BücherFrauen

Ein Beitrag zur Debattenkultur in der Buchbranche

Drei Autorinnen – drei Bücher: Karen Nölle

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Die Empfehlungen von Karen Nölle sind von ihrer diesjährigen USA-Reise inspiriert – aber sicher auch von ihren zahlreichen Übersetzungen, mit denen sie viele Autorinnen für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich macht. Bei den BücherFrauen leitet sie seit vielen Jahren die Textseminare bei der Sommerakademie auf Sylt. 2008 wurde sie als BücherFrau des Jahres ausgezeichnet.

Foto: © privat

 

Karen Nölle gehört seit 1991 zu den Bücherfrauen. Sie übersetzt aus dem Englischen unterschiedlicher Kontinente, am liebsten Autorinnen wie Annie Dillard, Janet Frame, Ursula K. Le Guin, Alice Munro, Barbara Trapido oder Eudora Welty. Weil ihr weibliches Schreiben am Herzen liegt, sucht und findet sie zusammen mit Silke Weniger und Kirsten Gleinig die Bücher, die in der edition fünf herausgebracht werden. Nebenbei schreibt sie Reisebücher und leitet Textseminare.

 

 

Gerade aus den USA zurückgekehrt, wo ich dank eines Stipendiums auf den Spuren von drei Autorinnen wandeln konnte, möchte ich von diesen erzählen und ihre Bücher zum Lesen empfehlen. Durch eine Übernachtung in Forks bin ich auch einer vierten nahegekommen, denn in der Kleinstadt im Norden von Washington hat Stephenie Meyer ihre „Biss“-Bücher angesiedelt. Aber das war reiner Zufall. Hier soll es um drei andere gehen.

Es war so wunderbar, diese Reise machen zu können – vielen Dank dem Deutschen Übersetzerfonds!

Drei Autorinnen

Annie Dillard  (*1945)

Hierzulande wenig bekannt, gilt Annie Dillard in englischsprachigen Ländern schon lange als eine der ganz Großen. Gleich für ihr erstes Prosawerk Pilgrim at Tinker Creek erhielt sie 1975 den Pulitzerpreis. Mich fasziniert sie, seitdem ich sie 1978 während eines Auslandjahres in Berkeley entdeckt habe. Damals ist eine Hochachtung für sie entstanden, die ich nie verloren habe. Annie Dillard schreibt so genau und setzt sich so ungeschont den Widersprüchen des Lebens aus, dass es etwas ganz Besonderes ist, ihren Gedanken und Geschichten zu folgen. In Pilgrim, das 2016 bei Matthes & Seitz neu erschienen ist (unter dem Titel Pilger am Tinker Creek, mit einem Essay über die Autorin als Nachwort, der wunderbar informativ ist), beobachtet sie ein Jahr lang, von Januar bis Januar, die Natur an ihrem Wohnort am Rand einer Stadt in den Appalachen. Sie will dabei nicht nur hinschauen lernen, sondern dem Staunen über die Schönheit und Vielfalt der Natur ihr Entsetzen über deren Zerstörungskraft gegenüberstellen, um in diesem Wechselspiel dem Sinn der Schöpfung nachzuspüren. Herausgekommen ist ein tiefes, wunderschön geschriebenes, bisweilen übermütiges Buch voll bezaubernder Naturbeschreibungen. Mit dem sie schnell berühmt wurde. Um dem Trubel um ihre Person zu entfliehen, zog sie in den äußersten Nordwesten der USA und lebte eine Weile auf einer Insel im Puget Sound. Dorthin – nach Lummi Island – bin ich jetzt gereist, um mir anzuschauen, was sie vor Augen hatte, als sie ihre nächsten Bücher schrieb: Teaching a Stone to Talk und Holy the Firm, beide noch nie auf Deutsch erschienen. Auch einen Roman hat sie über diesen entlegenen Teil der Welt geschrieben, The Living, zu Deutsch Am Rand der Neuen Welt, erschienen 1995 bei Klett-Cotta. Es ist ein kluges, buntes, für manche ein wenig gedankenschweres Buch über das radikale wirtschaftliche Auf und Ab in den ersten hundert Jahren der Besiedelung dieser Gegend, in der kaum ein Baum des Urwalds stehenblieb. Für mich ist es eines der besten Bücher darüber, was kapitalistische Gesellschaften mit dem Land anstellen. Man schaue sich nur die vielen achtlos gefällten Baumstämme an, die sich auf den Stränden stapeln.

