Auch während des einmonatigen Teil-Lockdowns braucht keine auf Lektüre zu verzichten. Ganz im Gegenteil: Es ist eine gute Zeit zum Bücherlesen, wie sich ja bereits im Frühjahr gezeigt hat. Die Übersetzerin Marieke Heimburger hat für diesen Monat einige Tipps, mit denen Reisen zumindest gedanklich möglich sind.
Marieke Heimburger ist Literaturübersetzerin, und zwar diplomierte! Nachdem der Berufswunsch schon früh gefasst war, hat sie in Düsseldorf genau das studiert, was sie später mal machen wollte: Literaturübersetzen (Englisch und Spanisch). Seither hat sie praktisch jedes Jahr eine Fortbildung mitgemacht, unter anderem bei den BücherFrauen. Über 50 Romane sowie ein paar Sach-, Jugend- und Kinderbücher hat sie inzwischen aus dem Englischen und dem Dänischen übersetzt. Ja, aus dem Dänischen, denn ihr Lebensmittelpunkt hat sich irgendwann an die deutsch-dänische Grenze verlagert.
Sie ist auch als Dolmetscherin, Moderatorin, Referentin und Co-Autorin tätig – sowie (seit 2017) als Schatzmeisterin des Übersetzerverbandes (VdÜ). www.mh-text.com
Drei Autorinnen
Isabel Allende (geb. 1942)
Über die Autorin selbst muss ich nicht viel sagen … Geboren in Lima (Peru), wuchs sie in Santiago de Chile, La Paz und Beirut auf. Bis 1981 war sie als Journalistin tätig, dann schrieb sie ihren ersten Roman, den Welterfolg Das Geisterhaus, den ich 1992 im Original las. Ich fand Allende aus vielen Gründen interessant, unter anderem deshalb, weil sie Frauenrechtlerin war und weil sie aus Lateinamerika kam. Weil sie sich mit Mitte vierzig scheiden ließ und einen Neuanfang wagte. Weil sie irgendwie anders („weiblich“?) schrieb – angesichts der fast frauenfreien Literatur-Lehrpläne meiner Schulzeit (1978–1991) eine Offenbarung. Allende eröffnete mir neue Welten.
So viele Bücher von ihr habe ich gar nicht gelesen, und es gefielen mir auch nicht alle (ich erinnere mich dunkel, dass ich Eva Luna an der Stelle weglegte, wo sich die Protagonistin die Scheide zunähen ließ). Und doch begleitet diese Autorin mich zumindest sporadisch seit dreißig Jahren. Als ich Anfang zwanzig und selbst noch nicht Mutter war, las ich Paula, jenen Bericht vom Sterben von Allendes 29-jähriger Tochter, der mich sehr berührt hat.
2019 las ich zur Einstimmung auf meine erste, lang ersehnte Reise nach Chile Mein erfundenes Land (aus der Bücherei entliehen). Mir gefiel Allendes speziell weiblicher Blick, die weibliche Art der Annäherung an Land und Leute ausnehmend gut, und ich kaufte mir das Buch quasi als Souvenir vor Ort im Original. Die absolut gelungene deutsche Übersetzung von Svenja Becker (die ich 1999 bei meinem ersten Fortbildungsseminar in München kennenlernte) steht (antiquarisch, da unbedingt als Hardcover) auch dieses Jahr wieder auf meinem Weihnachtswunschzettel. Manche Bücher möchte ich eben einfach haben.
