Auch im neuen Jahr gibt es wieder viele spannende Bücher zu entdecken. Diesmal ausgesucht von der ehemaligen Vorsitzenden der BücherFrauen, Valeska Henze, die u. a. aus dem Schwedischen übersetzt, was sich auch in ihrer Auswahl niederschlägt.
Valeska Henze ist Politikwissenschaftlerin & Übersetzerin mit den Arbeits- und Sprachschwerpunkten Nordeuropa und Ostseeregion, Autorin verschiedener politischer Analysen zu Schweden und Polen; außerdem Dozentin, Projekt- und Konferenzkoordinatorin sowie Übersetzerin von Sachbüchern und wissenschaftlichen Studien aus dem Englischen, Schwedischen, Norwegischen und Dänischen.
http://www.valeskahenze.de
Drei Autorinnen
Kerstin Ekman (geb. 1933)
Auf Kerstin Ekman bin ich gestoßen, nachdem klar war, dass ich ein Jahr in Schweden studieren würde. Ich wollte mich vorbereiten und habe nach Büchern von schwedischen Autorinnen und Autoren gesucht. Neben den Krimiklassikern von Sjöwall/Wahlöö habe ich auf einem Trödelmarkt gleich drei Bände der Katineholm-Tetralogie von Kerstin Ekman entdeckt. Ich hatte damals noch keine Ahnung, um wen es sich handelte, heute weiß ich, dass Kerstin Ekman als Grand Dame der schwedischen Literatur gilt, nicht nur wegen ihrer Bücher, sondern auch wegen ihrer klaren Haltung – unter anderem gegenüber der Schwedischen Akademie, doch dazu später mehr 😉 Wenn ich mir die Liste ihrer Veröffentlichungen anschaue, habe ich nicht einmal einen Bruchteil gelesen, zumal sie sich auf kein Genre festlegen will – Krimi, Belletristik, Fantasy, Sachbuch, ihr Werk ist breit gefächert, klug und äußerst lesbar.
Die Tetralogie – Hexenringe, Springquelle, Das Engelhaus und Stadt aus Licht – habe ich noch auf Deutsch gelesen. In ihr wird die Geschichte von den Frauen einer Familie über ein Jahrhundert hinweg erzählt. Es ist die Zeit der Modernisierung in Schweden, deren politische Konsequenzen mich später im Studium stark beschäftigen würden. Die Erzählung reicht von der einfachen Arbeiterin aus dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur modernen Frau des 20. Jahrhunderts und bot mir einen ersten Eindruck der schwedischen Geschichte von unten, erzählt aus der Perspektive und dem Erleben der Frauen. In Schweden dann habe ich die Krimiautorin Kerstin Ekman kennengelernt. Händelse vid vattnet/Geschehnisse am Wasser hat ihr einen wahren Preisregen beschert – eine spannende Geschichte, die über verschiedene Zeit- und Erzählebenen entwickelt wird und in der die Opfer und die nordschwedische Natur im Zentrum stehen. Mit Grand final i skojarbranchen/Schwindlerinnen hat Ekman ein bemerkenswertes und vielsagendes „Alterswerk“ vorgelegt – eine sehr vergnügliche Beschau des schwedischen Literaturbetriebs. Wieder stehen zwei Frauen im Zentrum der Geschichte: Ein Autorinnenpaar, die ‚offizielle‘ Autorin und ihre Ghostwriterin, und ihre verzwickte Beziehung im Verlauf einer erfolgreichen Karriere. Denn das Paar erobert die schwedische Literaturszene im Sturm und wird schließlich sogar von den Mitgliedern der schwedischen Akademie als neues Mitglied berufen. Wer die Szene des ersten Auftritts der offiziellen Autorin in der Akademie gelesen hat, war von dem diesjährigen Theater rund um diese gestrig-vertrocknete Institution, die starr an Traditionen und Herrschaftsmodellen des 18. Jh. festhält, nicht überrascht. Das Ganze wird so absurd-ironisch beschrieben, dass man sich eigentlich fragen muss, warum die Akademie so lange ernst genommen wurde. Kerstin Ekman wurde 1978 in die Akademie gewählt, hat sich aber Ende der 1980er-Jahre zurückgezogen, weil sie nicht damit einverstanden war, wie sich die Akademie gegenüber der Fatwa gegen Salman Rushdie verhalten hat. Diesen Sommer wurde sie nun endlich offiziell von ihrem Sitz entlassen. Ein Austritt war bisher nicht möglich, weil die Wahl ursprünglich auf Lebenszeit galt.