Annie Dillard schrieb im Lauf der Zeit immer weniger, 1999 erschien For the Time Being, eine sämtliche Genres sprengende Kontemplation über das Verstehen des menschlichen Daseins (deutsch Außer der Zeit, 1999 bei Claassen erschienen, gemeinsam übersetzt von Hans-Ulrich Möhring und mir), 2007 ihr letzter Roman The Maytrees, der auf Cape Cod spielt. 2010 gab sie bekannt, dass sie mit dem Schreiben aufhören wolle, weil ihr die Qualität ihrer Sätze nicht mehr genüge. Seitdem malt sie, zurückgezogen in einen Wald im Staat Virginia.

www.anniedillard.com

 

Ursula K. Le Guin (*1929)

zu besuchen war das Hauptanliegen meiner Reise. Sie lebt seit über einem halben Jahrhundert in Portland und hat dort alle ihre Bücher geschrieben. Science-Fiction- und Fantasyromane (die viel mehr sind als das), historische Romane, Lyrik und viele, viele Essays über das eigene Schreiben, andere Autorinnen und Autoren und den Literaturbetrieb. Besonders köstlich sind ihre Essays über sich als schreibende Frau (z. B. „Introducing Myself“ in The Wave in the Mind, der mit dem Satz beginnt „I am a Man“) und die Genrefalle, sprich den Unfug, AutorInnen in Schubladen zu stecken und sie dort nicht mehr herauszulassen. Immer wenn sie wieder einen Preis gewinnt, macht sie das zu ihrem Thema und besteht darauf, ihn mit allen, die verkannt werden, zu teilen.

Sie zu übersetzen ist so schön, weil sie einen so klaren Kopf hat, so kompromisslos denkt und weil das Menschenbild, das sie zeichnet, mir so sympathisch ist. Zum Beispiel Shevek, der Held in The Dispossessed (Freie Geister, erschienen 2017 bei Fischer Tor), ein Physiker, dessen Arbeit auf seinem Heimatplaneten behindert wird, weil das Ideal der Gleichheit dort Misstrauen gegen das Besondere züchtet. Er entschließt sich, auf den Mutterplaneten zu reisen – auf die Gefahr hin, nicht wieder zurück zu dürfen – um dort seiner Forschung nachgehen zu können. Wie er sich dort bemüht, die Gesellschaft und die Behandlung seiner Person zu verstehen und sich schließlich doch wieder den Anarchisten anschließt, ist eine berührende Geschichte über das Bemühen um Menschwerdung und gleichzeitig ein entlarvendes Buch über die großen politischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts sowie eine vernichtende Kritik des Kapitalismus.

Bei meinem Besuch haben wir hauptsächlich über Earthsea gesprochen, die Serie, deren erste drei Bände ich im Moment neu übersetze. Es sind Fantasybücher für „young adults“, vom Stil her Märchen, inhaltlich von Le Guins Taoismus befruchtet, der ihr sehr viel bedeutet. Sie hat sogar das Tao Te Ching ins Englische übersetzt.

Und über Landschaft haben wir gesprochen. Mir ist beim Übersetzen aufgefallen, dass manche ihrer Landschaftsbeschreibungen eine intensive Sinnlichkeit besitzen, auch wenn sie irgendwo im Weltall oder Fantasien liegen. Wo hat sie die her, fragte ich mich, bis ich ein Buch entdeckte, das sie 2010 herausgebracht hat, zusammen mit dem Fotografen Roger Dorbrand: Out Here: Poems and Images From Steens Mountain Country. Wie sich herausstellte, hat sie über 50 Jahre lang jeden Sommer dort Zeit verbracht. Sie empfahl mir ein Hotel in einem kleinen Ort mit 5 Einwohnern. Wir buchten uns ein und erlebten eine einzigartige Halbwüste, einen Berg, der von Westen langsam auf über 3.000 Meter ansteigend im Osten abrupt um 1.600 Meter abfällt, zerklüftet und wild. Der Eindruck unermesslicher Weite hätte gut aus einer ganz anderen Welt stammen können.

Wer sich daran macht, Ursula Le Guin zu lesen, sollte auf jeden Fall auch zu The Left Hand of Darkness greifen, über einen Planeten, auf dem die Menschen ihr Geschlecht frei wählen, je nach Lebensphase. Hoffen wir, dass er bald neu ins Programm genommen wird. Denn es lohnt sich, die Autorin auch in den Übersetzungen von unnötigen Genremerkmalen zu befreien. Bis dahin: Auf Englisch lesen!

