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Teil 2: Mit Leonardo in Polen (Lebenslanges Lernen)

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»Ein Fragment der Welt war aus der Welt herausgenommen und in ein anderes Gebiet gebracht worden.«  (Andrzej Stasiuk)

Mit Leonardo da Vinci verbrachte ich 2013 zwei Monate in Polen [siehe Lebenslanges Lernen 1]. Zwei heiße Sommerwochen an der Ostsee und den Rest im Spätherbst am Rand der Karpaten. Das reinste Kontrastprogramm. Nach dem Sprachkurs im mondänen Seebad Sopot stellte ich keine großen Ansprüche an die Zeit in Gorlice. Ich wollte dort ein Praktikum machen, das war’s. Aber die Stadt mit ihren 28.000 Einwohnern hielt einiges an Überraschungen bereit.

Magdalena Miller, Direktorin der Stadtbibliothek Gorlice

Magdalena Miller, Direktorin der Stadtbibliothek Gorlice Foto: Marion Voigt

Die Bibliothek am Rand der Beskiden

Die Stadt- und Kreisbibliothek von Gorlice beschäftigt zweiundzwanzig Angestellte und verfügt über etwa 115.000 Bücher und Medien. Guter Geist des Hauses ist Pani Dyrektor Magdalena Miller. Sie hatte sich auf meine E-Mail-Anfrage hin sofort bereit erklärt, mich als Zaungast in ihr Reich aufzunehmen, und sämtliche bürokratischen Hürden im Vorfeld schnell genommen. Sie empfing mich am Busbahnhof, kutschierte mich zu meiner Unterkunft und zog sich dann unter Bedauern erkältet zurück.

Angekommen. Nach siebzehn Stunden mit dem Fernbus, fast von Haustür zu Haustür. Tausend Kilometer östlich von Nürnberg, auf demselben 49. Breitengrad. Während es draußen wüst herunterregnete, freute ich mich, dass das W-LAN im Zimmer funktionierte und ich gleich mein Schlafdefizit ausgleichen würde. Und auf den ersten Tag als Praktikantin, meinen neunundvierzigsten Geburtstag.

Wie verabredet holte mich nach dem Frühstück Magdas Sekretärin mit dem Auto ab. Wiola führte mich im Haus herum, stellte mich vor. Ich bezog einen Platz im Lesesaal, es konnte losgehen.

Eine meiner ersten Aufgaben war es, einen Stapel deutschsprachiger Bücher zu bearbeiten. Ich erfasste die bibliografischen Angaben und skizzierte den Inhalt. Auf Polnisch natürlich, dank Pons online kein Problem. Bei der Lektüre dieser Regionalia erfuhr ich nebenbei, auf welchem historischen Boden ich mich bewegte – in jenem Teil Polens, der schon bei der ersten Teilung 1772 an Österreich gefallen war: Galizien mit der Hauptstadt Lemberg, dem heute ukrainischen Lwiw. Ich befand mich am Gebirgssaum der (Niederen) Beskiden, einem wenig erschlossenen, weitläufigen Mittelgebirge in den Westkarpaten.

Nordwestlich von Gorlice, etwa 130 Kilometer entfernt, liegt Krakau; bis zur ukrainischen Grenze sind es westwärts ungefähr 160 Kilometer und in südlicher Richtung erreicht man nach nur 30 Kilometern über die niedrigen nahen Karpatenpässe die Slowakei und die Ungarische Tiefebene.

