdem mit etwas zu tun, was seltener geworden ist: Taktgefühl.

P. D. James musste die Schule mit 16 verlassen und in einem Steuerbüro arbeiten; viel später arbeitete sie unter anderem in der Kriminalabteilung des Innenministeriums. Sie hatte zwei Töchter und war die Alleinernährerin ihrer Familie; ihr Mann kam psychisch krank aus dem Krieg zurück und starb 1964. Erst mit 38 Jahren begann sie zu schreiben und zu publizieren. In insgesamt 14 Krimis ermittelt Adam Dalgliesh – der nebenbei Gedichte schreibt – mit seinem Team, sie alle entwickeln sich persönlich und beruflich im Laufe der Bände weiter. Zwei weitere Romanen drehen sich um die 22-jährige Ermittlerin Cordelia Gray. Außer Krimis schrieb P. D. James u. a. eine Autobiografie und einen buchlangen Essay über das Genre Detektivroman. Sie wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet, hatte eine Reihe öffentlicher Ämter inne, z. B. als Mitglied der Liturgischen Kommission der Kirche von England, sie befasste sich mit der Gesetzgebung zum Kindeswohl und wurde 1991 geadelt.

 

Drei Bücher

Alicia Gaspar de Alba: Sor Juanas zweiter Traum

Sor Juana hat wirklich gelebt (1648–1695). Sie hieß bürgerlich Juana Inés de la Cruz und war eine der gebildetsten und berühmtesten Frauen ihrer Zeit. Um ihre intellektuelle Neugier leben zu können, ging sie, obgleich sie am Hof der spanischen Vizekönige in Mexiko als junge Frau ein glanzvolles Leben geführt hatte, mit 20 Jahren ins Kloster. Hätte sie sich, was von einer jungen Frau erwartet wurde, verheiraten lassen – schwierig genug, da sie ein uneheliches Kind war –, wäre es zu Ende gewesen mit Wissenschaft, Theologie und Dichtung. Nur ein Kloster bot damals einigen Frauen die Möglichkeit, Ehe und Mutterschaft zu entgehen und sich der Gelehrsamkeit und der Kunst hinzugeben. Sor Juana wurde eine der gesuchtesten und angesehensten Wissenschaftlerinnen und Dichterinnen ihrer Zeit, bis der Neid der anderen, der guten, vorbildlichen Katholiken, zu groß wurde und ihr alles nahm: ihre Bücher, ihre Wissenschaft, ihre Kunst. Ihr „widerspenstiger Geist“, der so lang standgehalten hatte, wurde am Ende gebrochen. Sie wurde zum Widerruf alles dessen, was sie ausmachte, und in ein dienendes, frömmelndes Leben gezwungen, das sie nie haben wollte und das sie nicht lang überlebte. Mit 46 Jahren starb sie an der Pest. Ihre Gedichte gehören heute zum Kanon der spanischsprachigen Lyrik; sie sind doppelbödig und direkt, entsprechen in Stil und Bildlichkeit den Konventionen der Zeit und besitzen doch eine Lebendigkeit, die sie vielfach deutbar machen. Manche der Gedichte, die sie für Vizeköniginnen von Mexiko schrieb, lassen sich als Liebesgedichte lesen. Die US-amerikanische Autorin Alicia Gaspar de Alba hat das getan und daraus einen überaus lesenswerten, dichten Roman gemacht, der sich an die überlieferten Details von Sor Juanas Leben hält und zugleich alle Spielräume nutzt, um eigene Deutungen zu entfalten. Bei ihr gibt es Liebe und Begehren zwischen Sor Juana und den Königinnen, die natürlich nicht ausgelebt, ja kaum ausgesprochen werden können und dürfen. Der Roman steckt voller Details über das Leben im Kloster, die Intrigen, die Engstirnigkeiten und den Neid. Ebenso viel erfährt man lesend über Sor Juanas große Erfolge als Autorin, über ihre immense Bildung, über ihre Dichtung und ihre theologischen Auseinandersetzungen. Und das, was nirgendwo geschrieben steht, erfindet der Roman: die privaten Gedanken, Hoffnungen, Schmerzen einer Wissenschaftlerin, Dichterin und Liebenden. Der Roman wurde vom Verlag Krug & Schadenberg entdeckt und 2002 in einer hervorragenden deutschen Übersetzung von Andrea Krug veröffentlicht.

Philippa Pearce: Tom’s Midnight Garden

Eines der prägenden Bücher meiner Kindheit ist  Als die Uhr dreizehn schlug von Philippa Pearce, obwohl der Protagonist ein Junge ist, was ich (schon) damals nicht besonders schätzte. Irgendwann begegnete der Roman mir in „unserer“ Filiale der Stadtbibliothek, die ich damals zweimal wöchentlich ausgiebig frequentierte, weil ich mich nie für einige wenige der unzähligen verlockenden Bücher entscheiden konnte. Für diesen Roman entschied ich mich sofort, liebte ihn beim Lesen, dachte später oft an ihn zurück, aber erst Jahrzehnte später fand ich in wieder. Seither steht er in der englischen Originalfassung in meinem Bücherregal – und außerdem eine charmante Adaption als (ursprünglich französische) Graphic Novel von „Edith“.