Hannah Arendt hat mich beinahe mein gesamtes Studium begleitet und ich kann behaupten, dass ich von keiner Autorin mehr über Politik gelernt habe als von ihr. Ohne eine genaue Vorstellung zu haben, wer sie eigentlich war, und nur mit dem Hauch einer Ahnung von ihrer Bedeutung für das politische Denken habe ich im 1. Semester ein Seminar zu Elemente und Ursprüngen totaler Herrschaft belegt und wurde schier überwältigt – zunächst einmal von der Menge an Text und verarbeiteten Quellen und später dann von der Wucht der Gedanken. Auch wenn ich selbst nur einen Bruchteil davon verstanden habe und verarbeiten konnte, bin ich nicht mehr von Hannah Arendt losgekommen. Ich habe nach und nach einige der wichtigsten Werke verschlungen und schließlich auch für meine eigene Forschung verarbeitet. Ich hatte beim Lesen immer das Gefühl, dass Hannah Arendt mich bei ihrem Überlegen unmittelbar teilhaben lässt und habe mich von ihrer Klugheit und Belesenheit immer wieder beeindrucken lassen. Mit Über die Revolution habe ich gelernt, warum gesellschaftliche Systeme zusammenbrechen und warum gesellschaftliche Transformationen so heikel sind. Vita activa oder vom tätigen Leben hat mir erklärt, wie gesellschaftliches bzw. öffentliches Handeln wirkt und welche Rolle es spielt. Macht und Gewalt hat mein Verständnis von Macht und Herrschaft und ihrer Wirkung geprägt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I waren genau das – Denkübungen über das Zusammenspiel und die Auswirkungen gesellschaftlicher Zeit. Ich könnte noch den ein oder anderen weiteren Titel nennen und doch habe ich das Gefühl, dass ich immer nur einen Bruchteil ihres Denkens erfasst habe (Eichmann in Jerusalem habe ich beispielsweise noch immer nicht gelesen …). Sie hat mich aber auch gelehrt, kritisch zu lesen, wovon natürlich auch ihr Werk nicht verschont geblieben ist; ihre Vernachlässigung der sozialen Frage ist ein echtes Manko. Nichtsdestotrotz hat sie mein Studium und mein Verständnis historischer und gesellschaftlicher Prozesse und Zusammenhänge unendlich bereichert. Hannah Arendt ist ein Vorbild – mit ihrem Werk, mit ihrer Art und ihrem Auftreten, mit ihrer klaren und standhaften Haltung. Das legendäre Interview mit Günter Gaus habe ich mehrfach gesehen; es ist unschlagbar.
Alison Bechdel (geb. 1960)
Eine meiner drei Autorinnen sollte eine Comickünstlerin sein. Das war einer meiner ersten Gedanken, als ich gefragt wurde, einen Beitrag zu dieser Reihe zu leisten. Denn ich lese unheimlich gern Comics. Ich finde es spannend zu sehen, mit welcher Kraft und Wirksamkeit Geschichten in Comics erzählt werden, wie unterschiedliche Stilmittel, vor allem zeichnerische, dazu beitragen, die Erzählung zu formen. Alison Bechdel ist zunächst vor allem für klassische Comicstrips ihrer Serie Dykes to Watch Out For bekannt geworden, kurze Szenen aus dem Leben und den Beziehungen einiger, meist lesbischer Frauen, die comedyartig auf eine Pointe hinauslaufen, meist mit ironischen Kommentaren auf aktuelle Ereignisse. Ihren Durchbruch im Mainstream hatte sie mit zwei Graphic Novels, in denen sie ihre Familiengeschichte schonungslos aufarbeitet. In Fun Home erinnert sie an ihren Vater, ihre Kindheit und die Ablösung in ihre eigene Lebenswelt. Wer ist hier die Mutter? reflektiert die Beziehung zu ihrer Mutter in Rückblenden, aktuellen Begegnungen und Sitzungen einer Psychoanalyse. Beide Werke sind Geschichten für sich, ergeben zusammen aber eine komplexe Erzählung, die mich berührt und engagiert hat, denn Bechdel gelingt es, ihre persönliche Geschichte zu einer universalen, allgemeingültigen zu machen.
Alison Bechdel ist aber nicht nur für ihre Comics bekannt, sondern auch für den sogenannten Bechdel-Test, der übrigens in einer Dykes to watch out for-Folge das erste Mal auftaucht und mit dem festgestellt werden kann, welche Frauenrollen in Spielfilmen vorkommen.
