Die einen sagen Schweinehälften, die anderen „Content“: Literatur ist auf dem Weg von der Autorin zur Leserin in erster Linie eine Ware. Ihr Wert bemisst sich an Träumen, Trends und den Tricks der AgentInnen.
In Halle 6.2 / LitAg summt die Luft vor halblauten Gesprächen, wenn an 448 Tischen 631 AgentInnen aus 32 Ländern Texte und Lizenzen vermitteln. Im Halbstundentakt, 11.000 Besprechungen, 55.000 bis 500.000 Projekte. Am Tag. Das macht zwischen 20 Sekunden und vier Minuten. Pro Buch. Die Nächte an den Hotelbars, mit den exklusiv übergebenen Originalmanuskripten und 24-Stunden-Ultimaten sind noch spannender; aber das ist eine andere Geschichte. Diese hier lautet: Literatur ist wahre Kunst, bis sie verkauft werden will. Dann wird sie Ware Kunst.
Erstes Ziel: Von einer Agentur vertreten sein. 80 Prozent der Belletristik hierzulange wurde durch Agenturen vermitteln. Im Agentenzentrum, hinter Sichtschutzwänden, wird seit 36 Jahren über die Buchsaison des nächsten Jahres entschieden; es sei „der Maschinenraum der Frankfurter Buchmesse“, so Riky Stock, Direktorin des German Book Office in New York. Jede AgentIn hat dort natürlich eine Masche. Schmeicheln, fordern, pokern. Sie alle wissen, dass jede VerlegerIn am Harry-Potter-Syndrom leidet. Es ist der wilde Drang, unter den 82.000 Neuerscheinungen, davon 25.000 belletristische Titel, die Hälfte aus D, A oder CH, das eine Buch gemacht zu haben. Das, was den Markt auf Jahre verändert. Eine zweite, tollere Suzanne Collins, eine moderne Isabel Allende, den nächsten Bestseller-Garanten Grisham zwischen all den Titeln zu finden, davon träumen Gutenbergs Erben, wenn sie das Portemonnaie öffnen. Von einem großen, alten Verleger hieß es, er nannte seine erfolgreichsten AutorInnen „Pferdchen“. Es gab Dauerläufer, es gab Saison-Sprinter, und es gab die Ex-Champions, die auf der Weide der „Veröffentlichung im C-Programm ohne weitere Werbemaßnahme“ geparkt wurden.
Hengste shoppen!
Als fleißigste VerkäuferInnen gelten – noch! – die Briten und Amerikaner, als gute EinkäuferInnen die Deutschen; Italien komplex, da jeder zweite Italiener nicht läse, Skandinavien im Kommen, Frankreich inhaltlich anspruchsvoll. „Wir gehen shoppen“ nennen es deutschsprachige ProgrammleiterInnen, wenn sie ins LitAg-Center der Buchmesse eilen, um sich Stoffe am laufenden Buchstaben-Meter anzuschauen. Der Zutritt wird nur AgentInnen, Scouts, sowie deren GeschäftspartnerInnen gewährt; AutorInnen nur mit persönlicher Einladung. Vermutlich, um ihnen den 20-Sekunden-pro-Buch-Schweinehälftenschock zu ersparen. In jedem Oktober sieht man Menschen in der Cafeteria der LitAg, die aus Rollkoffern Papierstapel ziehen, die niemand sehen will.
Aber wie bemisst sich der Wert des Treibstoffs, der den Tanker Buchmarkt antreibt? Der ist in Deutschland immerhin 4,2 Milliarden Euro schwer, die die LeserInnen für ihren Stoff ausgeben. Ganz einfach: „Wie viele zahlende (!, nicht illegal kopierende) Lesende findet dieses Werk? Vielleicht, bestimmt, wahrscheinlich?“ Nach dem „bestimmt“ bis „wahrscheinlich“ richten sich Vorschüsse und Lizenzwerte, Platzierung im Katalog, Redezeit der VertreterInnen und natürlich auch die Messepräsenz: Die HoffnungsträgerInnen werden eingeladen, alle anderen … nun ja. ,Vielleicht nächstes Jahr, Schatz.’ Um die Frage nach dem “wie viel” zu beantworten, gilt es verdammt gut zu schätzen: In welchen Teilmarkt passt das Werk, ist es eher für Leute, die nur Bücher lesen, die dem RTL-Programm ähneln, oder für erfahrene LeserInnen? Wer steht in dem Genre in Konkurrenz, ist das was für den starken Herbst- oder den durchlässigeren Frühjahrsmarkt? Lässt sich das Manuskript stärker in Richtung Love & Landscape, Crimecomedy oder New Adult anspitzen, formattreuer für die Genre-Fans? Oder ist das gar ein lektoratsresistenter Autor, eine Schriftstellerin, deren Worte in Stein, d. h. Sturheit und Stolz, gemeißelt sind?
