Wie gestaltet sich die berufliche Praxis von gut qualifizierten Frauen in einer Zeit, die Chancengleichheit sowohl behauptet als auch fordert, in der Genderforschung gefördert und verhöhnt wird und in der „angry young women“ den einen Vorbild sind und die anderen nerven? Vivien Gröning und Kirsten Sass sammelten für ihr Buch „Wege nach dem Abi. Woman@Work. Wie FRAU heute Karriere macht“ Erfahrungen von 22 Frauen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern.
Die Auswahl der Interviewpartnerinnen schloss Mütter und kinderlose Frauen, berufserfahrene und jüngst eingestiegene Frauen, Selbstständige, Beamtinnen und Angestellte ein. So ergibt sich ein reichhaltiges Bild beruflicher Praxis einschließlich des Blicks auf Veränderungen in den vergangenen 40 Jahren. Das ist hilfreich, weil vielen Frauen zwar die grundsätzliche Möglichkeit der Werdegänge bekannt oder zumindest leicht über berufenet.de aufzurufen ist, aber zugleich „role models“ und Beispiele für die praktische Umsetzung beruflicher Absichten fehlen.
Sechs Perspektiven werden in jedem der Porträts berücksichtigt:
- Beschreibung des Berufs (Formalia, Ausbildung, Praxisbeispiele)
- Rückschau (Elternhaus, Schule, Berufswunsch, Studium, Berufseinstieg)
- Einstellung zum Beruf
- Erfahrung als Frau im Berufsalltag
- Ziele
- Ratschläge
Auf diese Weise tritt jede Proträtierte zunächst als Botschafterin ihres Arbeitsfeldes, als Beispiel für einen Werdegang und als Mentorin auf.
Sehr hilfreich fand ich die individuellen Erfahrungen und Ratschläge zum Umgang mit der Rolle als Frau und als Mutter. Die Porträtierten zogen sehr reflektiert Grenzen zwischen der Gleichheit oder Diskriminierung im Alltag und der politischen Steuerung von Zugängen, Wertschätzung und Aufstiegsmöglichkeiten. Sie zeigen, dass trotz der Erfahrung, das Geschlecht spiele keine (große) Rolle, auf vielerlei Art das Geschlecht eben doch zum Argument in Konflikten oder Auswahlverfahren wird. Ursula Hellert, Gesamtleiterin des CJD Braunschweig und Salzgitter, bringt es auf den Punkt: Es gibt keine Geschlechtsneutralität. Die Präsenz von Frauen in der Arbeitswelt und insbesondere in Führungspositionen wirken sich nicht unmittelbar auf innere Rollenbilder aus (S. 159f). Bemerkenswert war auch die Perspektive zwei Jahre nach Erscheinen des Buchs, wie schnell sich Begriffe und Gedanken verändern; dominiert bei der Frage nach Familie und Beruf noch der Begriff „Vereinbarkeit“ (was allzu oft in der Praxis bedeutet, im Job nicht erkennbar zu machen, dass auch Familie da ist), äußert allein die in New York tätige Choreografin und Tänzerin Svea Schneider den Wunsch nach einer „Integration“ des Kindes in ihr Leben (S. 192).
So handelt es sich weniger um ein Inspirationsbuch, wie angekündigt, sondern mehr um einen wertvollen Erfahrungspool, der Entscheidungen eben nicht nur auf formalen Ausbildungs- und Karrierestufen gründen lässt, sondern stets auch die individuelle Lebenssituation, Werte und das Selbstbild umfasst. Erläuternde Marginalien, die Links zu weiterführender Information im berufenet der Arbeitsagentur sowie die farbenfrohe Gestaltung, die social-media-affin wirkt und die klassische Textwüste aufbricht, betonen die Leserorientierung dieses Bandes.
In zwei Richtungen dachte ich während der Lektüre weiter:
Die Vielfalt der vorgestellten Werdegänge ist bereichernd, und doch hätte ich mir zur Kontrastierung der Universitätsabsolventinnen z. B. eine Handwerksmeisterin oder einen atypischen Werdegang gewünscht, vielleicht auch eine Studienabbrecherin, die dann über eine Ausbildung, Auslandszeit etc. den Weg in berufliche Zufriedenheit gefunden hat. Auch ein komplett neuer Beruf – unter dem sich vielleicht die Eltern der Abiturientinnen gar nichts vorstellen können bzw. den es bei Studienbeginn noch gar nicht gab, wie die Social-Media-Managerin, würde den Band bereichern.
Und diese vielen Powerfrauen mit Lebensläufen, die seit Kindheit und früher Jugend beharrlich gewünscht und konsequent umgesetzt wurden, die allesamt ihr Studium abgeschlossen, Karriere gemacht haben (oder gerade dabei sind), geben mir mitunter das Gefühl, defizitär zu sein. Es gab Phasen der beruflichen Sackgasse, des Scheiterns, der Neuorientierung, der angefangenen und wieder abgebrochenen Studien und Projekte, des Ineinanderwirkens von privaten und beruflichen Krisen und neuer Ziele. Ich denke, es wird für eine Berufs- und Karriereberatung in einem offenen, dynamischen Arbeitsmarkt zentral sein, Kompetenzen für den Umgang mit dem Unbekannten auszubilden.
In summa ein ansprechend gestalteter, bereichernder Band, der den nicht geringen Anspruch erhebt, sich selbst groß zu denken.
Das Buch: Vivien Gröning/Kirsten Sass: Wege nach dem Abi. Woman@Work. Wie FRAU heute Karriere macht. 22 Interviews mit erfolgreichen Frauen, Renningen: expert-Verlag 2014, ISBN 9783816932376, 202 Seiten, 33 Abbildungen, 19,80 EUR.