Als Ursula Le Guin 2014 für ihr Gesamtwerk mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, hielt sie eine kurze Rede, die auf Youtube nachzuhören ist. Hier zum guten Schluss ein Auszug:

Auf uns kommen harte Zeiten zu, in denen wir uns nach den Stimmen von Schriftstellern sehnen werden, die fähig sind, Alternativen zu unserer heutigen Lebensweise zu sehen; denen es gelingt, über unsere angstgeplagte, Technologie verschriebene Gesellschaft hinauszuschauen, um andere Lebensformen in den Blick zu nehmen und echte Ursachen für Hoffnung zu erdenken. Wir werden Schriftsteller brauchen, die sich an Freiheit erinnern können: Dichter, Visionärinnen, Realisten einer größeren, weiteren Realität.

 www.ursulakleguin.com

 

Emily Dickinson (1830 – 1886)

Dickinsons einziges noch vorhandenes Kleid

„Emily Dickinson ist eine der erstaunlichsten Gestalten der Literaturgeschichte, eine Einzelgängerin, die Weltliteratur schrieb und auf allen Ruhm zu Lebzeiten verzichtete.“ So beginnt Gunhild Kübler das Nachwort zu ihrer Übersetzung des Gesamtwerks von Emily Dickinson (zweisprachige Ausgabe, Hanser 2015). Das kann man nur unterschreiben. Die letzte Station meiner Reise von Superlativ zu Superlativ, diesmal motiviert durch meinen Mann, der sich seit Jahren für die Dichterin begeistert, führte nach Amherst, wo Dickinson ihr Leben verbrachte und in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens das Grundstück ihres Elternhauses nicht mehr verließ. Die Briefe in ihrem Nachlass befahl sie zu verbrennen, dem kam die Schwester nach. Aber die Gedichte erhielt Lavinia Dickinson und sorgte dafür, dass sie veröffentlicht wurden.

Lange als vielleicht sieche, vielleicht verrückte Einzelgängerin verkannt, steigt Dickinsons Ruhm seit einigen Jahrzehnten steil an. Und gerade die Tatsache, dass sie den Kontakt zur Außenwelt für sich so streng dosierte, scheint die Originalität ihres Denkens, ihres Glaubens und ihrer Dichtung ermöglicht zu haben. Sie schrieb gegen alle Konventionen, formal wie inhaltlich – dicht und mehrdeutig. An ihren Gedichten kann man das Langsam- und Immerwiederlesen genießen lernen.

Dickinsons Elternhaus

Wer meint, sie sei irgendwie eingeschlossen gewesen, irrt sich. Das Anwesen der Familie war groß, mit einem Garten, den sie gerne pflegte und vier bis fünf Hektar Wiesenland, genug für ausgiebige Naturanschauungen. Ihr Zimmer war hell und freundlich, an der Wand hingen Porträts von George Eliot und Elizabeth Barrett Browning. Sie las die Klassiker und die Schriftstellerinnen ihrer Zeit …

Eines meiner Lieblingsgedichte macht den Verzicht auf Ruhm zum Thema:

I’m Nobody! Who are you?

Are you – Nobody – too?

Then there’s a pair of us!

Don’t tell, they’d advertise – you know!

 

How dreary – to be – Somebody!

How public – like a Frog –

To tell one’s name – the livelong June –

To an admiring Bog!

 

Drei Bücher

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

Auf dieses Buch wäre ich nicht gekommen, wenn ich Shida nicht beim Debütromanfestival im Literaturhaus Schleswig-Holstein kennengelernt hätte. Dort las sie daraus vor, und ich war gleich erpicht darauf, mehr zu lesen. Der Roman, ihr Erstling, erzählt in vier Etappen und einem Epilog von einer Familie, die nach der Absetzung des Schahs und dem Beginn des Ayatollah-Regimes aus dem Iran nach Deutschland gezogen ist, die Kinder sind nach der Auswanderung geboren. 1979 ist ein junger Mann, der gegen den Schah im Widerstand war, mit seinen Genossen voll Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft – und der Leserin schnürt sich die Kehle zu, weil sie weiß, wie die Hoffnung enden muss, während sie liest, wie sich das neue Regime installiert. 1989 richtet den Blick auf die Mutter in den ersten Jahren nach der Emigration. 1999 reisen Mutter und Tochter zum ersten Mal wieder in den Iran, weil es durch die Liberalisierung dort auf einmal wieder möglich ist. Wieder wird berührend von Fremdheit und Vertrautheit erzählt. 2009 entdeckt der Sohn seine Verbundenheit zur Heimat der Eltern, und im Epilog scheint die Möglichkeit einer Aussöhnung der beiden Identitäten auf. So interessant – und so betörend gut geschrieben!