Geld oder Ehre-Kalkulationen: Wenn es die Leserin nicht interessiert, dann wenigstens das Föjtong?
Und wenn das Werk schlimmstenfalls nur 2000 Leutchen interessiert: könnten wir wenigstens einen Literatur-Preis gewinnen, einen Stern-Titel reißen? Ist das Thema so stark und moralisch/politisch/geschmäcklerisch unantastbar („Lyrik Gegen Rechts“), um das Verlags-Image zu polieren? Oder, wenn alles nix hilft, und wir wenig verkaufen, keinen Preis bekommen und die BuchhändlerInnen gähnend abwinken, weil sie ihre Kundinnen und ihre Lesegelüste seit der Konfirmation persönlich kennen – können wir wenigstens das deutsche, selbstverliebte Print-Föjtong entzücken, das sich traditionell vom Millionenbeststellern, pfui-Teufel-emotionalen Werken und von „Frauenthemen“ (Liebe und so, sofern von weiblicher Hand verfasst) abwendet, weil das alles irgendwie … tja. Wer weiß. Riecht?
Buchmenschen haben sich angesichts der typisch deutschen E- oder U-Arroganz, achselzuckend arrangiert, mit dem Duo Bestsellerliste (von Millionen LeserInnen gemacht) und Bestenliste (von einer Handvoll KritikerInnen gemacht). Stets finanzieren die ersten, diese von finnischen Zahnärzten verfassten Krimis und Wanderhuren-Klone, die zweiten, die trostlosen Wenderomane, kreuzöd und mit Bandwurm-Thomas-Mann-Sätzen. Und, ja, das ist eine Aufzählung gegenseitiger Vorurteile.
Die gute Nachricht: VerlegerInnen und AgentInnen sind nachts auch nur Menschen
Natürlich ist das Buch in Frankfurt, und erst Recht zurzeit in Leipzig, mehr als eine Ware: VerlegerInnen, LektorInnen, sogar AgentInnen, diese Contentkuppler, sind in Wahrheit hart-zarte Zwitterwesen. Sie pokern vornerum um Schweinehälften aus Papier, drücken Vorschüsse, schielen auf große Galopper – und hintenrum sind sie Lesende, Verführbare, Literaturhörige, in deren Adern Druckerschwärze pumpt. Sie verlieben sich, trotz Kalkulation, trotz: „Wie viel Lesende bekommen wir damit bestimmt nicht“ in eine verrückte, in eine massensperrige Idee, oder in das charmante Riesenego eines Ich-habe-eine-Botschaft!-Autoren mit Schachtelsatz-Fimmel und sturem Stolz. Oder in Lyrik. Oder in die Illusion, dass die Welt dringend einen Roman über die Vermessung von Gebirgen oder einen verliebten Asperger braucht. Manchmal klappt’s. Meist nicht.
Bestseller sind nicht machbar; wer das glaubt, vergisst die große Macht der Leserin, die sich an der Kasse nie nach Marketing-Tamtam oder Föjtong richtet – sondern nach ihrer ganz und gar unberechenbaren Leselust. In ihrer Hand, dann endlich, verlässt das Buch seinen Weg als Handels-Ware, da wird das Pferdchen wieder zur Autorin, der Content zu Seele, zum Handwerk plus Geheimnis. Im Geist des Lesenden, verändert das Buch seine Konsistenz der Kalkulation; es wird zu Bildern, Worten, Widersprüchen, Erinnerungen, Menschsein, Mut! – das Buch wird zu einem Wert jenseits von Geld, es wird, romantisch gesagt, gerettet aus dem Maschinenraumsystem. Es wird das, als was es einst den Kopf der Autorin verließ: wahre Kunst.