Drei Bücher
Abigail Tarttelin: Golden Boy
Ein Buch, das mich berührt hat. Die Rezension in einer schwedischen Tageszeitung hat mich darauf aufmerksam gemacht. Der Golden Boy ist Max. Er ist bei allen beliebt, der Schwarm aller Mädchen, schlau, ein guter Schüler und Sportler, Mannschaftskapitän, immer freundlich, der Stolz seiner Eltern. Doch umgibt ihn ein Geheimnis, das im Lauf der Geschichte zur Belastung und Bewährungsprobe für ihn, seine Familie und Freunde wird. Max ist intersexuell. Von seinen Eltern, vor allem der Mutter, wird ihm eingeschärft, nicht darüber zu reden; er würde sonst zum Aussätzigen. Durch einen fürchterlichen Gewaltakt gleich zu Beginn der Geschichte gerät die scheinbare Familienidylle völlig aus den Fugen. Max‘ Sexualität wird über Nacht zu einem großen Thema, das nicht länger ignoriert werden kann. Die Ereignisse werden abwechselnd aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, von Max, von seinem Bruder, seiner Mutter, seiner Ärztin, einem Mädchen, in das er sich verliebt und seinem Vater. Dadurch ergibt sich ein vielfältiges Bild von verschiedenen Wahrnehmungen, unterschiedlichem Erleben und wichtigen Entscheidungen. Die Gewalt auf Max – die körperliche wie die seelische – wird schonungslos geschildert und schmerzt beim Lesen. Sein Schicksal hat mich gepackt, trotz der teilweise unerträglichen Gewalt hat es mich nicht losgelassen und noch lange beschäftigt. Es hat meine eigene Wahrnehmung von Geschlecht noch einmal durchgerüttelt. Was bedeutet es, kein eindeutiges Geschlecht zu haben? Warum scheinen wir auf geschlechtliche Festlegungen und Zuschreibungen angewiesen zu sein? Golden Boy ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte und doch mehr.
Golden Boy ist das zweite Buch der Autorin. Es wurde 2014 mit dem Alex Award der American Library Association ausgezeichnet und stand im gleichen Jahr auf der Shortlist des LAMBDA Award für bestes Debüt LGBT-Fiction. Es ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, nicht aber ins Deutsche.
Katharina Greve: Das Hochhaus
Irgendwann 2016 wurde es zu meiner dienstäglichen Routine, den Baufortschritt eines Hochhauses zu verfolgen. Gespannt steuerte ich die Internetseite an und konnte es kaum erwarten, zu sehen, was sich auf der neuen Etage zutrug. Das Hochhaus. 102 Etagen Leben von Katharina Greve startete als Internetprojekt und hat mich auf Anhieb in den Bann gezogen. Ich war fasziniert davon, wie es Katharina Greve gelang, auf dem sehr begrenzten Raum eines Querschnitts durch Küche, Zimmer und Flur ein Panorama familiärer, sozialer und individueller Schicksale zu zaubern. Jede Etage erzählt für sich eine Geschichte, aber immer wieder spannen sich auch Geschichten über mehrere Stockwerte. Die Figuren werden mit wenigen Strichen und Worten in eine passende Wohnungseinrichtung gesetzt, die Leser*innen direkt in eine Alltagssituation, ins Leben der Figuren hineingezogen. Der Dienstagmorgen ist seit Fertigstellen des Hauses etwas eintöniger geworden. Gefreut hat mich, dass aus dem Internetprojekt ein Buch geworden ist – und dass Das Hochhaus auch als Buch funktioniert. Es gehört mittlerweile zu einem meiner am häufigsten verschenkten Bücher.
Das Hochhaus wurde 2016 beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen mit dem Max und Moritz-Preis als bester deutschsprachiger Comicstrip ausgezeichnet.
Katrine Marçal: Machonomics. Die Ökonomie und die Frauen
Über dieses Buch bin ich beim Lesen schwedischer Buchrezensionen gestolpert. Feministische Ökonomie hatte mich schon im Studium beschäftigt. Ich wollte wissen, wo und wie Ungerechtigkeiten entstanden sind und warum sie so beharrlich bestehen bleiben, obwohl sie doch so offensichtlich und der Unmut darüber durchaus hörbar waren. Die Rezension versprach eine gut lesbare und verständliche Einführung in die wichtigsten ökonomischen Aspekte aus einer feministischen Perspektive. Katrine Marçal arbeitet als Journalistin für eine große schwedische Tageszeitung. Mit einer gehörigen Portion Polemik gelingt es ihr, die Verschränkung von Ökonomie und Politik, die Diskriminierung von Frauen und die Vorherrschaft männlicher Weltbilder und ökonomischer Prämissen in gesellschaftlichen Strukturen zu entlarven. Das Buch ist eine tolle Einführung, trockene volkswirtschaftliche Themen werden anschaulich mit Beispielen aus dem Alltag erklärt, die Kritik an den alles dominierenden Wirtschaftsmodellen ist respektlos und gut verständlich geschrieben, das Fazit erhellend: „Ganz gleich, wie ausgefuchst die Modelle der Ökonomen auch sein mögen: So lange sie auf Annahmen basieren, die nichts mit der Realität zu tun haben, werden sie nichts über die Realität aussagen können.“
8. Januar 2019 um 18:50
Liebe Valeska, Grüße nach Berlin und herzlichen Dank für die Buchempfehlungen (und an Doris für die tolle Reihe). Die Schwindlerinnen und Machonomics habe ich sofort auf meine Leseliste gesetzt. Und ja, das Hochhaus von Katharina Greve ist wunderbar! Bin ganz bezaubert von ihrem Einfallsreichtum und der genauen Beobachtungsgabe. Gabriele