Auch wenn die Tage inzwischen wieder länger werden, die Abende bieten noch immer genügend dunkle Stunden, die zum Lesen einladen. Und wer noch Lesetipps braucht, kann sicher heute in der Auswahl der Buchhändlerin und BücherFrau des Jahres 2018 Susanne Martin fündig werden.
Susanne Martin, Jahrgang 1958, ist Buchhändlerin und arbeitete in verschiedenen Stuttgarter Buchhandlungen, bevor sie 1995 die Schiller Buchhandlung in Stuttgart-Vaihingen übernahm. Sie führte die Buchhandlung, die 2016 mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet wurde, bis zu ihrer Schließung aus gesundheitlichen Gründen im Februar 2018. Im Oktober 2018 wurde sie auf der Frankfurter Buchmesse als BücherFrau des Jahres ausgezeichnet.
Website mit Buchtipps und Blog: www.schiller-buch.de
Drei Autorinnen
Rotraut Susanne Berner (geb. 1948)
Rotraut Susanne Berner fiel mir zum ersten Mal Ende der 1990er-Jahre auf, als ihr Buch Dunkel war’s, der Mond schien helle erschien. In ihm sind Gedichte, Reime, Limericks und vieles mehr versammelt, von dem man oft die erste Zeile noch kennt und sich dann fragt: „Wie ging das noch mal weiter?“ Die Kombination aus vielerlei Reimen und Gedichten sowie den typischen Illustrationen von Rotraut Susanne Berner begeistert mich bis heute.
Dann erschien in den 2000er-Jahren mit dem Winter-Wimmelbuch das erste Wimmelbuch von ihr, das ein ganz neues Konzept verfolgte: Während bei den Wimmelbüchern von Ali Mitgutsch auf den Doppelseiten einfach „nur“ richtig viel anzuschauen war, ging Rotraut Susanne Berner noch einen, nein sogar zwei Schritte weiter: Natürlich gibt es in ihren Wimmelbüchern auch viel anzuschauen, aber es gibt auch kleine Geschichten darin zu entdecken, die sich durch das ganze Buch ziehen. Und wenn man alle vier Wimmelbücher in der richtigen Reihenfolge anschaut, dann sieht man auch, wie sich manches in den Büchern weiterentwickelt. Mittlerweile gibt es für Wimmlingen eine eigene Webseite; es gibt Vesperdosen, Karten und mehr – Illustratorin und Verlag habe einen Nerv getroffen und die Bücher sind moderne Kinderbuchklassiker geworden.
Vieles könnte ich noch zu ihr schreiben, über die Karlchen-Bücher oder die Tollen Hefte, die sie seit dem Tod Ihres Mannes herausgibt, und über die zahlreichen Buchumschläge, die sie gestaltet hat. Den BücherFrauen, die sie näher kennenlernen möchten, sei dieses Interview empfohlen.
Was mir an ihren Büchern und Bildern besonders gut gefällt, ist der Humor und die Art und Weise, wie sie sich in die Welt von Kindern einfühlt. Dieser Humor spricht auch aus ihren Bildern, oft in vielen kleinen Details, die einer erst beim genauen Hinsehen auffallen. In ihre Kinderbücher wirkt auch ihre eigene Kindheit in den 1950er- und 1960er-Jahren hinein. Vielleicht liegt es daran, dass ich an ihren Büchern so einen Spaß habe, denn auch wenn ich selbst 10 Jahre jünger bin, fühlt sich die Kinderseele in mir wohl davon bis heute besonders angesprochen!
Mechtild Borrmann (geb. 1960)
Ich habe schon immer gerne Thriller und Kriminalromane gelesen und kann dieser Leidenschaft seit einigen Jahren durch meine Mitarbeit in der Jury des Stuttgarter Krimipreises nun auch wirklich sinnstiftend frönen.
Eine Autorin, die ich ungemein schätzen gelernt habe, ist Mechtild Borrmann. Die Romane der mehrfach ausgezeichneten Autorin haben sich von klassischen Kriminalromanen immer mehr hin zu Romanen entwickelt, die wichtige gesellschaftspolitische oder zeitgeschichtliche Themen aufgreifen: Tschernobyl in Die andere Hälfte der Hoffnung, die Kriegszeit, deren zwischenmenschliche Verflechtungen sich bis in die heutige Zeit auswirken können, in Wer das Schweigen bricht, die Nachkriegszeit in Trümmerkind und Grenzgänger, die Zeit des Stalinismus in Der Geiger. Es gibt immer einen Kriminalfall, aber der steht nicht im Mittelpunkt, sondern die Autorin möchte vielmehr „zeigen, was die großen politischen Zusammenhänge im Kleinen bedeuten, etwa für ein Dorf oder eine Familie“ (Interview). Dabei bedient sie sich einer sehr präzisen Sprache und erzählt ihre komplexen und vielschichtigen Geschichten immer auf wenigen Seiten – andere bräuchten dafür 100 oder 200 Seiten mehr!