Tom verbringt die Ferien bei langweiligen alten Verwandten in einem großen alten Haus. Und wie es sich für ein sehr altes Haus gehört: Nachts, als Tom vor lauter Heimweh nicht schlafen kann, hört er die alte Standuhr aus dem Treppenhaus schlagen – und wundert sich: die Schläge hören bei 12 nicht auf, sondern erst bei 13. Tom hält es nicht im Bett, er muss das untersuchen. Aber das Haus hat sich seltsam verändert. Und als er die Tür zum Hinterhof öffnet, steht er in einem lichtdurchfluteten, sommerlichen Garten. Ab diesem Moment ist sein Leben bei den Verwandten nicht mehr öde: Jede Nacht steht er auf und geht in den verzauberten Garten, in dem er bald ein Mädchen seines Alters trifft, Hatty. Zusammen erleben sie die Jahreszeiten, spielen im Sommergarten, laufen Schlittschuh im Winter – in welcher Zeit Tom nachts landet, ist nicht vorhersehbar. Hatty wird während der wenigen Wochen, die für ihn vergehen, immer älter, für sie vergehen Monate oder Jahre, und irgendwann hat sie kein Interesse mehr an dem kleinen Jungen. Bevor Tom niedergeschlagen wieder heimfährt, besucht er die alte Dame aus dem oberen Stock, der das Haus gehört. Sie erkennt ihn sofort: Er ist der Junge, der in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder aufgetaucht ist und immer wieder für Jahre verschwand.

Marge Piercy: He, She and It

Dieser schon ältere Roman ist in meinen Augen einer der interessantesten dystopischen Scifi-Romane; er verbindet technische und wissenschaftliche Entwicklungen mit dem Mythos und setzt unterschiedliche Persönlichkeiten in konfliktreiche Beziehungen zueinander. Shira Shipman, geschieden und ums Sorgerecht für ihren kleinen Sohn gebracht, macht sich auf die gefährliche Reise durch längst völlig verwüstete Landschaften in ihre Heimatstadt Tikva, eine der wenigen freien Städte, die es noch gibt. Ihre eigenwillige Großmutter Malkah lebt dort, brillante Wissenschaftlerin und für mich die lebendigste Figur des Romans. Sie hält sich oft im Internet auf und hat gemeinsam mit dem Wissenschaftler Avram einen Cyborg gebaut. Yod sieht nicht nur menschlich aus, sondern adaptiert immer besser menschliches Verhalten. Für die Menschen aber bleibt er immer fremd, ein Objekt, über das sie Verfügungsgewalt zu haben meinen – ungeachtet der Tatsache, dass sie alle sich mit ihren künstlichen Organen, Augen, Gliedmaßen längst selbst zu Cyborgs entwickelt haben. Widerstrebend lernt Shira Yod zu schätzen und geht schließlich auch eine Beziehung mit ihm ein. Er hilft ihr, ihr Kind wiederzubekommen, und am Ende ist es Yod, der eine entscheidende moralische Entscheidung trifft, ohne die die Stadt zugrunde gehen würde.

Parallel zu dieser Handlung wird eine Erzählung über den Golem im Pager Ghetto eingefügt. Malkah schreibt sie als Schöpfungsgeschichte für Yod. Der Umgang mit künstlichen Menschen ist eine alte Geschichte, die immer wieder neu erzählt wird. So unterschiedlich sie sind: Gemeinsam haben sie die Themen Macht und Angst – die Macht der Menschen, zu erschaffen und über ihre Schöpfung zu herrschen, und die Angst, diese Schöpfung könnte stärker werden als sie selbst. Daraus resultiert fast immer Vernichtung, egal ob in Science-Fiction, Legende, fantastischer Erzählung oder Wirklichkeit. Eine der ganz wenigen, die den Cyborg positiv ins Spiel bringen, war Donna Haraway in ihrem Cyborg Manifest, mit dem sie bereits in den 1980er-Jahren eine feministisch-humanistische Perspektive entwickelt.

Er, Sie und Es erzählt eine komplexe Geschichte über menschliche Kreativität, über Hybris und Zerstörungswut – und über die Macht von Sprache, die Traditionen bewahren kann und auch eigene Welten zu erschaffen vermag.

 

 

Autor: Doris Hermanns

Doris Hermanns lebt nach 25 Jahren als Antiquarin in Utrecht/Niederlande seit 2015 in Berlin, wo sie als Redakteurin, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin tätig ist. Seit 2000 ist sie in der Redaktion der Virginia Frauenbuchkritik, seit 2012 in der Redaktion des Online-Magazins AVIVA-Berlin. Zahlreiche Porträts von Frauen auf www.FemBio.org. Sie veröffentlichte u. a. die Biografie der Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe sowie deren Feuilletons. 2021 gab sie den Roman "Christian Voß und die Sterne" von Hertha von Gebhardt heraus, an deren Biografie sie arbeitet. Neueste Veröffentlichung: »Und alles ist hier fremd«. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil. Von 2016 bis 2020 war sie Städtesprecherin der BücherFrauen in Berlin. BücherFrau des Jahres 2021.

2 Kommentare

  1. Wieder mal tolle Leseanregungen! (Wann soll ich denen bloß nachgehen???) Einige dieser Schätze liegen schon bei mir – die Gedichte von Emily Dickinson zum Beispiel, von denen ich immer wieder ein, zwei, drei lese. Und herzlichen Dank auch für die Vorstellung von “Sor Juanas zweiter Traum” und die lobenden Worte zu meiner Übersetzung – eines meiner persönlichen Lieblingsbücher bei uns im Verlag. Ein großartiger historischer Roman mit einer faszinierenden Protagonistin.

  2. Danke für die tollen Hinweise, Gertrud. Emily Dicksinson und Jeanette Winterson stehen schon lange auf meiner To-Read-Liste, Marge Piercy kommt noch hinzu. Falls Du eine wirklich tolle Empfehlung für edition fünf hast, idealerweise public domaine, komm gerne auf uns zu.

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