Die Lage im weiten Flusstal der Ropa brachte es mit sich, dass Gorlice an einer guten West-Ost-Verbindung südlich der alten Magistrale Prag–Krakau–Lemberg zu einem respektablen Handelsplatz wurde. Dass die Böden im Umland reich an Erdöl waren, war lange bekannt, als man Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung des Rohstoffs begann. Der Name Ignacy Łukasiewicz ist mit dem Anspruch verbunden, hier befinde sich die »Wiege der Erdölindustrie«, denn der Chemiker erfand 1854 in Gorlice die Petroleumlampe und baute ein Stück entfernt die »weltweit erste Förderanlage«. Etliche Denkmäler erinnern an den Pionier und südlich der Stadt stehen historische Pumpkrane auf den Feldern.

afel zum Gedenken an die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 Foto: Marion Voigt

Tafel zum Gedenken an die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 Foto: Marion Voigt

Geschichtete Gegenwart

Dreimal wurde Gorlice verwüstet: am 2. Mai 1657 während des Zweiten Nordischen Krieges, am 4. Oktober 1874 durch eine Feuersbrunst und wieder an einem 2. Mai zu Beginn der Schlacht bei Gorlice-Tarnów 1915. Dieses »Kleine Verdun« des Ersten Weltkriegs, bei dem über 300.000 Soldaten kämpften, hat ebenfalls seinen festen Platz im Gedächtnis der Stadt. Am Ortseingang erinnert eine Tafel daran, wie österreichisch-ungarische und preußische Truppen die russische Frontlinie durchbrachen. Hunderte Kriegsgräberstätten im Umkreis zeugen von der verlustreichen Schlacht.

Der Zweite Weltkrieg brachte die Besetzung durch die Deutschen, sie marschierten am 7. September 1939 ein und errichteten ein Zwangsarbeiterlager. Die meisten jüdischen Einwohner wurden Ende 1941 in ein Getto gesperrt – fast die Hälfte der Bevölkerung; bald darauf begannen Erschießungen und Deportationen, bei Kriegsende hatten von fast 4000 Gorlicer Juden 200 überlebt.

An die Zeit der Okkupation und die Naziverbrechen erinnern vielerorts in der Stadt schlichte Tafeln und Gedenksteine. Wie gehe ich als Deutsche damit um? Wie lebendig ist diese Vergangenheit für die Leute, denen ich im Alltag begegne? Diese Fragen schwingen für mich in Polen immer mit, wo es in beinahe jeder Familie Opfer der Nazis gegeben hat. Doch es wird sehr wohl differenziert zwischen den Deutschen und den »Hitlerowcy«. In der Öffentlichkeit ebenso wie in privaten Gesprächen.

Eine andere Art von Zeugnissen aus der Vergangenheit liefert die Holzarchitektur. Es gibt unzählige mehr oder weniger spektakuläre Bauten, von den typischen einfachen Holzhäusern bis zu der großartigen Kirche in Sękowa vom Anfang des 16. Jahrhunderts mit ihrem zeltartigen, weit heruntergezogenen Dach. Wie viele ähnliche Bauwerke in der Region geht sie auf die früher hier ansässigen Lemken und Bojken zurück – ostslawische Volksgruppen mit russisch-orthodoxem oder griechisch-katholischem Glauben. Sie wurden 1947 aus ihren angestammten Gebieten vertrieben und von der polnischen Regierung zwangsumgesiedelt, weil sie angeblich ukrainische Separatisten unterstützt hatten.

Leerstellen und Leuchttürme

Andrzej Stasiuk, der in einem Dorf südöstlich von Gorlice lebt, beschreibt in der Kurzgeschichte »Der Ort«, wie eine orthodoxe Kirche erbaut, dann dem Verfall überlassen und schließlich in ein Freilichtmuseum versetzt wird. Er erzählt, wie nach Öffnung der Grenzen die Nachfahren der Erbauer ihr altes hölzernes Gotteshaus besuchten, und macht die Leerstelle sichtbar, die sie hinterließen. Heute leben wieder Lemken in diesem Landstrich und pflegen ihre Kultur.

Wie hat es den Schriftsteller Stasiuk und seine Frau, beide in Warschau geboren, in die Beskiden verschlagen? Mitten ins Nirgendwo? Das ausgedehnte, spärlich besiedelte und landschaftlich reizvolle Karpatenvorland zog schon im sozialistischen Polen Aussteiger und Unangepasste an. Andrzej Stasiuk und Monika Sznajderman ließen sich in den 80er Jahren hier nieder. In dem 30-Seelen-Dorf Wołowiec gründeten sie 1996 den Verlag Czarne – inzwischen längst ein »Leuchtturm im Kulturleben Polens« (NZZ).