Für mich ist sie eine herausragende Autorin der deutschen Krimiszene, die ich auch bei einer persönlichen Begegnung, als sie bei uns in Vaihingen las, als eine sympathische, offene und humorvolle Frau kennengelernt habe.
Lizzie Doron (geb. 1953)
Lizzie Doron ist eine Autorin, von der ich fast alle Bücher gelesen habe. Seit ich Ende der 1970er- und zum Beginn der 1980er-Jahre in einem Kibbuz war, interessiert mich Israel und in ihren Büchern finden sich die Themen, die mich ebenso beschäftigen wie die israelische Bevölkerung. In ihren früheren Romanen wie Ruhige Zeiten oder Es war einmal eine Familie reflektiert sie die Schoah und ihre Auswirkungen auf die Überlebenden und ihre Nachkommen. Das tut sie in einer knappen Sprache, die sich nicht in Details verliert, sondern viel Raum für eigene Gedanken und Vorstellungen lässt und die nicht wertet.
In ihren beiden letzten Büchern Who the fuck is Kafka und Sweet Occupation wendet sie sich dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu und zwar so, dass sie die palästinensische Perspektive weitgehend gleichberechtigt neben die israelische stellt. Das ist nicht nur für ihr persönliches Umfeld, sondern für ganz Israel eine unerhörte Tatsache – beide Bücher sind bis heute nicht auf hebräisch erschienen.
Im Herbst 2018 wurden Lizzie Doron und ihre Übersetzerin Mirjam Pressler mit dem Friedenspreis der Geschwister-Korn-und-Gerstenmann-Stiftung ausgezeichnet, mit dem literarische und journalistische Bemühungen um Völkerverständigung und Versöhnung in Israel und der ganzen Welt gewürdigt werden.
Drei Bücher
Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens
“Das Leben ändert sich schnell.
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.”
Das waren die ersten Worte, die Joan Didion nach dem plötzlichen Herztod ihres Mannes schrieb. Und es waren für längere Zeit auch die letzten.
Ich habe dieses Buch 2005 an einem Sommersonntag auf unserer Terrasse gelesen, kurz nachdem eine Tante von mir gestorben war, die ich sehr gerne hatte. Im Gegensatz zu Joan Didions Situation war ihr Tod jedoch absehbar, denn sie war lange krank, und sie war deutlich älter. Als mein Vater fünf Jahre später an einem Herzversagen starb, erlebte ich genau die Situation, die auch Didion erlebt hatte, allerdings nicht als Ehefrau und Partnerin, sondern als Tochter. Damals wäre es mir nicht möglich gewesen, das Buch zu lesen, heute, mit dem zeitlichen Abstand, konnte ich, in Vorbereitung auf diesen Beitrag, wieder in das Buch schauen.
Intensiv und sezierend setzt sich Joan Didion mit ihrer neuen Lebenssituation auseinander. Joan und ihr Mann waren vierzig Jahre miteinander verheiratet und haben ihr Leben intensiv miteinander geteilt; sie waren einander im Leben und in der Arbeit alles. Wie geht man mit so einem Verlust um, was macht es mit einem? Kann man einen Sinn darin finden?
Als Intellektuelle und Schriftstellerin beginnt Joan Didion, Literatur zum Thema Krankheit, Tod und Sterben zu lesen, und zitiert eine Vielzahl von Werken in ihrem Buch. Sie beschreibt ihre Hilflosigkeit und ihre anfängliche Verweigerung, den Tod Johns zu akzeptieren, bis hin zum Beginn des Loslassens: „Ich weiß auch, daß, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen.“.
Ein Buch, das mich damals tief beeindruckt hat, hervorragend übersetzt von Antje Rávic Strubel, sprachlich präzise und trotz der Distanz und Sachlichkeit, mit der es geschrieben ist, zutiefst berührend. Ein Buch, das ich auch jetzt wieder mit großem Gewinn zur Hand genommen habe.