Birgit Vanderbeke (geb. 1956)
Es gibt gar nicht so viele Autorinnen, von denen ich tatsächlich mehrere Bücher gelesen habe, aber Birgit Vanderbeke gehört dazu. Ich weiß nicht mehr, wie ich ursprünglich auf sie kam, aber ich weiß noch, dass ein Kollege mal sehr begeistert von ihr gesprochen hatte, was mir irgendwie auffiel – es war ungewöhnlich, dass ein Mann sich für die Literatur einer Frau begeistern konnte. 2011 begann ich für Piper zu übersetzen, und ab und zu erfüllte mir das Lektorat einen Buchwunsch, so kam ich zu meiner ersten Vanderbeke, zu Das lässt sich ändern. Ich war hingerissen von ihrer Schreibe, von ihren Themen, in denen ich so viel Bekanntes wiederfand. Es erschienen weitere Bücher, ich gab allen eine Chance. Aber erst Ich freue mich, dass ich geboren bin (2016) sprach mich wieder an, und dann kam 2017 Wer dann noch lachen kann, das mich auf so vielen Ebenen begeistert und berührt hat. (Wieso, weshalb, warum, steht etwas detaillierter auf meinem Blog. Seither versuche ich, mir die älteren Werke von Birgit Vanderbeke im Hardcover antiquarisch zu besorgen und peu à peu zu lesen. Ich habe festgestellt, dass mir die Bücher am besten gefallen, die primär mit dem Thema Herkunftsfamilie (also dem eigenen Heranwachsen und der Beziehung zu den Eltern) zu tun haben. Da zieht Vanderbeke mich am ehesten in den Bann, da lasse ich mich faszinieren davon, wie die Autorin mit ihrer assoziierenden Erzählweise, mit ihrer einerseits irgendwie mäandernden, andererseits auch wieder knappen und dichten Sprache auf meist deutlich weniger als 200 Seiten so unfassbar viel sagt. Hätte ich Das Muschelessen, ihren Durchbruch von 1990, gleich damals gelesen, wäre es mir vielleicht wie eine moderne, weibliche und mir viel nähere Version von Kafkas Brief an den Vater vorgekommen …
Lisbeth Nebelong (geb. 1955)
Die Dänin Lisbeth Nebelong habe ich nicht über ihre Bücher kennengelernt, sondern buchstäblich auf der Straße. 2012 war’s, an einem Novemberabend in Kopenhagen, wir standen beide vor dem falschen Theater … Beim raschen gemeinsamen Fußmarsch zum richtigen Theater stellte sich heraus, dass sie Autorin ist, und dass die Färöer-Inseln (für die ich mich zu dem Zeitpunkt aufgrund eines Jugendromans interessierte) ihr Hauptthema sind. Aus dieser Zufallsbekanntschaft am Vorabend der dänischen Buchmesse hat sich ein stabiler Kontakt entwickelt, der – wie ich das bei Bücherfrauen häufig erlebe – irgendwo zwischen beruflicher Verbundenheit und Freundschaft angesiedelt ist. Seither habe ich nicht nur ihren (den dänischen) Reiseführer für die Färöer und ihre Färöer-Romantrilogie gelesen, sondern war auch schon einmal unter ihrer kundigen Leitung (und einmal auf eigene Faust) auf der Inselgruppe im Nordatlantik unterwegs … Lisbeth ist Wirtschaftsjournalistin und hat zwischen 1992 und 2009 mehrere Finanzratgeber für Frauen geschrieben.
2003 erschien ihr erster Färöer-Roman Når engle spiller Mozart (Wenn Engel Mozart spielen), 2008 der Nachfolger Færø-Blues – Drengen med celloen (Färöerblues – Der Junge mit dem Cello), 2014 die Fortsetzung Møde i mol (Begegnung in Moll). Alle drei zusammen bilden seit 2016 Færø blues trilogien (Die Färöerblues-Trilogie), die nicht nur die Geschichte einer lebenslangen Liebe und die der beruflichen und privaten Selbstbehauptung einer in den 1970er Jahren heranreifenden Frau erzählt, sondern auch – und sogar in den Augen der Färinger:innen – ein angemessenes Portrait des nach Unabhängigkeit strebenden Inselstaates (sowie natürlich seiner atemberaubenden Landschaften) zeichnet. Lisbeth ist mir mit ihrer Leidenschaft für ihr Thema, mit ihrer Verbindlichkeit und mit ihrer Vielseitigkeit eine Inspiration. (Und wir würden uns beide sehr freuen, wenn sich ein deutschsprachiger Verlag entschlösse, sie unter Vertrag zu nehmen …) www.lisbethnebelong.dk
Drei Bücher
Kim Edwards: The Memory Keeper’s Daughter/Die Tochter des Fotografen
Als es in Frankfurt am Main noch die internationale Buchhandlung Readers Corner gab, erstand ich dort anno 2009 ein Exemplar von Kim Edwards‘ The Memory Keeper’s Daughter, das 2007 in der deutschen Übersetzung von Silke Haupt und Eric Pütz unter dem Titel Die Tochter des Fotografen erschienen war. Die Geschichte eines Arztes in den USA, der in einer Schneesturmnacht im März 1964 seine Frau von Zwillingen entbindet und eine unfassbare Lebenslüge in die Welt setzt, habe ich nur so verschlungen! Seine Entscheidung, die offenkundig mit dem Downs Syndrom geborene Tochter einer Krankenschwester anzuvertrauen, auf dass diese sie in einem Heim unterbringt, hat die Autorin für mich plausibel herbeigeführt. Die Lüge, die er anschließend seiner während der Geburt betäubten Frau auftischt, ist anfangs auch noch begreiflich. Sein Festhalten an dieser Lüge jedoch, deren Schatten auf der Familie von Jahr zu Jahr größer wird, ist immer schwerer nachvollzuziehen, je mehr Zeit ins Land geht. Ein bewegender Schmöker.