Stasiuks Bücher sind auch in Deutschland erfolgreich. Auf Polnisch veröffentlichte er 2013 Nie ma ekspresów przy żółtych drogach, einen Band mit Essays und Reisereportagen über Regionen an der Peripherie.

In der Gorlicer Buchhandlung Mieszko wurde das Buch vorgestellt. Ein Heimspiel. Als Pan Andrzej erschien, musste er sich einen Weg durch den vollbesetzten Raum bahnen. Der Buchhändler plauderte mit dem Autor, der leider nicht nur viel, sondern auch schnell redete, sodass ich nur einen Bruchteil verstand. Vor allem von seiner anscheinend süffisanten Antwort auf die Frage, wie sein Buch Dojczland bei uns aufgenommen werde. In dem 2008 auf Deutsch erschienenen Band schildert die Hauptfigur ihre (überwiegend negativen) Eindrücke während einer Lesereise durch Deutschland.

Grabmal der Amalia Mniszech in Dukla Foto: Marion Voigt

Grabmal der Amalia Mniszchowa (1736–1772) in Dukla    Foto: Marion Voigt

Schon 2000 erschien Stasiuks Die Welt hinter Dukla. Ich mochte dieses sinnliche Buch über das Licht und über Amalia, deren Rokokograb der Erzähler so oft besucht. Jetzt las ich es wieder und fuhr selbst nach Dukla – einer »neuen Hauptstadt der Literatur« (Thomas Steinfeld). In einer Seitenkapelle der frisch restaurierten Kirche räkelte sich Amalia auf ihrem Marmorsarkophag und ich konnte sehen, wie ihr beinahe der Pantoffel vom Fuß rutschte … In der Hand hielt sie ein Buch. Ich bin sicher, es stammte aus dem Verlag von Michael Gröll, der zu dieser Zeit von Warschau aus ein weitverzweigtes Unternehmen führte. Sein Gönner, Kronmarschall Jerzy August Mniszech, heiratete die in Dresden geborene Amalia, Tochter des sächsisch-polnischen Premierministers Heinrich von Brühl (und ließ das Grabmal bauen). Ihr widmete Gröll unter anderem 1769 Pierre Chomprés Historia bogów baieczna, ein beliebtes mythologisches Lexikon, übersetzt aus dem Französischen. Ein klarer Fall von Serendipität und ein wertvolles Fragment für mein Polenmosaik. Es kamen noch etliche dazu.

Teil 1: Lebenslanges Lernen im alten Europa
Teil 2: Mit Leonardo in Polen (Lebenslanges Lernen)…

Autor: Marion Voigt

Freie Lektorin, Texterin und Literaturagentin; Slawistin M. A. Aktuelles Lieblingsbuch: Büchernärrinnen, ebersbach & simon, 2015, www.folio-lektorat.de

4 Kommentare

  1. Hallo Marion, du schreibst viel über die Geschichte von Zgorzelec, aber wie gefällt es dir in Polen? Es ist mein Heimatland, dem ich aber oft kritisch gegenüberstehe. Herzliche Grüße Natalia Werdung

    • Hallo Natalia, Zgorzelec ist die Nachbarstadt des ostdeutschen Görlitz, die beiden Städte sind aber weit entfernt vom namensverwandten Gorlice. Wie es mir in Polen gefällt? Sehr gut! Was ich davon kenne, macht mich nur immer neugieriger. Liebe Grüße, Marion

      • Hallo Marion, auf die Schnelle habe ich die Orte verwechselt, peinlich. Bin gespannt auf weitere Eindrücke von Dir. Liebe Grüße Natalia

  2. Hallo Natalia,- hier kannst Du auch noch Marions letzten Teil ihrer Erlebnisse in Polen nachlesen:
    https://blog.buecherfrauen.de/teil-3-mit-leonardo-in-polen/

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