 

Sara Maitland: Das Buch der Stille

Nach vielen Jahren endlich von Karin Petersen übersetzt – das Original, A Book of Silence, erschien 2008 – und mit dem Untertitel „Über die Freuden und die Macht von Stille“ versehen, will mir Sara Maitlands Buch über das Bemühen um Stillwerden fast außerweltlicher erscheinen als die fernen Planeten von Ursula Le Guin. Die Anfänge ihres Autorinnenlebens waren weniger still als intensiv. Ihr Erzählband Telling Tales (deutsch Die Träume der Päpstin Johanna, 1985 erschienen bei Medea) war meine erste Übersetzung (die ich nur zu gern überarbeitet neu herausbringen würde). Er ist einer von mehreren, in denen Sara alte Sagen, Mythen und biblische Geschichten aus weiblicher Perspektive (um)erzählt. Sie schrieb viel und war lange eine gesuchte Sprecherin für feministische Konferenzen.

Ein Punkt in der Landschaft: das Haus von Sara Maitland in Schottland

Doch dann entdeckte sie das Alleinsein und das Schweigen. Im Buch der Stille beschreibt sie, wie sie 40 Tage in einem Cottage auf der Insel Skye das Leben in Stille erkundet und erzählt von anderen, die sich vom lauten Treiben der Welt abkehren. Um Gott zu suchen – oder schlicht die Einsamkeit zu genießen oder genießen zu lernen. Ein großartiges Buch für alle, die nach anderen Möglichkeiten der Alltagsgestaltung suchen!

 

Betty Smith: Ein Baum wächst in Brooklyn

1943 erschienen – ich besitze es seit einigen Jahren, und es lag lange auf dem Stapel der ungelesenen Bücher –, ist A Tree Grows in Brooklyn erst in diesem Herbst (2017) auf Deutsch erschienen, übersetzt von Eike Schönfeld. Zufällig hatte ich es im Sommer vom Stapel gepflückt und fast widerwillig zu lesen begonnen, weil ich eigentlich nicht noch eine Geschichte über ein heranwachsendes Mädchen brauchte, das sich mit starkem Willen über Widerstände hinwegsetzt. Doch dann konnte ich es nicht aus der Hand legen. Fast 500 Seiten habe ich in drei Tagen verschlungen und Francies Kindheit mit durchlebt. Das Geheimnis der Anziehung ist, glaube ich, dass die Verhältnisse zwar schwer sind, aber Francie weniger leidet als lebt und man als Lesende mitten hineingeführt wird ins Brooklyn von 1912 bis in die zwanziger Jahre. Was fesselt, ist weniger die Handlung als die Menschlichkeit der geschilderten Situationen. Und unerträglich ist nur, dass die Geschichte auf einmal nicht mehr weitergeht. Eine unbedingte Empfehlung für lange Abende im Lesesessel!

 

Alle Fotos: © Karen Nölle

 

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Autor: Doris Hermanns

Doris Hermanns lebt nach 25 Jahren als Antiquarin in Utrecht/Niederlande seit 2015 in Berlin, wo sie als Redakteurin, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin tätig ist. Seit 2000 ist sie in der Redaktion der Virginia Frauenbuchkritik, seit 2012 in der Redaktion des Online-Magazins AVIVA-Berlin. Zahlreiche Porträts von Frauen auf www.FemBio.org. Sie veröffentlichte u. a. die Biografie der Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe sowie deren Feuilletons. 2021 gab sie den Roman "Christian Voß und die Sterne" von Hertha von Gebhardt heraus, an deren Biografie sie arbeitet. Neueste Veröffentlichung: »Und alles ist hier fremd«. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil. Von 2016 bis 2020 war sie Städtesprecherin der BücherFrauen in Berlin. BücherFrau des Jahres 2021.

4 Kommentare

  1. Vielen Dank, liebe Karen, für diese Buchempfehlungen und dass Du uns an Deiner Reise teilhaben lässt. So wie Du von den Autorinnen und ihren Büchern schreibst, habe ich sofort Lust bekommen, wenigstens drei von ihnen zu lesen. “Nachts ist es leise in Teheran” fand ich übrigens auch ein tolles Buch.

  2. Oh, liebe Karen, nun hast Du mich dankenswerterweise mit der Nase auf Emily Dickinson gestupst. Sie steht jetzt auf meinem Literatur-Merkzettel.

    Ich merke mir Shida Bazyar ebenfalls. Denn seit den 90er Jahren bin ich mit einer iranisch-stämmigen Familie befreundet. Nasser war unter dem Schah Fregattenkapitän. Er musste erst „Ablass“ zahlen, um vor einigen Jahren wieder in den Iran reisen zu dürfen.

  3. Sehr schön, liebe Karen! Beim Lesen deiner Beschreibungen höre ich deine Stimme! ?

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