Bibliographische Angaben inkl. kurzer Hörprobe
Elsa Osorio: Mein Name ist Luz
Dieses Buch begeisterte mich schon bei seinem Erscheinen im Jahr 2000 und hat mich beim Wiederlesen für meinen Lesekreis im Seniorenheim von einiger Zeit erneut gefesselt.
In dem 2001 mit dem Literaturpreis von Amnesty International ausgezeichneten Roman thematisiert die argentinische Autorin das Schicksal von Kindern, deren Eltern während der Militärdiktatur verschwanden. So ein Kind ist Luz, die eine scheinbar normale Kindheit als Tochter eines ranghohen Militärs verbringt und doch stets das Gefühl hat, dass sie nicht wirklich heimisch ist in ihrer Familie. Erst, als sie während ihres Studiums einen jungen Mann kennenlernt, dessen Vater während der Militärdiktatur spurlos verschwand, erkennt sie ihr eigenes Schicksal und begibt sich auf Spurensuche.
Seine enorme Spannung und Authentizität erhält das Buch durch die Erzählweise, die die Autorin gewählt hat: Die Rahmenhandlung ist ein Gespräch (im Druck kursiv), das Luz mit ihrem Vater führt, den sie im Zuge ihrer Nachforschungen wiedergefunden hat. Er war ins spanische Exil geflohen.
Sie erzählt ihm von den Menschen, die eine Rolle bei der Ermordung ihrer leiblichen Mutter, ihrer eigenen Rettung oder der Unterstützung ihrer Sache spielten. Aber erst durch die Kommentare ihres Vaters zu den Ereignissen kann Luz’ Geschichte vollständig werden. Durch die verschiedenen Erzählperspektiven gelingt es der Autorin, alle Personen glaubwürdig darzustellen und ihre Handlungsweise und Gefühlslage verständlich zu machen.
Ein unglaublich spannender, vielschichtiger Roman!
Bibliographische Angaben mit Leseprobe
Harper Lee: Wer die Nachtigall stört
Dieses Buch ist ein Klassiker und begleitet mich seit meiner Jugendzeit und, man sieht es dem Bild an, ich habe es schon viele Male gelesen und auch den Film mehrmals gesehen.
Die Geschichte des Rechtsanwalts Atticus Finch, der seine beiden Kinder Jem und Jean Louise, genannt Scout, alleine aufzieht und der in einer amerikanischen Kleinstadt in den 1930er-Jahren die Verteidigung eines Schwarzen übernimmt, dürfte den BücherFrauen bekannt sein. Mir gefallen vor allem die Figur des Atticus, der seine Kinder mit einer für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Toleranz erzieht, und dass er die Werte, die er seinen Kindern vermittelt, auch selbst lebt. Dazu kommt ein wunderbarer Humor, der mich auch heute noch immer wieder schmunzeln lässt!
2015 erschien das Buch im Rowohlt Verlag wieder als gebundene Ausgabe, Claire Mignons Übersetzung von 1962 ist von Nikolaus Stingl vollständig überarbeitet und aktualisiert worden. Anlass war das Erscheinen eines bis dahin unbekannten Romans, den Harper Lee bereits 1957 geschrieben hatte: Gehe hin und stelle einen Wächter. Das Manuskript war vom Verlag abgelehnt worden, die Lektorin empfahl, eher eine Kindheitsgeschichte daraus zu machen – die Nachtigall entstand. Die Veröffentlichung dieses ersten Romans sorgte in Amerika für großen Wirbel, da Atticus Finch, das Idealbild des gerechten, vorurteilsfreien Weißen, in diesem Buch entzaubert wird.
Ich hatte zunächst Skrupel, den wiederentdeckten Roman zu lesen, aber ich ließ mich dann doch auf die Lektüre ein. Der Humor und der Stil, die die Nachtigall so charmant machen, sind auch hier zu finden. Und auch wenn ich die Figuren nach der Lektüre anders einschätzen muss: Es sind dieselben, die wir aus der Nachtigall kennen, nur sind sie, wie Jean Louise, 20 Jahre älter und erwachsen geworden!
Mein Lieblingsbuch jedoch ist und bleibt Wer die Nachtigall stört. Der Mensch braucht Vorbilder und der Atticus Finch aus diesem Buch war in meiner Jugend eines für mich, er ist es geblieben.
Bibliographische Angaben mit Leseprobe
Fotos: Susanne Martin
28. Februar 2019 um 17:35
Sehr schön und anregend! Danke dafür und liebe Grüße von Anita