Barbara Pachl-Eberhart: Vier minus drei: Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu einem neuen Leben fand
September 2010. Frankfurt Hauptbahnhof, eine längere Zugreise nach Hause steht an, ich stöbere durch die Bahnhofsbuchhandlung. Auf dem Bestsellerregal Sachbücher entdecke ich Vier minus drei. Lese den Klappentext – die Autorin (etwa mein Alter) hat auf einen Schlag ihren Mann und ihre beiden Kinder verloren, das ist die Geschichte, die sie in diesem Buch erzählt. Ich bin elektrisiert, kaufe das Buch, verschlinge es auf der Fahrt mindestens zur Hälfte, sitze weinend und gleichzeitig beglückt im Zug. Uff. Was für ein Schicksal. Und wie toll diese Frau über ihren Verlust schreibt, wie optimistisch sie weiter durchs Leben geht. Das Buch berührt mich privat und beruflich. Gerade habe ich meine eigene Geschichte (zwei mehrfach schwerbehinderte Kinder, eins davon dreijährig verstorben) in Manuskriptform in die Hände einer tollen Agentin gelegt, sie wird es auf der Messe zwanzig Publikumsverlagen vorstellen … Dass ein solch schweres Thema es tatsächlich auf die vorderen Plätze der Spiegel-Bestsellerliste schaffen kann, also Leser:innen findet, ermutigt mich. – Mein Buch hat es dann leider nicht dahin geschafft, am Ende wollte doch kein Verlag das Wagnis eingehen, aber das ändert nichts daran, dass Vier minus drei nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen hat.
Meike Winnemuth: Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr
Es war die Bibliothekarin meines Vertrauens, die mir im Sommer 2015 dieses Buch ans Herz legte. Offen gestanden entlieh ich es dann eher ihr zuliebe, aber schon bald erkannte ich, dass die Bibliothekarin einen Volltreffer gelandet hatte … Ich war gut zur Hälfte durch mit dem Buch (das Kapitel „Kopenhagen“ begann), da beschloss ich, es mir selbst anzuschaffen, und zwar als Hardcover, obwohl es bereits als Taschenbuch erhältlich war. Und dann las ich es noch einmal von vorne, mit einem Bleistift bewaffnet, denn der Text sprudelte nur so vor witziger Sprache, nützlichen Tipps und weisen Worten … und ich unterstrich und unterstrich, malte Ausrufezeichen, Herzen und Smileys an den Rand … Ich erkannte so viele Parallelen zu mir und meinem äußeren und inneren (Er-)Leben, ich fand so viele Berührungspunkte, dass es mir fast unheimlich war. Ein paar Monate später schrieb ich einen langen, beseelten Brief an Meike Winnemuth, und sie antwortete sogar. Das persönliche Kennenlernen hätte im Frühjahr 2020 bei einer Lesung in einer Bücherei in meiner Nähe stattfinden können, wenn nicht … Nun ja. Das große Los hat mich enorm inspiriert und motiviert.
Fotos: © privat